Bischofspredigt

200 Jahre Wilhelmsstift Tübingen und Priesterseminar Rottenburg

Wer in der Nachfolge Jesu Christi sich selbst, sein Leben und Wirken in den Dienst der Menschen stellen will, muss gut vorbereitet sein

Schrifttexte: 2 Tim 4,1-5; Joh 10,11-16

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst und Diakonendienst,
liebe Diözesantheologen und Priesteramtskandidaten,
liebe Schwestern und Brüder in den kirchlichen Diensten und Ämtern und alle, die sich darauf vorbereiten.

„Gott ruft jeden, aber mit anderer Stimme!“ Von Yves Congar, dem großen Theologen, stammt dieses Wort. - „Gott ruft jeden, aber je mit anderer Stimme!“ Liebe Schwestern und Brüder. Mit Jesus Christus in Rufweite zu leben, das bleibt immer die große Herausforderung an uns. Und ich bin überzeugt, dass er damals wie heute mit seinem Ruf unsere Herzen erreicht, wenn wir uns zu ihm hin öffnen. Das Evangelium, das wir heute gehört haben, gibt uns mit dem Bild vom „Guten Hirten“ dabei eine Richtung vor, was es bedeutet, seine einzigartigen Begabungen einzusetzen, den Spuren Jesu zu folgen.

Jesus Christus selbst ist der gute Hirte. Ihm – um im biblischen Bild zu bleiben – liegen die Schafe am Herzen. Sie gehören zu ihm. Er kennt sie, nährt sie und ruft sie. Er spürt und hört, was die ihm Anvertrauten brauchen. Der gute Hirte legt sich für die Seinen ins Zeug. Jesus sagt im Johannes-Evangelium: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich. Ich gebe mein Leben für die Schafe.“ (Joh 10,14): Ich gebe mein Leben für die mir anvertrauten.

Mit „Schafen“ bezeichnet Jesus in seiner bildhaften Sprache im Kontext seines Kulturkreises alle, die zu ihm gehören wollen. Sie hören auf ihn, nicht weil sie hörig sind, sondern weil sie freie Menschen sind und sich aus freien Stücken dafür entschieden haben, seiner Stimme zu folgen: weil sie wissen, dass Jesus sie kennt, weil sie ihn kennen und wissen, dass er sie liebt. Weil sie erfahren haben, dass Gott ihr Leben nicht einengt, sondern dass ihr Leben durch ihn an Qualität gewinnt: dass wahres Leben sich in Zugehörigkeit zu IHM, zu Jesus Christus, entfaltet und an Lebenssouveränität gewinnt.

Heute sieht es manchmal so aus, als ob sich weniger Menschen zur Nachfolge Jesu entscheiden. Schließlich bieten das Leben und der Alltag genug Zerstreuung. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass es nicht daran liegt, dass „geistliche Menschen“ heute seltener geworden sind. Ich glaube auch nicht, dass der Ruf Jesu leiser geworden ist. Aber die Nebengeräusche und Übertöne sind heute lauter. Doch gleich, ob Gott leise mit uns spricht oder in einer ganz besonderen Lebenssituation mit klarem Signalruf: Wir dürfen sicher sein: Es ist immer der liebevolle Gott, der lockt und ruft. Gottes Hirtenliebe hat in Jesus ganz konkrete lebendige Gestalt angenommen.

Und so konnte Jesus von sich sagen: „Ich bin der gute Hirt“ (Joh 10,11). Im damaligen Kulturkreis Jesu wussten die Hörenden, was er meinte: Ihr könnt mir vertrauen, ich zeige euch die Richtung, ich lasse euch nicht allein. Ich schütze euch vor denen, die euch etwas antun wollen. Jesus sagt jedem von uns zu: Du bist einzigartig, ich rufe Dich und sage Dir zugleich zu: Es ist für dich gesorgt, du bist gehalten und geborgen – weil ich dich kenne und deinen Namen in meine Hand geschrieben habe.

Liebe Brüder, liebe Schwestern, wie sieht es mit den Hirten aus, denen in der Nachfolge Jesu die Menschen als Priester in den Kirchengemeinden anvertraut sind? Dazu hält das Dekret über „Dienst und Leben der Priester“ des II. Vaticanum fest: „Ihr Dienst verlangt in ganz besonderer Weise, dass sie sich dieser Welt nicht gleichförmig machen; er fordert aber zugleich, dass sie in dieser Welt mitten unter den Menschen leben, dass sie wie gute Hirten ihre Herde kennen.“ (Presbyterorum ordinis 3).

Papst Franziskus hat diese Unmittelbarkeit, die im Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde, in der ihm eigenen plastisch-bildhaften Sprache den „Geruch der Schafe“ genannt. Den „Geruch der Schafe annehmen“ meint die Unmittelbarkeit, die den Kontakt eines Priesters zu den Menschen prägen soll, die ihm und seinem Wirken vertraut sind: Priester können nicht Zwischenhändler sein oder bloße Verwalter, die Menschen und ihre Wirklichkeit aus der Distanz heraus betrachten. Sondern sie sollen Hirten sein, die ihre eigene Haut und ihr eigenes Herz einsetzen, um sich voll und ganz auf die Menschen einzulassen unter denen und mit denen sie leben.

