Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt bei der Tagung "Alte und Kirche" 2002

Stuttgart-Hohenheim, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Menschen werden älter als früher. Demnächst werden die über Sechzigjährigen ein Drittel in unserer Gesellschaft und damit auch in unseren Pfarrgemeinden stellen. Entsprechend der Altersstruktur der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland sind von 27,2 Millionen Katholiken fast 6 Millionen 60 Jahre, davon 3 Millionen über 70 Jahre, annähernd 1 Million über 80 Jahre und mehr als 100.000 über 90 Jahre alt.

Diese Entwicklung wird verstärkt durch den Geburtenrückgang in den Familien der nachwachsenden Generationen. Damit werden nicht nur die Fragen des Alters und des Alterns als eine mehrere Jahrzehnte umspannende Lebensphase immer bedeutsamer. Die immer größer werdende Zahl von älteren und alten Menschen stellt auch die Kirche vor neue Aufgaben.

Die Bedeutung dieser Menschen in und für die Kirche ist nicht von der Hand zu weisen und wird immer brisanter. Das Thema meines heutigen Referates ist also alles andere als zufällig und kein theoretisches Randthema. Nein, Altwerden und Alter sind für die Kirche eine zentrale Frage, was nicht zuletzt durch soziologische und statistische Entwicklungen auf unsere Tagesordnungen kommt. Aber mehr noch: Die Gleichung, dass die Alten sowieso in die Kirche gehen und zu ihr gehören, sie geht nicht auf. Denn es ist doch wohl nicht so, dass die Menschen in unse-rer Gesellschaft immer älter und die Kirchen im gleichen Masse voller werden.

Der Satz, dass die Kirche sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen muß, weil die Menschen im Alter, wenn es denn auf Sterben und Tod zugeht, schon zu Kreuze kriechen, fromm werden und in die Kirche kommen, er gilt so einfach nicht. Die Frage nach der Bedeutung der älteren Menschen für die Kirche wird somit komplexer, sie richtet sich als Anfrage an Gestalt und Praxis der Kirche selbst.

Betrachtet man die jetzigen älteren Generationen, so ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Sie sind körperlich gesünder, ökonomisch unabhängiger, mobiler, aber auch anspruchsvoller und zunehmend kirchendistanzierter. Das Alter wird individuell und situativ erfahren als Rentenalter, biografisches Alter, Zugehörigkeit zu einer Großel-terngeneration oder als kalendarisches Ereignis.

Die Bandbreite dieser Erfahrungen ist damit naturgemäß groß. Innerhalb dieser Altengenerationen – 40 Jahrgänge und mehr – zeichnen sich unterschiedliche Lebensstile ab. Ältere und alte Menschen stellen auf-grund ihrer Biographie, ihrer Lebenssituation und ihres Lebensgefühls eine komplexe und hochdifferenzierte Gruppe dar. Vielfältige und vielfarbige Alternsmilieus bilden sich heraus. Gesündere und Jüngere versuchen sich von Kranken und Hochbetagten abzugrenzen, Aktive distanzieren sich von Hilfs- und Pflegebedürftigen. Andererseits ist es naheliegend, dass sich die positive Grundstimmung der aktiven älteren Frauen und Männer nicht ohne weiteres auf pflegebedürftige ältere Menschen übertragen lässt. Die wichtigsten Bedürfnisse dieser häufig 80-bis über 100-Jährigen sind anderer Art. Wer hilfs- und pflegebedürftig ist, bedarf vor allem einer guten pflegerischen, medizinischen Versorgung und menschlichen Zuwendung.

Für die Generationen in der Dritten Lebensphase stellt sich die Frage nach ihrer Rolle in Kirche und Gesellschaft. Das Älterwerden als eigene Lebenszeit macht deutlich: Die Dritte Lebensphase weitet sich aus biologischer Sicht immer mehr aus und soziologisch betrachtet differenziert sie sich zugleich. Der Beginn dieser Lebenszeit wird nicht mehr nach dem Lebensalter an sich, dem chronologischen Alter bestimmt. Vielmehr ist Altern auch die Folge eines Prozesses von Veränderungen der eigenen Rolle in der sozialen Mit- und Umwelt.

