„Dieses Jahr hat sehr viel Kraft gekostet. Es kommt mir vor wie die lange Wanderung von Maria und Josef“, erzählt der Ukrainer Egor Parsyak, der seit über 20 Jahren in Stuttgart lebt. Seit Ende Februar unterstützt er ununterbrochen geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer. „Eigentlich müssten wir uns über die Feiertage ausruhen. Wir wollen aber die Geburt Christi auch mit den Menschen feiern, die sonst alleine wären“, erzählt der 42-Jährige, der erst als Erwachsener zum Glauben fand.
„Ich bin in der damaligen Sowjetunion aufgewachsen. Meine Großmutter war Rektorin an einer Schule und mein Großvater war Parteifunktionär. Über Gott und Weihnachten haben wir nie gesprochen“, erinnert sich Egor Parsyak. Als Zwölfjähriger kam er zum ersten Mal mit dem christlichen Glauben in Berührung: Ein Freund hatte das „Vater unser“ in die Schule mitgebracht. „Ich habe das Gebet gelesen und es hat mich sofort berührt.“
Auf der weiteren Suche nach Gott trat er am Ende seiner Schulzeit in eine geistige Bewegung ein, fand dort aber keine Antworten auf seine Fragen. „Ich habe dann theologische Vorlesungen besucht und die Bibel gelesen. Schritt für Schritt habe ich mich dem Christentum angenähert.“
Als er im Jahr 2000 nach Deutschland zog, lernte er Roman Wruszczak, den Pfarrer der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche Stuttgart, kennen. „In der Gemeinde habe ich meine geistige Heimat gefunden“, sagt Egor Parsyak. Dort übernimmt er vielfältige Aufgaben: Er ist Messdiener, unterstützt im Sekretariat, unterrichtet ukrainische Kinder und hat als ehrenamtlicher Seelsorger ein offenes Ohr für die Gemeindemitglieder. „Ich kann mir mein Leben ohne Kirche nicht vorstellen. Dort fühle ich mich absolut zu Hause.“
Weihnachtstraditionen der Familie
Dadurch, dass Egor Parsyak durch sein Elternhaus nicht christlich geprägt war, musste er mit seiner Familie einen eigenen Weg finden, Weihnachten zu feiern. Zunächst wurde Weihnachten ausschließlich am 7. Januar nach dem julianischen Kalender gefeiert. Als seine beiden Söhne jedoch größer wurden, schlug die Familie einen Mittelweg ein: Die Bescherung gibt es bereits am 24. Dezember und zum traditionellen Fastenessen mit zwölf vegetarischen Speisen lädt sie am 6. Januar, dem Heiligabend nach dem julianischen Kalender, ein.
Am Tisch ist immer Platz für Gäste
Dieses Jahr steht Weihnachten auch bei Familie Parsyak, die in der Flüchtlingshilfe sehr aktiv ist, unter einem besonderen Stern. „Wir sind komplett ausgepowert. Mit den letzten Schritten und mit letzter Kraft kommen wir zu diesem Fest. Ich sehne mich nach den Feiertagen und nach der Zeit mit meiner Frau und den beiden Kindern“, berichtet Egor Parsyak. „Unsere Familie ist über mehrere Kontinente zerstreut. In den letzten Jahren haben wir immer Leute eingeladen. Auch dieses Jahr werden wir fragen: Wer feiert allein? Wer feiert mit uns?“, erzählt der 42-Jährige, der – wie viele Ukrainerinnen und Ukrainern – besonderen Wert auf Gastfreundschaft legt. Etwa zehn Menschen werden bei Familie Parsyak am Tisch gemeinsam beten, essen und singen.
„Glaube ist mehr als die Summe von Traditionen“
Für Egor Parsyak ist Glaube mehr als die Summe von Traditionen: „Wir müssen verstehen, dass die Ankunft von Jesus Hoffnung bedeutet.“ Eine Hoffnung, die ihn das ganze Jahr über begleitet. „Im Frühjahr waren wir monatelang zu elft in der Wohnung. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ‚Jesus ist mit diesen Menschen bei uns zu Besuch. Wo können wir sonst Gott so empfangen? Er isst mit uns, er wohnt mit uns, Gott besucht uns durch diese Menschen.‘ Es ist wunderschön und kostet gleichzeitig richtig viel Kraft.“ Und so ist das anstehende Weihnachtsfest für Egor Parsyak auch ein Zeitpunkt, um über sein Leben als Christ tiefer nachzudenken. „Ich habe in diesem Jahr Gottes Nähe besonders gespürt. Ich werde dankend und von tiefstem Herzen Weihnachten feiern.“