Wie weit diese Einsatzbereitschaft Gottes für uns Menschen geht, hat uns Jesus durch die Hingabe seines Lebens, seinen Tod, gezeigt. Er hat damit all das, was er in seinem Leben und Handeln, seinen Gleichnissen und seinen Heilungen verkündet hat, endgültig bestätigt. Durch seine Auferstehung von den Toten ist die Gültigkeit seiner Zusage an uns Menschen über den Tod hinaus bekräftigt worden: Der gute Hirte, der uns ruft, schenkt sein Leben über dieses Leben hinaus (Joh 20,28).

Liebe Schwestern und Brüder, Männer, die sich heute entscheiden, Priester werden zu wollen, bringen zumeist unterschiedlichste Voraussetzungen mit. Sie kommen aus verschiedenen Milieus und haben oftmals bereits Berufserfahrungen gesammelt. All dies ergibt ein buntes Bild an Lebenswegen und Berufungen. Eine entscheidende Rolle für jeden Berufungsweg spielt das Vertrautwerden mit Gott, mit seinem Ruf und Auftrag. Die Kirche nimmt die Berufungen an und gibt ihnen im jeweiligen pastoralen Handlungsfeld ihre konkreten Aufgabe.

Selbstverständlich nehme ich auch wahr, dass sich über die Jahre – seit ich selbst als Priesteramtskandidat und später dann als Repetent im Wilhelmsstift war – viele Dinge geändert haben. Männer, die sich entscheiden, Theologie zu studieren, um Priester zu werden – die ins Wilhelmsstift und später ins Priesterseminar gehen – stoßen häufig auf Verwunderung und bisweilen auf Skepsis – allein schon deshalb, weil Sie sich in jungen Jahren, in denen viele ihrer Altersgenossinnen und Altersgenossen nach größtmöglicher Unabhängigkeit streben, auf die besondere Communio-Erfahrung einlassen. Ich wünsche Mut, den Weg zu gehen, auf den Sie sich gerufen wissen.

Liebe Alumnen und Priesteramtskandidaten, wer in der Nachfolge Jesu Christi sich selbst, sein Leben und Wirken in den Dienst der Menschen stellen will, muss gut vorbereitet sein: „Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will, oder nicht“, rät der Apostel Paulus seinem Schüler Timotheus (2 Tim 4,2). Wer sich zu den Menschen senden lassen will, braucht eine profunde wissenschaftliche und pastoralpraktische Ausbildung, eine lebendige Glaubenspraxis und einen reichen Schatz an Lebenserfahrung.

Zeitgenössisch und weltoffen zu sein, heißt die eigenen Augen zu öffnen und Menschen wahrzunehmen, heißt sich den zeitbedingten Kontexten zu stellen, ohne blind dem Zeitgeist zu verfallen oder den eigenen Standpunkt aufzugeben. Dazu bedarf es einer gründlichen theologischen Bildung und Reflexion, für die die Wissenschaft der Theologie notwendig und unverzichtbar ist. Ich danke allen Lehrenden an unserer Katholisch-theologischen Fakultät für die Qualität ihres Lehrens. Zur wissenschaftlichen Qualifizierung bedarf es nicht weniger einer lebendigen Spiritualität und der Herausbildung einer glaubwürdigen christlichen Zeugenschaft, die im pastoralen Handeln sichtbar und erfahrbar ist.

Heute begehen wir den Namenstag des Seligen Pater Rupert Mayer. Rupert Mayer hat hier in Tübingen studiert. Er trat 1898 ins Rottenburger Priesterseminar ein. Ein Jahr später wurde er im Dom zu Rottenburg zum Priester geweiht. „Ich bin aus Liebe zu den Menschen Priester und Jesuit geworden“, sagte Rupert Mayer, als er nach seiner Berufung gefragt wurde. Er konnte auf das bauen, was ihm vom Elternhaus, im Studium und in der Ausbildung zum Priester mitgegeben wurde. Er ließ sich nicht von seinem Weg abbringen, auch wenn die äußeren Umstände im Nationalsozialismus ihm fast keine Wahl zu lassen schienen. In seinem Lieblingsgebet betet er: „Herr, wie du willst, soll mir gescheh’n, und wie du willst, so will ich gehen, hilf deinen Willen nur verstehn.“

Liebe Brüder, liebe Schwestern, Gott sendet uns hinaus in die Weite des Lebens. Als Hirte lässt er uns nicht allein, sondern ist an unserer Seite. Er rüstet uns aus mit seiner Kraft, mit seinem Geist, mit seiner Gnade. Geben wir Gott weiterhin die Gelegenheit dazu.

Amen.

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