Die Lebensgeschichte und Glaubensgeschichte älterer Frauen und Männer gewinnt für das pastorale Handeln der Kirche an Bedeutung. Aus pastoral-theologischer Sicht gilt es, Alter und Altern nicht einfach als eine Verlängerung des Lebens oder als ein Warten auf den Tod zu verstehen. Vielmehr soll deutlich werden, dass dem Menschen diese Phase des Lebensweges als Aufgabe anvertraut ist. Deren Würde und Verantwortung ist herauszustellen. Sie liegen darin, dass Gott selbst den Weg jedes einzelnen mitgeht. Der pastorale Auftrag der Kirche gründet darin, den Menschen in allen Lebensphasen zu begleiten, ihm immer wieder die Menschenfreundlichkeit Gottes nahe zu bringen, ihm zu zeigen, dass in jedem Lebensalter seine Lebenswelt für diese Treue Gottes offen und transparent ist.

Eine Pastoral in der Dritten Lebensphase ist deshalb vor allem lebensgeschichtliche Begleitung aus dem gemeinsamen Glauben – in Verkündigung, Sakramentenpastoral und Diakonie. Ich möchte meinem Vortrag, der also durch seine doppelte Fragerichtung in zwei große Abschnitte zerfällt, noch eine kleine Vorbemerkung vorausschicken, in der ich nach der Bedeutung des Alters für die Alten frage: Was heißt es, alt zu werden? Was sind entscheidende Veränderungen, Qualifikationen, Dimensionen, die das Alter zu einer eigenen Lebensstufe machen?

1. Was heißen Altwerden und Alter?

Als Immanuel Kant seinen 50. Geburtstag feierte, ehrte ihn die Universität in Königsberg mit einer Festveranstaltung, bei der er als ehrwürdiger Greis herausgestellt wurde. Dies wäre heute undenkbar, selbst ein 70-jähriger wird sich im Regelfall empört dage-gen verwahren, als Greis eingeordnet zu werden. Ich möchte damit nicht nur beispielhaft betonen, dass sich die Kategorien und Maßstäbe für das, was wir Alter nennen, verändern und verschieben.

Nein, mir geht es vor allem um die sachliche Feststellung, dass durch medizinische Fortschritte und gesellschaftliche Veränderungen die meisten Menschen heute mit 60 Jahren noch nahezu ein Viertel ihres Lebens noch vor sich haben. Nach Kindheit/Jugend sowie Erwerbs- und Familienphase folgt mittlerweile eine eigenständige Dritte Lebensphase mit spezifischen Herausforderungen und Problemen, aber auch Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten. Älterwerden als mehrdimensionaler Prozess ist heute nicht mehr Restzeit nach Jugend- und Erwachsenenjahren, sondern eine eigene, bedeutsame, oft jahrzehntelange Lebensphase, die den bisherigen Lebenszielen und Lebenserfahrungen neue Möglichkeiten hinzufügt.

Die Probleme sind dabei aber noch komplexer: Im Arbeitsleben gilt bereits ein Arbeit-nehmer mit 45 Jahren als ‚älter‘, seine Chancen auf eine neue Stelle sind äußerst ge-ring, Redensarten wie ‚Man ist immer nur so alt wie man sich fühlt‘, haben in einer mobilen, hochdifferenzierten, schnelllebigen Arbeitswelt kaum und selten Auswirkungen bei der Stellenverteilung. Die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen nimmt laufend ab. Es ist mir hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass damit nicht nur die Beschäftigungschancen der Älteren sinken, der Prozeß der sogenannten ‚Entberuflichung des Alters‘ stetig zunimmt, sondern auch Lern- und Weitergabewege zwischen jüngeren und älteren Arbeitnehmern abgeschnitten werden, das generationenübergreifende Gespräch über Erfahrungen zunehmend unmöglich wird.

