Schulen

„Jemand, der über das Wissen hinaus Auskunft geben kann“

Michael Dahmen war 30 Jahre lang Schuldekan und Leiter des Religionspädagogischen Instituts in Ulm.

Schuldekan Michael Dahmen geht nach 30 Jahren in Ruhestand. Im Interview spricht er über die Chancen des Religionsunterrichts.

Michael Dahmen, dienstältester katholischer Schuldekan in Württemberg, geht am Monatsende in Ruhestand. 30 Jahre lang war er für rund 300 Religionslehrerinnen und -lehrer an 130 Grundschulen, Werk-Realschulen, Gemeinschaftsschulen, Realschulen und sonderpädagogischen Einrichtungen im Alb-Donau-Kreis zuständig. Im Interview zieht er Bilanz und äußert sich zu Bedeutung und Zukunft des Religionsunterrichts.

Herr Dahmen, als Schuldekan haben Sie über die Qualität des Religionsunterrichts gewacht und waren Impulsgeber für Religionslehrerinnen und -lehrer. Manche Leute fragen sich aber, ob der klassische Religionsunterricht überhaupt noch zeitgemäß ist in einer zunehmend säkularen und zugleich multireligiösen Gesellschaft…

Auch die religiöse Bildung gehört zur Bildung und zum Bildungsauftrag in unserer Gesellschaft.

Warum nicht mittels „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (L-E-R), wie sie manche Bundesländer stattdessen anbieten?

Die Aufgabe des Lehrers in L-E-R oder in Ethik ist, Wissensvermittler zu sein. Der Lehrer im Religionsunterricht ist aber jemand, der über das Wissen hinaus selber Auskunft geben kann, weil er selbst Glaubenserfahrungen lebt. Deswegen besitzt er ja eine Missio canonica (die Beauftragung mit Verkündigungs- und Lehraufgaben). Das schafft eine andere Grundlage. Der Religionsunterricht soll auch die Möglichkeit geben, spirituelle Erfahrungen zu machen. Was ist Gebet? Wie kann ich vielleicht eine Zwiesprache mit Jesus, mit Gott halten? Wir versuchen, Glaubenshaltungen anzubahnen – als Angebot, es soll kein Überstülpen sein. Das Vertrauen, die Atmosphäre, in der ich sprechen kann, das ist das Wichtige am Religionsunterricht.

Wie hat sich das religiöse Interesse der Schülerinnen und Schüler in den vergangenen 30 Jahren gewandelt? Welche Rolle spielt heute die Frage nach dem Woher und Wohin?

Da gibt’s keine große Wandlung. Diese Fragen nach dem Sinn des Lebens, wie ich mein Leben glücklich und gut gestalten kann, auch ethische Fragen, das Thema Beziehung, Partnerschaft und Ehe – diese Fragen sind eigentlich weiterhin da. Hier kann der Religionsunterricht Orientierung geben und helfen. Ich glaube, dass der Religionsunterricht eine ungebrochen wichtige Rolle spielt, weil dies kein anderes Fach anbieten kann. Das ist wohl auch der Grund, warum die Abmeldequote relativ gering ist.

Zugleich ist aber die „Basis“ aus dem Elternhaus, auf dem der Religionsunterricht aufbauen kann, kleiner geworden. Ist es schwieriger geworden, „Reli“ zu unterrichten?

Absolut. Der Spagat zwischen dem, was wir einlösen wollen und dem, was die Kinder an religiöser Sozialisation aus dem Elternhaus mitbringen, wird immer größer. Sie tragen die Säkularisierung und den Traditionsabbruch auch mit hinein in den Religionsunterricht. Ich war neulich in einer 8. Klasse, als der Lehrer eine Stunde über Pfingsten gehalten hat: Die Schüler sollten sich positionieren und so aufstellen, wie sie über Pfingsten Bescheid wussten. Je weiter sie wegstanden, desto größer war das Nichtwissen. Keiner dieser Achtklässler wusste etwas über Pfingsten. Es ist nicht untypisch für diese Zeit, dass die Distanz so groß ist, dass man auch in einer achten Klasse nochmal mit den Basics anfangen muss.

Um bei diesem Thema zu bleiben: Wie würden Sie sich diesem Thema als Lehrer denn konkret nähern?

Man muss da an der Lebenswelt ansetzen. Pfingsten ist ja auch die Geburtsstunde der Kirche: Die Jünger werden vom Geist Gottes entfacht; sie brennen darauf, das Evangelium zu verbreiten. Da muss man anfangen zu fragen: Wofür brennt ihr? Was be-geist-ert euch? Da steckt das Wort „Geist“ ja auch drin. Wofür setzt ihr euch ein? Was würde euch motivieren, sofort die Initiative zu ergreifen? Das wäre ein Aufhänger für die Frage: Woher kommen diese Antriebskräfte? Mit einer solchen Fragestellung kann man die Jugendlichen packen.

Sie waren beteiligt an der Einrichtung der Stelle der Dekanatsbeauftragten „Schulpastoral“. Was erwarten Sie sich von dieser Stelle?

Das war mir ganz wichtig, um die Arbeit der Lehrkräfte, die sich zum Teil schon seit vielen Jahren in der Schulpastoral engagieren, zu vernetzen und zu unterstützen. Durch den Ganztagsunterricht ist die Schule ja immer mehr zum Lebensraum geworden. Da bietet eine religiöse Bildung über den Religionsunterricht hinaus eine große Chance für die Schulen und für die Kirche: Der Religionslehrer oder die -lehrerin ist eine Vertrauensperson und auch über den Religionsunterricht hinaus ansprechbar, macht spirituelle Angebote, die das vertiefen, was der Religionsunterricht in den 45 Minuten vielleicht nicht leisten kann.

