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„Inklusion war und ist die größte Herausforderung“

„Inklusion war und ist die größte Herausforderung“

Uta Lünnemann-Raiser geht nach fast zwei Jahrzehnten als Schuldekanin an den SBBZ in Ruhestand. Bild: DRS

Schuldekanin Lünnemann-Raiser verabschiedet sich in den Ruhestand. Sie war 19 Jahre im Dienst der Sonderpädagogik tätig.

19 Jahre war Uta Lünnemann-Raiser als Schuldekanin für die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) und Inklusion zuständig. Nun geht sie in den Ruhestand. Ihre Nachfolge tritt der Gemeindereferent Tobias Haas an. Im Interview zu ihrem Abschied blickt die ausgebildete Religionslehrerin und Theologin auf die fast zwei Jahrzehnte in ihrem Amt zurück und spricht über Besonderheiten und Herausforderungen von Religionsunterricht an den SBBZ und zieht eine Bilanz ihres Wirkens.

Frau Lünnemann-Raiser, was genau sind Ihre Aufgaben als Schuldekanin für die SBBZ und Inklusion?

Ich habe die Fachaufsicht über den Religionsunterricht mit Schülerinnen und Schüler mit Förderanspruch, bin für die fachliche Qualifikation der Religionslehrerinnen und -lehrer verantwortlich und betreue deren Aus- und Fortbildung. Da sie in den SBBZ tätig sind, benötigen sie eine spezielle Unterstützung, um Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten, motorischen Einschränkungen oder aus prekären Lebensverhältnissen entsprechend unterrichten zu können.

Um es am konkreten Beispiel zu erläutern, ein Kind, das nicht sehen kann, kann mit einer Karte von Israel im Religionsunterricht nicht viel anfangen. Wenn ich die Karte aber mit Wasser aus Seidenpapier und Bergen aus Pappmasche nachbaue, kann das Kind die Karte fühlen. Bei einem unruhigen Schüler, muss die Lehrkraft nachhaken, was er braucht, damit er in der gegebenen Situation gut lernen kann. Oder wenn ich einem Kind mit komplexen Behinderungen die Geschichte vom Heiligen Martin erzähle und ihm eine Kühlkompresse gebe, damit es nachempfinden kann, wie sich die Kälte für den Bettler, dem Martin seinen Mantel gegeben hat, anfühlt.

Fast immer gilt es auch, die Texte für den Unterricht zu bearbeiten und in leichte Sprache zu übersetzen. Je nach Förderschwerpunkt des SBBZ benötigt der Religionspädagoge auch ein ganz bestimmtes Methodenrepertoire.

Wenn Sie auf die vergangenen 19 Jahre zurückblicken, worin lag die größte Herausforderung?

Viele würden denken, ich nenne jetzt Corona. Aber das war für mich nicht die größte Herausforderung. Die größte Herausforderung war und ist die Inklusion. Diese hat mich seit meinem Beginn als Sonderpädagogin vor 40 Jahren bis heute am meisten beschäftigt. Dabei geht es um Inklusion und Teilhabe:

Meine Schülerinnen und Schüler möchten nicht extra behandelt werden, sondern sie möchten ohne Hilfe am allgemeinen Unterricht teilhaben können. Inklusion muss also auf beiden Seiten passieren; es geht nicht bloß darum, den Schüler mit Handicap aufzunehmen, sondern dass beide Seiten aufeinander zugehen.

Auch wenn Inklusion seit 2015 gesetzlich verankert ist, ist sie noch immer eine große Herausforderung.

Ihr Anliegen war es immer, sonderpädagogische und theologische Fragen zu verbinden. Wie funktioniert das ganz konkret, Frau Lünnemann-Raiser?

Denken Sie beispielweise an die vielen Heilungsgeschichten in der Bibel. Wie nimmt ein Kind im Rollstuhl in der Klasse diese Geschichten auf? Wenn Gott den Menschen in der Bibel heilt und ihm damit seine Sünden vergibt, heißt das, dass Gottes Welt ohne Behinderung ist? Kann ich das dem Jungen oder dem Mädchen im Rollstuhl versprechen? Nein, das kann ich nicht. Und wie antworte ich, wenn er oder sie fragt: Warum kann Jesus mich nicht heilen? Ich frage dann, was ist das Wesentliche? Dass du geheilt bist oder dass du dich geliebt fühlst? Denn es geht darum, dass wir auch lernen, uns sich mit der eigenen Lebenssituation auseinanderzusetzen und mit den eigenen Einschränkungen und Ressourcen zu leben.