Wie aber soll man ernsthaft ler-nen, wenn man nicht an Erfahrungen anschließt und auf sie aufbauen kann, die vor einem liegen? Der Maler Friedensreich Hundertwasser drückt dies zugespitzt so aus: ‚Wer die Vergangenheit nicht ehrt, verliert die Zukunft, wer seine Wurzeln vernichtet, kann nicht wachsen.‘

Ein weiterer wichtiger Punkt: Mit höherem Lebensalter nimmt auch der Anteil der Alleinstehenden zu. Ein deutlicher Trend bei den älteren Generationen ist die zunehmende Singularisierung im Sinne des Alleinlebens – Ledige, Verwitwete und Geschiedene –, dazu kommt noch, dass unsere Alternsgesellschaft eine Zwei-Drittel-Frauengesellschaft ist. Dies alles sind wichtige Befunde, den wir bei unseren Überle-gungen unbedingt im Blick behalten müssen. Mir ist hier aber zunächst noch eine letzte Beobachtung wichtig: Aufgrund der erhöhten Lebenserwartung bekommen Sterben und Tod eine andere Bedeutung. Sie spielen im aktiven Leben keine so bedeutsame Rolle mehr.

Deshalb fällt es heute auch vielen Menschen schwer, sich mit der Endlichkeit ihres Lebens zu befassen und im Sterben und Tod einen Sinn zu sehen. In einer Gesellschaft und Welt, die keine Hoffnung auf ein Jenseits mehr kennt, die aber Sinnerfüllung im Diesseits nur den wenigsten Menschen verschaffen kann, muss der Tod als unerträgliches Versagen, als endgültige Niederlage erscheinen. Der Theologe Romano Guardini hat bereits vor vielen Jahren das berechtigte Wort von der Notwendigkeit, das menschliche Leben als ein Leben der Grenze auf sich zu nehmen und durchzutragen, geprägt. Es erinnert daran, gerade auch im Zusammenhang unseres Themas daran, dass die Existenz des Men-schen auf Erden immer eine fragmentarische, eine bruchstückhafte sein wird und eine letzte Vollendung auf Dauer ihm hier versagt ist.

Sterben und Tod stellen sich somit als die letzten großen Lebensaufgaben des Menschen, auf die es sich vorzubereiten gilt, nicht erst, wenn es zu Ende geht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Alter und Altern als Leben, das seinen Wert behält, herauszuarbeiten. So gesehen ist Sterben nicht nur ein Auflösen und Zunichtewerden, sondern ein Prozess des Reifens. Es trägt seinen Sinn in sich selbst – das Leben wird im Tod vollendet. Es gilt zu lernen, bewusst Abschied zu nehmen, Trauer zuzulassen und eine Kultur der Akzeptanz im Umgang mit Sterben und Tod zu erarbeiten. Dabei gibt es kein Leitbild für ein würdevolles Sterben.

Jeder Mensch stirbt zwar seinen eigenen Tod. Doch zeigen sich im Verlauf des Sterbens gewisse Elemente, die offensichtlich bei vielen Menschen sehr ähnlich sind. Dazu gehören existentielle Betroffenheit, Verhandeln mit dem eigenen Schicksal, Erkenntnis und Einsicht in die Lebensdeutung des eigenen Todes, Bejahen der Verbindlichkeit und Abschied nehmen. Beim Annehmen der Endlichkeit des eigenen Lebens und der Endgültigkeit des Todes können Verhaltensnormen und Werte in Kirche und Gesellschaft Hilfestellung bieten.