Kann das denn die Angebote, die es sonst auf der Ebene der Kirchengemeinde oder der Seelsorgeeinheit habe, denn ersetzen?

In der Schule erreiche ich Schülerinnen und Schüler, die ich sonst, also in der Gemeinde, gar nicht hätte. Gerade junge Menschen, die noch in der Ausbildung und in der Personwerdung sind, überlegen sich: Was haben Kirche und Glaube mit meinem Leben zu tun? Die Relevanz dieser Fragestellung zu vermitteln, dass die jungen Leute diese Frage für sich positiv beantworten, das ist eine große Chance. Die Vernetzung der Schulpastoral hat auch das Ziel, dass Jugendreferat und andere Stellen auf Dekanatsebene hier besser andocken können.

In Zeiten von Corona hat die Digitalisierung im Unterricht einen großen Schub bekommen. Was bedeutet das für den Religionsunterricht?

Religionsunterricht lebt vom Sozialen, vom Miteinander in der Gruppe, und da ist der Fernunterricht kein guter Weg. Natürlich, wenn es nicht anders geht, müssen wir das auch nutzen. Aber Religionsunterricht ist darauf angewiesen, dass Lehrer und Schüler miteinander ins Gespräch kommen können über Glaubensinhalte. Deswegen würde ich davor warnen wollen, dass man die digitalen Chancen für den Religionsunterricht überschätzt. Das ist ein Hilfsmittel – nicht mehr, nicht weniger. Das gilt für die Medien insgesamt.

Welche Themen werden für einen Schuldekan oder eine Schuldekanin in Zukunft wichtig oder wichtiger werden?

Neben der Schulpastoral halte ich für die Zukunft die Ökumene für wichtig, etwa durch die konfessionell-kooperative Erteilung des Religionsunterrichts. Ich glaube, dass das die Gesellschaft will und dass das die Säkularisierung erfordert. Die Aufgabe wird darüber hinaus immer spannend und herausfordernd bleiben. Es gibt ja immer wieder neue Bildungspläne und man muss immer mit auf dem Weg sein und überlegen: Wie kann man das methodisch-didaktisch umsetzen, so dass der Religionsunterricht an Qualität behält und für die Kinder und Jugendlichen interessant und sinnstiftend bleibt.

ZUR PERSON: Michael Dahmen

Als dienstältester Schuldekan in der Diözese Rottenburg-Stuttgart beendet Michael Dahmen nach insgesamt 33 Dienstjahren in dieser Woche seine berufliche Laufbahn. 30 Jahre lang war er für rund 300 katholische Religionslehrerinnen und -lehrer an 130 Grundschulen, Werk-Realschulen, Gemeinschaftsschulen, Realschulen und sonderpädagogische Einrichtungen im Alb-Donau-Kreis zuständig. Davor wirkte er drei Jahre lang als Schuldekan für die Dekanate Schwäbisch Hall und Crailsheim. In Schwäbisch Hall war der gebürtige Kölner, der in Stuttgart aufgewachsen ist, zunächst auch als Realschullehrer tätig.

Mit dem Amt des Schuldekans in Ulm war auch die Leitung des Religionspädagogischen Instituts (RPI) in Ulm verbunden. Zu den Aufgaben des RPI, das es an sieben Standorten in der Diözese gibt, gehören die Fort- und Weiterbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern, die Bereitstellung von fachbezogenen Materialien und Medien und die religionspädagogische Beratung. Über 25 Jahre hielt Michael Dahmen überregionale Seminare für Mentoren und Mentorinnen. Vor Ort pflegte er eine enge ökumenische Zusammenarbeit. Die fachliche Begleitung der „Seelsorge bei Menschen mit Behinderung“ gehörte genauso zu seinen Aufgaben wie die Förderung der Schulpastoral.

Besonderen Wert gelegt hat Dahmen auf eine möglichst gute Vernetzung des Schuldekanats im Dekanat Ehingen-Ulm an den „Schnittstellen“ der Glaubensweitergabe, etwa in der Firmpastoral mit Vorträgen für Firmeltern in den Gemeinden, als Mitglied im Vorstand der Katholischen Erwachsenenbildung oder im Kuratorium der Abendrealschule Ulm. Im Schuldekanat folgt ihm im Herbst Schulleiterin Tanja Strobel nach.

„Die Zeit ist ein seltsames Phänomen“, sagt der 63-Jährige nachdenklich und wundert sich ein wenig darüber, „dass die Zeitspanne als Schuldekan schon vorbei ist“. Das Leben sei wie ein Pilgerweg, „dieser Teil des Weges ist absolviert, jetzt kommt ein neuer Abschnitt“, in dem sich Michael Dahmen mehr seinem Garten und der Natur widmen möchte.

Amtswechsel in Ulm: Tanja Strobel wird neue Schuldekanin

Mit Beginn des Schuljahres 2021/22 ist Tanja Strobel neue Schuldekanin im Katholischen Schuldekanatamt Ulm, zuständig für Grund-, Haupt, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sowie Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren. In den vergangenen sieben Jahren wirkte Strobel als Schulleiterin der Ganztagsgrundschule in Ulm-Einsingen, zuvor war sie Lehrbeauftragte und Fachleiterin am Lehrerseminar in Laupheim. Und schon als Grund- und Hauptschullehrerin wurde ihr große Leidenschaft und Nähe zum Religionsunterricht attestiert.

Seit vielen Jahren engagiert sich Tanja Strobel im Bereich der religiönspädagogischen und mediendidaktischen Fort- und Weiterbildung. Dank ihrer Zusatzqualifikation als Medienreferentin bei der Diözese Rottenburg-Stuttgart verfügt sie auch über das Rüstzeug für die Leitung des Religionspädagogischen Institutes in Ulm.

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