Bischof Dr. Gebhard Fürst: Einsatz für den "imperfekten Menschen" 2002

SWR 2, Wort zum Sonntag

Einsatz für den "imperfekten Menschen"

Im letzten Jahr war in Dresden eine Ausstellung über Behinderte zu sehen mit dem Titel: ‚Der (im)perfekte Mensch‘, wobei die Vorsilbe "im" eingeklammert war. Der imperfekte Mensch, ein Titel, der zugleich auch ein doppeldeutiges Wortspiel ist.

Imperfekt: auf der einen Seite geht es um die Vergangenheit des Menschen. Der Mensch ist durch Geschichte und Tradition charakterisiert, er trägt die Spuren der Zeit, seiner Vorfahren an sich, niemand beginnt sein Leben von einem absoluten Nullpunkt, das Erbe ist einem stets mit- und auch aufgegeben.

Imperfekt: Da geht es andererseits aber auch darum, den Menschen im Sinne von ‚unperfekt‘ als Mängelwesen zu kennzeichnen. Der Titel deutet so den uralten Traum des Menschen an, der uns in zahlreichen Science-Fiction-Filmen erzählt wurde und der durch die Forschung in der Gentechnik nun real erscheint. Der Biotechnologie-Boom und die Machbarkeitsfantasien, die er auslöst, erhöhen den gewaltigen gesellschaftlichen Druck, normal oder noch besser, perfekt zu sein. Menschen träumen davon, Makel und Häßliches, Krankheiten oder Behinderungen abzuschütteln. Der Doppelsinn des ‚imperfekten Menschen‘ erhält hier eine dramatische Zuspitzung: Die heute greifbar erscheinende Utopie des "perfekten Menschen" zielt zugleich auf die Überwindung des "alten Menschen".

Diesen ‚alten Menschen‘ hatte der Philosoph Arnold Gehlen als Wesen charakterisiert, das "im Gegensatz zu allen höheren Säugetieren hauptsächlich durch Mängel bestimmt" ist. Unser Alltagsleben dagegen mit seinen vielfältigen Eindrücken sieht anders aus: Die Stars aus Film, Fernsehen und den Boulevardblättern formen Menschheitsträume - und unsere neuen Bilder vom Menschen. Durch die Ideale unserer Zeit wie Schönheit und Gesundheit, Leistungs- und Genussfähigkeit, Autonomie und Rationalität geraten Menschen unter einen regelrechten Perfektionsdruck. Kategorien, die unsere Vorstellung vom vollkommenen Leben prägen, bilden zugleich den Maßstab für die Verwirklichung des Menschen. Ungeheure Heilsversprechen aus Forschung und Medizin setzen den einzelnen Menschen unter einen wahrhaft enormen, unmenschlichen, ja mörderischen Druck.

In einer Gesellschaft, die Leistung und Erfolg anbetet, die Gewinner bewundert und Verlierer verachtet und ausgrenzt, bietet der christliche Glaube eine heilsame, geradezu befreiende Alternative. Jesus von Nazareth hat beispielhaft vorgelebt, wie das geht, nicht dem perfekten Leben zu huldigen, Ja zu sagen zum imperfekten, zum unvollkommenen Leben und gerade dem Mangelwesen Mensch seine liebende Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dieser Weg macht unser Zusammenleben menschlich, das Miteinander barmherzig und das eigene Leben liebenswert.

Heinrich Böll schrieb schon vor Jahren Sätze, die heute geradezu prophetisch klingen: "Selbst die allerschlechteste christliche Welt ziehe ich der perfektesten gottlosen Welt vor, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine gottlose Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache. Und mehr noch als Raum gibt es für sie: Liebe, für die, die der gottlosen Welt nutzlos erscheinen.‘

Der Titel der Ausstellung erinnert uns an die Botschaft, wie sie Christen in der Nachfolge Jesu von Nazareth mitten in der Welt vertreten: Alles geht darum, einzutreten für den imperfekten Menschen, Raum zu schaffen für die, die irgendwelchen Normen gerade nicht genügen, aufmerksame Liebe und einen Blick der Sympathie für die Menschen an den Rändern. Setzen wir uns für eine Welt ein, in der der Mensch als Mängelwesen seine Heimat hat. Statt den Menschen immer weiter zu perfektionieren und neu erfinden zu wollen, treten wir ein für den Menschen mit all seinem Imperfekt: Mit der ganzen Geschichte, dem Erbe und den Lasten, die er mitbringt, aber auch mit individuellen Varianten, mit Ecken und Kanten. Statt Perfektionierung Imperfektes anerkennen, denn die Normierung auf makellose Schönheit und vorgegebene Maße nehmen uns bald die Luft zum Leben.

Den Menschen mit Mängeln und Macken, Schwächen und Grenzen zuzulassen, läßt uns eine Kultur der Liebe entwickeln. Der imperfekte Mensch kann in solcher Welt aufatmen.

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