Ältere und alte Menschen haben im Laufe ihres Lebens bereits oft erlebt, dass ein be-währter Lebenssinn, dass eine religiöse Grundhaltung, dass ein mutiger, christlicher Glaube eine konkrete Hilfe für die Bewältigung ihres Lebens ist, ja neue Lebensdimensionen erschließen hilft. Fragen der persönlichen Beziehung zu Gott bedrängen manche Menschen intensiv, während sie für andere irrelevant sind. Bei der Suche nach Gott geht es heute nicht so sehr um Antworten auf die Frage: „Wer ist Gott?“, sondern vor allem um das Problem „Wo bleibt Gott angesichts eigener Probleme, angesichts von Schmerz und Leid, angesichts der Leidensgeschichten unzähliger Menschen in unserer Welt, angesichts der zahllosen namenlosen Opfer von Gewalt, Terror und Kriegen?“ Für viele gehört die Neugewinnung oder Stabilisierung ihres Gottesbildes zu den wichtigsten Herausforderungen ihres Glaubens gerade in dieser dritten Lebens-phase.

So kann vielleicht gesagt werden, dass Christen nicht leichter sterben als andere, dass sie aber Kraft aus ihrem Glauben schöpfen und so ein Zeugnis ihrer Hoffnung geben können. All dies deutet schon jetzt in den eigentlich letzten Punkt, der Frage nach der Bedeutung der Älteren und Alten für die Kirche.

2. Die Bedeutung der Kirche für die Älteren

Ich hatte bereits mehrfach auf den Umstand hingewiesen, dass durch demografische und soziologische Veränderungen unserer Gesellschaft im Blick auf ältere und alte Menschen regelrecht von einer dritten Lebensphase auszugehen ist. Alter ist kein Anhang, der dann eben auch noch kommt und ausgehalten werden muß, sondern vielmehr eine eigene, häufig ausgedehnte Lebenszeit, die entsprechend wahrgenommen und beachtet sein muß. Aktivität, Engagement und Veränderung braucht zunächst die Wahrnehmung entsprechender Realitäten.

Ich möchte hier an ein gelungenes Beispiel erinnern, dass Ihnen im Verlauf der Tagung bereits intensiver vorgestellt wurde, das Medienverbundprojekt „Das Dritte Leben“. Seit zehn Jahren begleitet der Südwest-rundfunk 30 Männer und Frauen jährlich mit der Kamera, um in Zusammenarbeit mit diesen Menschen für andere zu dokumentieren, wie das Alter gestaltet werden kann, wie die Herausforderungen, die das Alt werden mit sich bringt, erlebt und gemeistert werden können. Gegenwärtig werden 15 Filme zur Schlussdokumentation dieser jeweils zehn Lebensjahre fertiggestellt, die im Zeitraum von September bis Dezember 2002 im Südwestrundfunk ausgestrahlt werden. Eine Arbeitsgruppe, an der auch unsere Diözese beteiligt ist, entwickelt bis zum Sommer dieses Jahres Begleitmaterialien, die dazu dienen, einerseits die alten Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, andererseits aber auch das Gespräch zwischen den Generationen zu fördern.

Die Erfahrungen der heutigen Pioniergeneration alter Menschen werden durch dieses Medienverbundprojekt aus Film und didaktischem Material für viele fruchtbar gemacht, die an der Schwelle zum Dritten Leben stehen. So helfen die Filme, die weit verbreiteten Ängste vor dem älter Werden abzubauen. Sie vermitteln ein realistisches Bild vom Alter und machen deutlich, dass die geschenkten Jahre lebenswert sind, obwohl sie auch von Krankheit, Verlust des Lebenspartners und dem nahenden Tod geprägt sind. Im Umgang mit der Sinnfrage kommt hier auch immer wieder der christliche Glaube ins Spiel als ein Horizont, mit dem zu ringen und sich zu beschäftigen als lohnend erlebt wird. Ich möchte Sie nochmals erinnern, auf die Angebote des Südwestrundfunks und unserer Bildungwerke im Herbst dieses Jahres und im kommenden Jahr zu achten.

