Bevor in Filmen ein alter Mensch stirbt, kommt oft die ganze Familie zusammen. Die Enkel müssen draußen bleiben, die Erwachsenen klären mit dem oder der Sterbenden noch Differenzen aus der Vergangenheit. Manchmal beten sie zusammen ein Vaterunser oder den Rosenkranz. Ob diese Filmszenen der Realität entsprechen und welche Rolle Spiritualität in der Hospizarbeit spielt, darüber spricht Dr. Margit Gratz, Theologin und Kursleiterin für Palliative und Spiritual Care, im Interview.
Frau Gratz, viele Menschen wünschen sich beim Sterben einen Abschied zu Hause im trauten Familien- und Freundeskreis. Wie sieht die Wirklichkeit aus?
Die meisten Menschen sterben nicht zu Hause. Etwa die Hälfte aller, die jährlich in Deutschland sterben, verbringt die letzten Lebenstage in einem Krankenhaus. Nennenswert viele, etwa ein Drittel, stirbt in einem Alten- und Pflegeheim. Der Rest verteilt sich auf zu Hause, im Hospiz und andere Orte. Und natürlich gibt es noch den Anteil derer, die plötzlich sterben.
Ist es denn - unabhängig vom Sterbeort - sinnvoll, Kinder und Jugendliche vor dem Anblick sterbender und toter Familienmitglieder zu schützen?
Wir wissen heute, dass das kontraproduktiv ist. Dieser falsch verstandene Schutz drückt mehr die Ängste der Erwachsenen als die der Kinder und Jugendlichen aus. Sie können die Wahrheit und die Begegnung rund um Sterben und Tod gut aushalten, ja, brauchen sie sogar, um den Verstorbenen gut zu verabschieden und ohne ihn gut weiterleben zu können. Grundsätzlich: Wer den Tod ausklammert, klammert das Leben aus.
Wie können ambulante Dienste und stationäre Hospize diese Angehörigen, aber auch die Sterbenden selbst unterstützen?
Ehrenamtlich und beruflich Mitarbeitende in Hospiz- und Palliativeinrichtungen sind auf den total-care-Ansatz der Begründerin der Hospizbewegung, Cicely Saunders, geschult. Das heißt:
Sie haben physische, psychische, soziale und spirituelle Bedürfnisse und Nöte gleichermaßen im Blick. Dies gilt für das gesamte Familien- und Sozialsystem. Hospiz unterstützt das Leben.
Was bedeutet das dann konkret?
Ambulante Hospizdienste ergänzen die wichtigen Dienste der Pflegenden, Ärzte, Seelsorger und Therapeuten aller Fachrichtungen und sonstigen Dienstleister. Qualifizierte Ehrenamtliche bringen Zeit mit, die den verschiedenen Berufen in diesem Umfang so nicht möglich ist. Es ist sinnvoll, diese Dienste bereits früher im Krankheitsverlauf einzubeziehen, weil sie den Betroffenen helfen, frühzeitig die für sie persönlich wichtigen Themen zu identifizieren, Ängste abzubauen, Wege und Möglichkeiten auszuloten – lange, bevor „es zu Ende geht“.
Und wie sieht das in stationären Hospizen aus?
Es gibt viele Patienten, die andernorts nicht versorgt werden können, weil es für einen Krankenhausaufenthalt keine Indikation gibt, ein Alten- und Pflegeheim nicht der passende Ort für sie ist oder zu Hause die Versorgung rund um die Uhr nicht leistbar ist. Für diese Menschen sind stationäre Hospize eine gute Lösung. Aber es gibt nicht gute und schlechte Orte zum Sterben. Ich kenne wunderbare Beispiele, wo sich Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zum Thema Hospizkultur und Palliativkompetenz auf den Weg gemacht und viel erreicht haben. Auch verankern Einrichtungen zunehmend Spiritual Care, um für diese existenziellen Themen Räume zu schaffen, die Unternehmenskultur entsprechend auszurichten und das Personal zu qualifizieren.
Zurück zum Filmbeispiel. Rosenkranz und Vaterunser sind vermutlich für immer weniger Menschen vertraute Gebetsformen. Welche spirituellen Bedürfnisse haben die Sterbenden, mit denen Sie in Kontakt waren und sind?
In der Tat nehmen die konfessionelle Bindung und die Vertrautheit mit religiösen Riten und Angeboten ab. Das bedeutet nicht, dass die Menschen nicht spirituell oder religiös sind. Sie haben ihre je individuellen Fragen und Bedürfnisse, vor allem in existenziellen Lebenssituationen.
Es ist eine Aufgabe der Zeit, die Menschen individuell und in ihrer jeweiligen Lebenswirklichkeit abzuholen, sich all ihren Themen zu widmen rund um Sinnfragen, Wertvorstellungen, Vergebung und Versöhnung, Leid und Verzweiflung, Trauer und Verlust und vieles andere, was den Menschen „heilig“ ist, was ihnen Halt und Orientierung gibt.
Wie können Seelsorgende und ehrenamtliche Begleiter:innen auf diese Bedürfnisse eingehen?
Seelsorgende und Ehrenamtliche widmen sich absichtslos den lösbaren und unlösbaren Fragen der Menschen und begleiten sie auf ihrem Weg. Es gilt dabei nicht, Antworten zu geben, sondern dabei zu unterstützen, den Weg der Betroffenen zu ihren eigenen Antworten und Ressourcen zugänglich zu machen. Qualifizierte Seelsorge ist neben der spirituellen Begleitung durch Ehrenamtliche äußerst wichtig, da sie über Möglichkeiten und Qualitäten verfügt, die berufsspezifisch und nicht ersetzbar sind.
Was benötigen Hospizbegleiter:innen für ihre wertvolle Aufgabe?
Qualifizierte ehrenamtliche Hospizbegleiter:innen benötigen – wie übrigens Hauptberufliche in diesem Feld auch – Begleitung. Es gilt, zum einen die fachliche Seite stets weiter zu entwickeln, praktische Handreichungen zu bekommen und gleichzeitig mittels Supervision die eigenen Erfahrungen in der Begleitung zu reflektieren. Diese schließt alle Themen ein, die sich um die Frage drehen, was das Erlebte bei mir auslöst, wo es vielleicht persönliche Anknüpfungspunkte gibt und was es braucht, um das Eigene bei sich zu belassen und nicht in die Begegnung hineinzutragen, also mit der Aufmerksamkeit voll und ganz bei der begleiteten Person zu bleiben. Hierfür ist die beauftragende Institution, der ambulante Hospizdienst, verantwortlich.
In einer Gesellschaft, in der der Tod tabu ist, fällt es sicher nicht leicht, sich immer wieder diesem Thema auszusetzen...
Wenngleich das Sterben und der Tod nahe gehen, so lernen Ehren- und Hauptamtliche nicht nur viel für sich und ihr eigenes Leben. Sie lernen , gut damit umzugehen - und wie Abschied auch des Personals gelingen kann. Auch von mir selbst kann ich sagen: Es ist eine positive Erfahrung zu erleben, was man für Sterbende und ihre soziales Umfeld alles tun kann, wenn man angeblich „nichts mehr tun kann“, und wie es das eigene Leben bereichert.