Akribische Aufarbeitung und Stärkung der Prävention

Bischof Gebhard Fürst informiert über Missbrauch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart

In einem Pressegespräch hat Bischof Gebhard Fürst heute (17. September) im Stuttgarter Haus der Katholischen Kirche über den Umgang mit Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in seiner Diözese informiert. Dem Bistum sind insgesamt 72 inkardinierte Kleriker (Priester und Diakone in Personalverantwortung der Diözese) bekannt, die des Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt werden. Die im Jahr 2002 von Bischof Fürst eingerichtete „Kommission sexueller Missbrauch“ (KsM) in der Diözese untersucht seit 16 Jahren nach festgelegten Verfahrensregeln jeden Vorwurf. Trotz einer akribischen Aufarbeitung dürfe man mit der Bilanz keinesfalls zufrieden sein. Der Missbrauch an Schutzbefohlenen sei immer auch eine Anfrage an die Strukturen der Kirche, sagte Bischof Fürst. Der Rottenburger Oberhirte entschuldigte sich erneut „mit Scham“ bei den Opfern. 
Er sei noch immer bestürzt über die große Anzahl der Taten und Täter, aber auch über die „Last der Schuld in unserer Kirche“, so Bischof Fürst. Er verwies darauf, dass die Diözese bereits 2002, lange vor Bekanntwerden des Missbrauchsskandals im Jahr 2010, „Regularien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger in der Diözese Rottenburg-Stuttgart“ in Kraft gesetzt habe. Ein Jahr später habe er eine unabhängig arbeitende „Kommission sexueller Missbrauch“ (KsM) eingesetzt, die von einer Person des öffentlichen Lebens geleitet werde. Die vorrangige Aufgabe der KsM, so Bischof Gebhard Fürst sei es seither, Hinweise zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker, Ordensangehörige oder andere Mitarbeiter im kirchlichen Bereich entgegenzunehmen und jeden Hinweis genau zu überprüfen. Am Ende jeder Untersuchung stünden Empfehlungen für den Umgang mit den gemeldeten Fälle. Hierbei gehe es einerseits um Hilfen für die Opfer und zugleich um Maßnahmen den Täter betreffend, erläuterte der Bischof. „Wichtig ist mir zu erwähnen, dass ich der Kommission gegenüber nicht weisungsbefugt bin“, ergänzte Bischof Fürst. Er kenne die Untersuchungs-Akten und sei jeder Bitte eines Opfers um ein Gespräch nachgekommen, sagte er. „Stets aufs Neue ist mir ans Herz gegangen, was den Opfern an unvorstellbarem Leid zugefügt wurde“. 
Seit Einrichtung der KsM im Jahr 2002 beschäftigte diese sich mit insgesamt 146 Vorwürfen Betroffener. 90 der Vorwürfe richten sich gegen 72 Kleriker (Priester und Diakone) in Personalverantwortung der Diözese. Weitere 56 Vorwürfe gegen Ordensgeistliche, Priester anderer oder ausländischer Diözesen sowie gegen Laien. Von den 72 beschuldigten Klerikern sind bereits 45 verstorben. Eine tatsächliche Täterschaft konnte nicht in allen Fällen nachgewiesen werden. In elf Fällen wurde das Ergebnis der Untersuchung an die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom gemeldet, in sieben Fällen war die Staatsanwaltschaft involviert, zwei der Fälle wurden durch die Diözese angezeigt. In zwei Fällen wurden die Kleriker ihres Amtes enthoben. In allen anderen neun Fällen sprach der Bischof Verweise aus, die zum Teil mit einem deutlichen Gehaltsabzug für bis zu fünf Jahre verbunden waren. Für alle Täter und einzelne Beschuldigten wurde mindestens ein psychiatrisches Gutachten angefordert, um die Frage geeigneter Therapiemaßnahmen und die Frage der Weiterbeschäftigung zu klären. 