Die Kirche ist aufgerufen, sich gerade auch für Menschen, die aus dem sogenannten aktiven Leben herausfallen, aufmerksam zu engagieren. Christliche Solidarität bedeutet ein Sich-Einsetzen für Menschen über ausgrenzende Unterschiede hinweg. Besonders das Eintreten für die Schwächeren ist notwendig. Es gehört darüber hinaus schon zu den demokratischen Grundrechten, die Interessen von Benachteiligten zu vertreten. Viele sind darauf angewiesen, dass andere für sie Partei ergreifen, besonders die Hilfsbedürftigen, Einsamen, Vernachlässigten und Sprachlosen. Dem biblischen Zeugnis geht es um die ganzheitliche Zuwendung zu Menschen, die der entschiedenen Parteinahme im Sinne des Prophetentextes: „Dem Schwachen und Armen verhalf der Herr zum Recht“ (Jer 22, 16 ff.) bedürfen. Schritte in dieser Richtung zu gehen, ist nicht einfach. Es gilt, die christliche Solidarität in den Alltag zu übersetzen.

Solidarität bedeutet wesentlich mehr als bloße Fairness im Umgang miteinander und Achtung vor den Bedürfnissen der anderen. Papst Johannes Paul II schreibt in seiner Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ dazu: „So wie die Welt heute ist, können wir überhaupt nicht mehr überleben ohne die ,Wechselseitigkeit‘: einer für den anderen, einer mit dem anderen“ (Nr. 26). Mir ist es dabei schon hier wichtig, dass es um eine wechselseitige Hilfe füreinander geht. Das plakative Wort vom Generationenvertrag ist da viel zu ausdrucksschwach, denn es geht um die gegenseitige Hilfe zu einem heilsamen Leben.

Generationenvertrag meint dann nicht nur wirtschaftliche Belange, sondern viel-mehr solidarischen Zusammenhalt der Generationen, der – uns alle! – erst zukunftsfähig macht. Dabei fordern die raschen Veränderungen im Alltag immer wieder zu neuem verantworteten Handeln heraus. Gefundene Problemlösungen verlieren ihre Wirkung und müssen ersetzt werden. Dadurch werden christliche Traditionen nicht bedeutungslos, sie gelten jedoch nicht mehr selbstverständlich und müssen sich neu bewähren. Vor allem kommt im Alltag der Einheit von Leben und Glaube ein großes Gewicht zu. Menschen erwarten von unserer Kirche Orientierungshilfen, Begleitung und Unterstützung.

Die längere Lebenszeit und die Vielfalt der Lebenslagen im Alter und Altern verlangen dabei längst nicht nur Unterstützungs- und Entlastungshilfen. Sie rücken auch andere Fragen in den Blickpunkt, etwa wie das Leben bis zuletzt selbständig und gelingend gestaltet werden kann, welche Orientierungen und geistlichen Begleitungsange-bote eine lebensfördernde Pastoral einzubringen vermag. So könnte ein regelrechtes Zukunftsbündnis mit Frauen und Männer in der Dritten Lebensphase gelingen, zumal, wenn die Kirche und ihre Gruppen offener für neue Lebensstile und Lebensziele älterer Menschen sind, Vertrauen in die älteren Frauen und Männer setzen und sie in ihrem Streben nach Unabhängigkeit und Eigenverantwortung unterstützen.

Lebenshilfe ohne Berücksichtigung der Verantwortung und Leistungsfähigkeit, die jeder Mensch hat, kann rasch zur Abhängigkeit führen. Dabei gibt es viele Frauen und Männer, die erst nach der Familien- und Erwerbsphase das breite Spektrum ihrer Interessen entdecken, auch Interessen für das Gemeinwesen. Aufgrund ihrer vielfältigen Biographien und Lebenserfahrungen haben ältere Frauen und Männer Kompetenzen, die sie einbringen wollen. Wir müssen eine Kultur der Wertschätzung entwickeln, die älteren Menschen die Überzeugung vermittelt, dass sie Fähigkeiten und Kompetenzen besitzen, die geschätzt, geachtet und abgerufen werden. Dies bedeutet, ihnen entsprechende Aufgaben sowie Verantwortung zu übertragen, älteren und alten Menschen neue Informationen zukommen zu lassen und ihnen bei deren Verarbeitung helfen, miteinander zu entdecken und zu bezeugen, dass Grenzsituationen und Problemlagen, die nicht zu verändern sind, dennoch häufig Freiräume erschließen, die sinnstiftend wirken können.

