Herr Redelstein, Seelsorge braucht Nähe. Wie ist das überhaupt möglich unter den nach wie vor besonderen Schutzvorkehrungen in Kliniken?
Auch unter diesen besonderen Bedingungen ist es gut möglich, als Klinikseelsorger zu arbeiten. Ich habe sowohl in der Zeit des Lockdown als auch jetzt, wo es sich etwas gelockert hat, viel Unterstützung erfahren im Blick auf meine Arbeit, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Klinik haben immer wieder signalisiert, wie wichtig es ist, dass gerade wir als Seelsorger in Kontakt und in Beziehung zu Patienten bleiben. Die Bibelstelle, in der Gott sich vorstellt als der „Ich bin da“, ist für mich in dieser Zeit besonders wichtig geworden. Da sein - das ist die Kernaufgabe von Krankenhausseelsorge und darin sehe ich meinen Grundauftrag, an dem ich mich orientiere.
Während des Lockdown konnten Sie ja nicht einfach von Zimmer zu Zimmer gehen. Wie anders war Ihre Arbeit?
Sie war insofern anders, als es von einem Tag auf den andern besondere Hygienevorschriften gab und auch wir als Klinikseelsorger uns an diese Vorschriften gehalten haben – zum eigenen Schutz und auch zum Schutz der Patienten und der Mitarbeiter. Besonders war es natürlich auf den Covid-19-Stationen, für die ich auch verantwortlich war: Ich habe mich von den Kolleginnen und Kollegen aus der Pflege einweisen lassen und wenn ich in diesen Bereich reingegangen bin, haben sie mir dabei geholfen, mich entsprechend zu kleiden und zu schützen. Dann war es auch möglich, mit den Patienten in Kontakt zu sein.
Welche besonderen Anliegen haben die Patienten derzeit?
Im Klinikum Heidenheim, an dem ich arbeite, darf derzeit ein Besuch pro Tag kommen. Das ist zwar immer noch überschaubar, aber doch eine deutliche Erleichterung für viele Patienten. Während des Lockdown hatten viele Patienten, aber auch Angehörige ihre Bedürfnisse nur sehr reduziert geäußert und fast schon vorschnell akzeptiert, dass es einfach so ist wie es ist. Ich erlebe jetzt, dass das Bedürfnis von Patienten und Angehörigen deutlich gestiegen ist. Es ist wie ein Staudamm, der irgendwie gebrochen ist: Viele Patienten und Angehörige äußern wieder deutlicher und klarer ihre Bedürfnisse und ihren Bedarf nach Seelsorge.
Ist dies nur ein „nachgeholter Bedarf“ oder haben Sie den Eindruck, dass es grundsätzlich ein größeres Bedürfnis nach Seelsorge und Begleitung unter den Vorzeichen von Corona gibt?
Im Moment nehme ich das schon so wahr, dass es ein deutlich höheres Bedürfnis nach Gespräch, Begegnung und Seelsorge gibt. Viele Menschen haben gespürt, wie gefährdet Leben ist. In Zeiten von Krankheit und durch die Pandemie wird das ja nochmal verstärkt und führt dazu, dass Menschen nach Orientierung suchen und dankbar sind, wenn sie Menschen finden, die mit ihnen über diese Themen ins Gespräch kommen.
Wenn keine oder nur wenige Besuche von Angehörigen möglich sind, sind Sie oft der einzige nicht-medizinische Kontakt. Wachsen Ihnen da manche Patienten besonders ans Herz?
Menschen im Krankenhaus sind sehr dankbar, wenn andere Menschen sie besuchen. Wenn das wegfällt, fehlt ein wesentlicher Teil von dem, was sie brauchen. Was besonders war, dass ich mich in dieser Zeit oft als Brückenbauer zwischen Patienten und Angehörigen erlebt habe, die nicht reinkommen durften. Oft habe ich Angehörige angerufen und mit der Erlaubnis der Patienten erzählt, wie es ihnen geht oder gesagt, dass sie bestimmte Dinge brauchen und das dann organisiert. Brückenbauer war ich auch zwischen Patienten und Mitarbeitern und habe versucht, Verständnis zu schaffen für die Bedürfnisse der Patienten. Und ich bin dankbar, dass wir gut ökumenisch zusammenarbeiten und uns so unterstützen und entlasten.
