Viel Fassade, wenig Inhalt? Nicht nur Kirchenfernen fällt auf, dass die Diskrepanz zwischen „vorne“ und „hinten“ in der Kirche wächst; dass ein guter äußerlicher Zustand der Kirchenbauten immer mehr die Frage nach der Lebendigkeit im Innenraum aufwirft. Mit einer „Gewissenserforschung“, vor allem aber auch mit Ermutigung – Erbauung – und der Einladung, „Schritte christlicher Glaubenslust“ (mit)zugehen, startet deshalb das Dekanat Ehingen–Ulm in das Jahr 2020.
Der Haupt- und Leitvortrag von Dekanatsreferent Wolfgang Steffel gab erste Impulse, sich berechtigter Kritik an zu viel Fassade und Oberflächlichkeit zu stellen, zugleich aber das barocke Stilmittel des schönen Scheins auch in seiner tieferen Bedeutung zu entdecken, nämlich Menschen für das Geheimnis dahinter, für den Glauben zu gewinnen, sie „innerlich aufzuerbauen“, wie Steffel formulierte. Gerade im Wahljahr der Kirchengemeinderäte soll es darum gehen, Fassade nicht als trügerische Vorderseite zu verstehen, sondern als Gesichtsseite. Diese Gesichtsseite seien Männer und Frauen, Junge und Alte, die mit dem eigenen Engagement der Kirche ebenjene(s) Gesicht(er) geben, die die Liebe Gottes zu den Menschen sichtbar werden lasse.
Der Titel des Vortrags „Von der Fassadenkirche zu echter innerer Auferbauung“ war spannend, ja provozierend gewählt, zumal im herrlichen barocken Ambiente des Kapitelsaals des Klosters Wiblingen. Und mit dem amtierenden Papst Franziskus, seinem emeritierten Vorgänger Benedikt XVI. und dem Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) führte der Dekanatsreferent argumentative Schwergewichte gegen eine „Fassadenkirche“ ins Feld. Von einer „bestens organisierten“ katholischen Kirche Deutschlands mit einem „Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist“ und „kirchlichen Routiniers“, deren „Herz vom Glauben nicht berührt“ sei, hatte Benedikt XVI. 2011 in Freiburg gesprochen; eine „Tendenz zu fortschreitender Institutionalisierung der Kirche“, gar eine Art „neuen Pelagianismus“, der dazu führe, auf „den perfekten Apparat“ zu setzen, kritisierte Franziskus 2015 beim Besuch der deutschen Bischöfe in Rom. Und Heidegger stellte in den „Philosophischen Beiträgen“ für seine Zeit fest: Es fehle das Wunder des Fragens und ein Zurückreißen des „Wissens“ in die Besinnung. Dagegen stehe der unablässige Jahrmarkt der bunt wechselnden „Probleme“ und eine trübe Hetzjagd sich selbst auffressender Begebenheiten, die nur noch durch den lautesten Lärm flüchtig sich festhalten lassen. „Ist das nicht eine treffliche Gewissenserforschung für Kirche heute?“ fragte Wolfgang Steffel.
Not-wendig seien Umkehr und Demut und die Wiederentdeckung der Mystik, sagte Steffel in Anlehnung an die evangelische Theologin Eve-Marie Becker und den katholischen Priester und Dichter Ernesto Cardenal. „In der Demut“, so Becker, „leben wir das Evangelium würdig in der Welt.“ Und: „Die in der Gemeinde gelebte Demut führt letztlich dazu, die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen.“ Der nicaraguanische Befreiungstheologe erinnert daran, dass es „im Innern jedes menschlichen Wesens [...] einen Raum [gibt], einen ganz persönlichen Bereich, zu dem nur Gott Zutritt hat“, der aber von den meisten Menschen ignoriert werde. Diesem Raum, dem eigenen Inneren gelte es sich zuzuwenden, „zur großen, einzigen Liebe, die in ihnen pulsiert und atmet“.
Caritasverband
Der Caritas Journalistenpreis 2024 geht an Wolfgang Bauer. Lukas Fleischmann, Ralph Würschinger und Miriam Staber erhalten zweite Preise.
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