Es gilt, Orte und Gelegenheiten zu schaffen, an denen ältere Menschen die Zukunft in unserer Gesellschaft und Kirche mitgestalten können. Das Miteinander der Generatio-nen gelingt nicht von selbst. Dementsprechend ist eine vielschichtige Pastoral in der Dritten Lebensphase gefragt. Eine Pastoral in der Dritten Lebensphase muss zunächst die Lebenswirklichkeit der älteren Menschen wahrnehmen und bei allen Überlegungen berücksichtigen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, Gottes Heilsangebot, die Botschaft vom Wirken und Lebensschicksal Jesu Christi dort zur Geltung zu bringen, wo sich das Leben der älteren Menschen und die Absicht Gottes begegnen können. Entsprechend des kirchlichen Auftrages gehört zur Seelsorge eine lebensgeschichtliche Be-gleitung; sie hilft älteren und alten Menschen das Leben im Licht des Glaubens zu bejahen, zu deuten und zu gestalten.

Die Diakonie als soziale Pastoral berücksichtigt die vielfältigen Alltagsnöte der älteren Menschen und versucht in gesundheitlichen, psychosozialen, wirtschaftlichen und anderen lebenspraktischen Belangen zu helfen. Sie bemüht sich um die Selbstbestimmung und Würde des einzelnen, nicht zuletzt auch dann, wenn die Möglichkeiten dazu abnehmen. Sie sucht auch und vor allem im Dialog nach neuen Wegen, um die Lebenskompetenz der älteren und alten Menschen auch für die Familie und Gesellschaft erkennbar werden zu lassen.

Und zuletzt: Zu den konstitutiven Aufgaben der Gemeinde hat es immer gehört, den Armen, Notleidenden und Ausgegrenzten zu helfen. In einer besonderen Weise gehö-ren dazu auch die Kranken und Sterbenden. In vielen zurückliegenden Generationen wurde Kranksein und Sterben hineingenommen in die Familie und Gemeinde. So war der christlicher Brauch eine ganz konkrete Verwirklichung des biblischen Auftrags: „Ich war (sterbens-)krank und ihr habt mich besucht“ (Mt 25,36).

Heute werden in Krankenhäusern und Alten(Pflege)Heimen weithin Sterben und Tod in die Anonymität verdrängt. Inzwischen aber wird der Wunsch immer lauter, in der gewohnten Umgebung bleiben zu können. Es werden zu Recht Wege gesucht, wie der zutiefst menschliche und christliche Wunsch, im Kreise der Angehörigen oder mitsorgenden Menschen zu sterben, erfüllt werden kann. Sterbebegleitung ist gelebte Gastfreundschaft mit dem Sterbenden. Es gilt auch hier, die Blickrichtung umzudrehen. Die Frage, wer ist mein Nächster, wird gewendet in die Antwort, du bist der Nächste.

Es gilt entsprechend, die Alten, die Kranken und dann die Sterbenden in ihrer Einsamkeit und Ungeborgenheit aufzusuchen. Sterbebegleitung meint demnach nicht einen Heilungsauftrag zum „körperlichen Gesundbeten“ des Sterbenden. Vielmehr geht es um die „Heilung und Versöhnung“ als Fortsetzung der Sorge Jesu um das ganze Heil des Menschen, auch in seinem Sterben und Tod. Auch hier werden sicher Lernprozesse geöffnet und angestoßen, die nicht nur einseitig fruchtbar sind. Die Gemeinden sind aufgerufen, Wege zu finden, wie Sterbende in stationären Einrichtungen oder in der eigenen Wohnung, liebevolle Zuwendung und menschenwürdige Begleitung erfahren. Die Hospizinitiativen und -gruppen bemühen sich um Hilfen, die auf Dauer von unse-ren Gemeinden noch besser mitgetragen werden müssen.