Mit der Eucharistie und der Krankensalbung verfügt die Kirche ja über zwei einzigartige Angebote, die vielfach als Stärkung und Zuspruch Gottes erfahren werden. Wie ist die Spendung dieser Sakramente unter Corona-Bedingungen möglich?
Seit sich die Situation etwas entspannt hat, ist das wieder gut möglich unter Einhaltung der Hygienevorschriften. Ich habe erlebt, dass das Bedürfnis nach Krankensalbung oder nach der Kommunion während der Zeit des Lockdown auch reduziert war und die Menschen vor allem in Kontakt sein wollten. Wenn ich zu Menschen ging, ging es im Wesentlichen darum, dass sie dankbar waren, dass ich da war, dass ich in Beziehung blieb, dass ich ihre Lebenssituation angeschaut und sie begleitet habe. Und Gott sei Dank haben wir in unserer Diözese den Sterbesegen, ein Ritual für Sterbende und Angehörige am Ende des Lebens.
Seelsorge ist besonders gefragt, wenn Angehörige einen verstorbenen Patienten betrauern. Wie hat sich hier die seelsorgliche Begleitung geändert?
Ich habe Sterbende begleitet, sowohl in der Zeit des Lockdown als auch jetzt. Die Beziehung zu den Sterbenden hat sich für mich nicht verändert, weil ich meine Seelsorge tun konnte wie sonst auch. Im Gespräch mit Angehörigen war ich auch hier oft Brückenbauer, habe mit Ärzten und Pflegern abgeklärt, wie es gut gehen kann, dass Angehörige trotz der Vorschriften ins Krankenhaus kommen konnten, oder wie sie in Kontakt bleiben können, auch wenn sie nicht kommen können zu den Sterbenden. Der Kontakt zu den Angehörigen hat sich deutlich verändert und war ein deutlicher Schwerpunkt in der Begleitung von Sterbenden.
Klinikseelsorge ist ja auch für Ärzte und Pflegende da. Wie können Sie dem Klinikpersonal helfen, mit Druck und Belastungen umzugehen?
Die Erwartung der Mitarbeiter war, dass wir „an Bord bleiben“. Oft bin ich auf die Stationen gegangen und habe einfach auch mit den Mitarbeitern einen Kaffee getrunken und gefragt, wie es ihnen geht. Ich bin zu den Frauen an der Zentrale gegangen, die ja ganz viel an Frust abbekommen von Besuchern, die nicht reindürfen, und habe ihnen einfach einen Kaffee hingestellt und mich dazugesetzt. Was für Patienten gilt – da zu sein, Anteil zu nehmen, Wertschätzung auszudrücken –, gilt auch für Mitarbeitende. In Zusammenarbeit mit Verantwortlichen in der Pflege habe ich eine Fortbildung für Pflegende organisiert, in der Erfahrungen aus dem Lockdown zusammengetragen wurden und gefragt wurde, was sie lernen und mitnehmen können für ähnliche Situationen in der Zukunft.
Wie gehen Sie mit der eigenen Angst vor Ansteckung um?
Das ist ein großes Thema. Hier am Krankenhaus ist man täglich damit konfrontiert, wie ansteckend dieser Virus ist. Das empfand ich als eine der ganz großen Herausforderungen, in Verantwortung gegenüber mir selbst, meiner Familie und den Patienten da einen guten Weg zu finden. Wie schütze ich mich, wie gehe ich gut damit um? Meine Frau, die auch Pastoralreferentin ist, war mir in dieser Zeit eine große Hilfe. Viele Fragen haben wir miteinander diskutiert und miteinander überlegt, was gut ist zu tun. Eine renommierte Trauerforscherin sagte, dass das Thema Ansteckungsschuld auch im Nachhinein von Covid ein ganz großes Thema ist.
Wie hat Ihnen in dieser besonderen Zeit persönlich Ihr Glaube geholfen?
Was meinen Glauben angeht, hat sich nichts verändert. Covid ist eine besondere Krankheit, aber mein Glaube und auch mein Erleben von Patienten ist qualitativ nicht anders geworden. Ich habe vorher Menschen in große Krisen und in guten Tagen begleitet und meine Haltung zu diesen Menschen war nicht anders als sie jetzt ist. Auch mein Gottesbild hat sich nicht verändert. Die Grundzusage, dass Gott mitgeht und ich dies als eine Lebenszusage für Menschen in unterschiedlichen Krisen erlebe, das ist gleich geblieben.