Natürlich gibt es in diesen Gesprächen oft keine Lösung. Da kommt auch die Frage: „Warum kann Dein Gott nichts tun?“ Ich gebe den Schülerinnen und Schülern dann gerne einen Psalm oder lasse sie einen aussuchen, der beispielsweise Trost spendet oder mit dem sie Gott die Meinung sagen können.

Wie haben sich Ihre Aufgaben und der Religionsunterricht im Bereich der SBBZ in den vergangenen 19 Jahren verändert?

Zu Beginn haben sich die Religionslehrkräfte aus den unterschiedlichen Förderschwerpunkten getroffen und ausgetauscht. Daraus ist der erste Ideen- und Methodenpool entstanden, der später standardisiert wurde. Heute gibt es Formen, die jeder Religionslehrer an den SBBZ kennt. Beispielsweise das Lied „Gott, ich danke Dir“, das mit Gebärden unterstützt wird.

Zu den schwierigsten Aufgaben in der Sonderpädagogik zählt es nach wie vor, die Essenz aus den biblischen Geschichten herauszuarbeiten. Wenn wir an den Gelähmten in der Bibel denken, geht es in der Geschichte darum, dass Jesus ihn gesehen hat und dass er sein Leben selbst in die Hand nimmt, ob er dann laufen kann oder nicht. Diese Essenz versuchen wir mit unserem Methodenkatalog zu vermitteln.

Hat Religionsunterricht an den SBBZ eine besondere Ausrichtung?

Wir feiern an den SBBZ den Glauben, indem wir Lieder singen, gemeinsam essen, wenn es um die Geschichte vom letzten Abendmahl geht, oder wir veranstalten ein Fest, wenn wir über den verlorenen Sohn sprechen, der zu seiner Familie zurückkehrt. Für unsere Schülerinnen und Schüler sind sinnliche Eindrücke – also Riechen, Schmecken, Tasten, Hören und Sehen – und das handelnde Lernen besonders wichtig; in beidem liegt auch die besondere Ausrichtung des Religionsunterrichts hier.

Frau Lünnemann-Raiser, wie fällt Ihre Bilanz nach 19 Jahren aus?

Ich gehe gerne in den Ruhestand, denn ich konnte in den vergangenen Jahren viele Dinge verwirklichen. Ich habe z.B. die Ausbildung von Sonderpädagogen zu Religionslehrern in allen Ausbildungsabschnitten etabliert und ein Fortbildungsangebot für Religionslehrer und -lehrerinnen geschaffen, die keine Sonderpädagogen sind. Es ist gut, wenn nun jemand Neues seine eigenen Akzente setzt.

Ich weiß, dass die Inklusion nach wie vor eine große Herausforderung ist. Ich weiß aber auch, dass das ein großes Anliegen meines Nachfolgers, Tobias Haas, ist. Zudem ist die Inklusion in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mittlerweile so wichtig, dass der Diözesanrat dafür einen eigenen Arbeitskreis gegründet hat.

Es tut sich also viel und ich kann deshalb gut zurücktreten. Denn ich weiß, da wird weiterhin viel passieren.

Tobias Haas tritt Nachfolge als Schuldekan für SBBZ an

Mit dem neuen Schuljahr 2021/22 gibt es auch einen neuen Schuldekan für die SBBZ und Inklusion: Gemeindereferent und Religionspädagoge Tobias Haas. Seine ersten Stellen waren die Kirchengemeinden Hl. Geist in Giengen an der Brenz und St. Johannes in Tübingen. Seit 19 Jahren arbeitet er als Seelsorger bei Menschen mit Behinderung. Somit hat er das seelsorgerische Profil für diese Zielgruppe von Anfang an mitgestaltet. Im Zuge dessen entwickelte er früh eine sonderpädagogische Sensibilität und verfasste mit anderen zusammen bereits 2009 den damaligen Bildungsplan für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Seitdem bietet er regelmäßig Fortbildungsangebote in den Bereichen Inklusion und Religionspädagogik mit sonderpädagogischem Förderbedarf innerhalb der Diözese Rottenburg-Stuttgart an – und zwar sowohl im religionspädagogischen als auch im pastoralen Bereich.

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