Mir ist dabei eine Überlegung ganz wichtig: Älterwerden, Altsein darf nicht gleichzeitig bedeuten, Verlust am Menschsein zu erleiden, defizitär, gebrechlich, bedürftig und krank leben zu müssen. Für die kirchliche Altenarbeit sind ältere Menschen, so sehr diese auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind, nicht Objekt kirchlichen Versorgungsdenkens, sondern Subjekt mit eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrungen, Kompetenzen und Charismen, Träger und erste Verantwortliche kirchlichen Han-delns.

Die Häuser unserer Kirche, die Pfarrheime und Gemeindezentren müssen insgesamt ganz praktisch zu Orten der Begegnung werden. Da haben wir das Mögliche längst noch nicht ausgeschöpft. In Formen einer praktizierten Solidarität soll auf die konkreten Erfahrungen Einzelner, auf ihr Lebensumfeld, auf ihre Erwartungen, Sehnsüchte und Ängste eingegangen werden. Sie merken es, wenn ich von der wechselseitigen Hilfe spreche, ist zugleich auch der letzte Abschnitt berührt, der die Blickrichtung nochmals ausdrücklich wenden will. Erlauben Sie mir, dass ich in diesem letzten Punkt nur mehr stichwortartig bündele:

3. Die Bedeutung älterer Menschen für die Kirche

Erfahrungen und Traditionen weitergeben: Wenn bewährte Traditionen und Wervostellungen vorenthalten werden, dann nimmt man jungen Menschen die Chance, Wurzeln zu schlagen und zu einer stabilen Identität zu kommen. Das Gespräch zwischen Jung und Alt läßt im gemeinsamen Gespräch und Austausch Beispiele geglückten Lebens erfahren, Fragen und Probleme miteinander bedenken und angehen. Muster und Strukturen, die sich als tragfähig erwiesen haben, müssen so nicht immer wieder neu erfunden werden, andererseits kommen aber auch neue Dimensionen und Einsich-ten hinzu, das Lebenshaus wächst so etagenweise, ohne seine Stabilität zu verlieren. Lebensgestaltung und Sinnfindung im Alter kann so zum Hoffnungszeichen für die ältere Generation selbst wie für die nachfolgenden Generationen werden.

Dem Leben nahe sein: Wenn christliche Gemeinden in Lebensnähe der Menschen stehen, sind sie in der Lage, unterschiedlichste Menschen zu einer Gemeinschaft zu-sammenzuführen: Alte und Junge, Familien und Alleinstehende, Gesunde und Kranke, Erfolgreiche und Notleidende, Gottsucher und sozial Engagierte, Menschen mit seelischen Verletzungen und solche, deren Leben eher unproblematisch verläuft. In jedem Fall bleibt die Gemeinde eine wichtige Bezugsgröße. Wie einladend sind wir da, wie offen und begegnungsstiftend sind unsere Orte? Stiften wir als Kirche Möglichkeiten, an denen Junge und Alte zusammenkommen und entdecken, welchen Wert sie füreinander, für die Gesellschaft und für die Kirche haben können?

Altenpastoral als Testfall des Glaubens: Praktische Theologie und Pastoral können sich nicht neutral-distanziert der Frage nach der Situation alter Menschen in Gesellschaft und Kirche zuwenden. Sie stellen sie als praktische Frage, d.h., es geht ihnen von vornherein um die Lebensmöglichkeiten alter Menschen. Eine praktische Theologie des Alters läßt sich herausfordern von „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ derjenigen, die hier und heute alt sind, in einer Zeit und Gesellschaft, die aus vielen Gründen das Alter nicht schätzt und alte Menschen ausgrenzt. Damit sucht sie auf ihrem Feld, dem Anspruch der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „Gaudium et Spes“ nachzukommen.