Bischof Gebhard Fürst versicherte, dass in der Zeit seiner Verantwortung keine Versetzung eines beschuldigten Klerikers in eine andere Diözese erfolgte. „Wenn ein Täter oder Beschuldigter, auch bei verjährter Tat, in eine andere Gemeinde versetzt wurde, wurde der leitende Pfarrer, der Zweite Vorsitzende des Kirchengemeinderats wie auch der Dekan informiert“. In keinem der Fälle habe es sich hierbei um schweren sexuellen Missbrauch im Sinne von Vergewaltigungen oder „Hands-on-Taten“ gehandelt, bestätigte Bischof Fürst. Zum aktuellen Zeitpunkt liegt der KsM ein Fall zur Bearbeitung vor. 
Nach Erfahrung der KsM sei das Gehört-Werden, das Wahrnehmen der Schwere der Belastung und des Leids, für die Betroffenen das Wichtigste, sagte die Vorsitzende der KsM, Dr. Monika Stolz. „Für die Meisten ist es eine große Belastung, über das Geschehene zu reden“. Die Forderung nach einer finanziellen Leistungen sei für die Betroffenen oft zweitrangig, erläuterte Stolz. Bei strafbaren Handlungen strebe die KsM grundsätzlich an, den Vorgang der Staatsanwaltschaft zu melden. Dies könne jedoch nur mit dem Einverständnis der Betroffenen geschehen, so Stolz. Es komme allerdings vor, dass die Betroffenen dies nicht wünschten, weil sie keine erneute - und möglicherweise langwierige Auseinandersetzung - mit dem Geschehenen ertragen wollten oder könnten, sagte die ehemalige Landesministerin und widersprach damit den regelmäßig gegenüber der Kirche formulierten Vorwürfen, Straftaten der Staatsanwalt bewusst vorzuenthalten. 
Selbst die beste Prävention könne sexuellen Missbrauch nicht verhindern, sagte die Leiterin der im Jahr 2012 eingerichteten Stabstelle Prävention, Kinder- und Jugendschutz in der Diözese, Sabine Hesse. Das Sprechen über sexuellen Missbrauch und Prävention sorge aber dafür, dass das von Tätern oder Täterinnen auferlegte Schweigen gebrochen und die Tabuisierung aufgehoben werde. Daher könne auch die Zunahme von Anzeigen ein gutes Zeichen sein, erläuterte die diözesane Präventionsbeauftragte. 
Zwischen 2014 und 2016 wurden bei 40 dezentralen Veranstaltungen in allen 25 Dekanaten insgesamt ca. 1600 pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fortgebildet, darunter alle Priester einschließlich der aktiven Ruhestandsgeistlichen. Verpflichtende Präventionsfortbildungen werden in Kürze im „Bischöflichen Gesetz über Fortbildungen zur Prävention von sexuellem Missbrauch“ festgeschrieben. In den kommenden fünf Jahren sollen demnach ca. 15.000 Beschäftigte und zusätzlich viele tausend Ehrenamtliche nach einheitlichen Standards sensibilisiert werden. Bis zum Jahr 2023 wird die Diözese Rottenburg-Stuttgart für dieses Programm rund 1,2 Mio Euro aufwenden. Die Stabstelle Prävention in der Diözese koordiniert darüber hinaus die Präventionsaktivitäten der selbständigen Träger in der Diözese, eine enge Zusammenarbeit gibt es mit dem Bund Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ), dem Diözesancaritasverband sowie mit der Stiftung Katholische Freie Schule. Diese drei Träger sowie die Frauenorden in der Diözese und der Sportverband DJK waren bereits vor der Einrichtung der Stabstelle in der Präventionsarbeit aktiv. 
In einer ersten Reaktion auf die vergangene Woche in den Medien veröffentlichten Teilergebnisse der Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-Studie) hatte sich Bischof Fürst erschüttert über das Ausmaß des Missbrauchs in der katholischen Kirche gezeigt. Er habe geahnt, welche Dimension die Studie aufdecken würde, dennoch seien die bereits jetzt bekannten Ergebnisse für ihn erschreckend, so der Rottenburger Bischof. Die MHG-Studie soll während der Herbstvollversammlung der katholischen Bischöfe am 25. September in Fulda offiziell vorgestellt werden.

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