Für Form, Inhalt und Ziel einer sich so verstehenden praktischen Theologie des Alters und Altenpastoral sind daher die Erfah-rungen der Betroffenen konstitutiv. Zu einem solchen Selbstverständnis und einer solchen Praxis sehen sich die Praktische Theologie und die Altenpastoral verpflichtet, bewahrheitet sich der christliche Glaube, indem er in der Nachfolge Jesu von Nazareth für die Möglichkeiten alter Menschen, in Würde ihr Alter leben zu können, eintreten. Theologie, Kirche und Gemeinden sowie alle anderen Träger kirchlicher Altenarbeit können die individuelle und gesellschaftliche Lebenswirklichkeit alter Menschen nicht überspringen, wollen sie nicht der Gefahr erliegen, ein Reservat für Alte zu schaffen, das sie abschirmt und zugleich die gesellschaftliche Ausgrenzung verstärkt.

Meine Damen und Herren: Seien wir wachsam, die Würde des Menschen ist antastbar. Wir müssen wahrnehmen, dass und wie die Würde alter Menschen vielfach angetastet wird: durch Altersarmut, durch Ausgrenzung älterer Menschen aus gesellschaftlich bedeutsamen Bereichen und Entscheidungszusammenhängen, durch ein ungenügend abgesichertes Pflegesystem, durch Einrichtungen, die nicht altengerecht gestaltet sind, durch Nichternstnehmen ihrer Erfahrung. Vieles ließe sich anfügen. Unsere fundamentale Option, der grundlegende Maßstab des christlichen Handelns für das Subjektseinkönnen aller Menschen unter den Augen Gottes, zeitigt Konsequenzen für das pastorale Handeln und die Gemeindepraxis. Dies ist ein lebensnahes ‚Aggiornamento der Kirche‘, die konsequente Orientierung an den Zeichen der Zeit und der Frage, was not-wendig ist.

Kirche als Lebenshaus: Wenn die Kirche so pragmatisch zu einer Art ‚Lebenshaus‘ wird, wo sich Generationen ohne Scheu und mit viel Neugier begegnen, kann sie zu einem wirklichen Sakrament werden, ein Zeichen der Nähe Gottes unter den Menschen. Dies Sakrament wäre dann aber keineswegs binnenkirchlich oder gar klerikalis-tisch verengend, sondern vielmehr Anbruch des Reich Gottes mitten unter uns, man kann es auch politischer und handlungsbezogener ausdrücken: Das Lebenshaus könnte zu einer Art ‚Zukunftswerkstatt‘ werden, zu einer grünen Zelle für Jung und Alt, die gemeinsam an eigene Fragen erinnern und um gültige, tragfähige Antworten und Perspektiven ringen. Um mit dem Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti eine alte Redewendung aufzufrischen: ‚Wann aber sollen wir das Zeitliche segnen – wenn nicht jetzt?‘ Denn die Grundaufgabe stellt sich jedem Menschen unabhängig vom Alter: Letztlich kommt es weniger darauf an, wie alt man wird, als vielmehr darauf, wie man alt wird, bedeutet also, nicht so sehr dem Leben Jahre zuzufügen, als vielmehr den Jahren Leben zu geben (Ursula Lehr).

Unsere Kirche - ein Haus des Lebens, das wäre etwas.Ich danke für die geschenkte Aufmerksamkeit. Der Vortrag orientiert sich an folgenden Veröffentlichungen:-
Älterwerden und Altsein (2000), hg. Sekretariat der DBK (Arbeitshilfen 151), Bonn 2000-
Martina Blasberg-Kuhnke, Im Alter Gemeinde leben. Leitorientierungen gemeindlicher Altenpastoral, in: Leben im Alter (Themenheft mit Grundsatzbeiträgen, Ar-beitshilfen 104), hrsg. Sekretariat der DBK, Bonn 1993-Franz Herzog, Kirchliche Altenarbeit heute, ebd.-Franz Kamphaus, Das Miteinander der Generationen, in: Den Glauben erden, Freiburg 2001

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