Notfallseelsorge

Mit den Menschen aushalten, was unaushaltbar scheint

Ein Notfallseelsorger im Einsatz. Bild: Diözese Rottenburg-Stuttgart / Boris Rademacher

Die Notfallseelsorger aus Baden-Württemberg sind zurück von ihrem Einsatz im Kreis Ahrweiler. Der Schlamm dort birgt noch immer Opfer.

Notfallseelsorger Boris Rademacher blickt nach einem dreitägigen Einsatz im Kreis Ahrweiler zurück auf seine Erlebnisse. Am vergangenen Montag, 2. August, war er einer von 50 Fachkräften für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) der Notfallseelsorge Baden-Württemberg und anderer Hilfsorganisationen, die von Bruchsal aus in Richtung Rheinland-Pfalz aufbrachen, um den Opfern der Flutkatastrophe beizustehen. Am heutigen Donnerstagvormittag wurden die Helfer von einem zweiten PSNV-Team aus Baden-Württemberg abgelöst.

Bereits die Anfahrt war ein Abenteuer

Nach 72 Stunden im Katastrophengebiet sagt Rademacher: „Bereits die Anfahrt war ein Abenteuer, denn die Straße im Tal ist zerstört und so mussten wir über einen Feldweg, der sehr vielen Löcher hatte, fahren. Dieser ging plötzlich in eine asphaltierte Straße über, die steil und kurvenreich ins Tal führte. Wie der Bürgermeister von Mayschoss berichtete, wurde diese Straße am ersten Tag nach der Flutkatastrophe quasi über Nacht für die Hilfskräfte gebaut. Erst damit war ein Zugang zu Mayschoss vorhanden. Vorher musste alles mit Hubschraubern und schwerem Gerät entlang der Ahr gebracht werden.

Ein Platz der Hoffnung inmitten der Katastrophe

Bei einer ersten Erkundung wurde uns schnell klar, dass der Ort übel von der Hochwasserkatastrophe getroffen wurde, und die Schäden immens sind. Aber gleich zu Anfang fanden wir auch einen Platz der Hoffnung und Solidarität, denn die Kirche vor Ort war zu einer Art Sammelstelle oder eher einem Warenhaus für die Bewohner geworden. Dort fand sich alles, von Hygieneartikeln über Kleidung bis hin zu Nahrungsmitteln und in der Sakristei befanden sich eine Apotheke und eine Arztpraxis.

Wie uns die Apothekerin erzählte, war ihre Apotheke zuvor in der Nähe des Flusses und wurde durch die Wassermassen vollständig zerstört. Aber jetzt sei sie in der Sakristei regelrecht wieder auferstanden. Vor der Kirche befand sich eine Essensausgabe für jeden. Freiwillige kochten dort unter primitivsten Bedingungen  ̶̶  in Mayschoss gab es weder Strom noch Wasser  ̶  für die Bewohner und für die Hilfskräfte.

Zwischen Lachen und Weinen, Hoffen und Bangen

In der Sicherheit der Kirche erzählte mir ein Anwohner, wie schnell die Flut stieg. Er wohnte unweit des Flusses und hatte sein Schlafzimmer im ersten Stock. Das Wasser stieg zuletzt bis zur Oberkante des ersten Stocks und er hatte sich auf das Dach geflüchtet. Dort wurde er von einem Hubschrauber in Sicherheit gebracht.

Mit einem Lachen erzählte er mir, wie schwer es war, das Geschirr zum Hochziehen in den Helikopter auf ihn anzupassen. Jetzt wartet er auf den Gutachter, ob sein Haus noch zu retten ist. Die Statiker, die den Ort bereits erkundet haben, seien der Meinung gewesen, dass das Haus abgerissen werden muss. ‚Na, dann werde ich wegziehen‘, waren seine letzten Worte zu dem Thema und ein paar Tränen stiegen ihm in die Augen. Er hatte alles verloren.

Viele wollen den Ort verlassen, nachdem die Häuser abgebrochen sind

In Mayschoss werden zurzeit viele Häuser von Schlamm und Dreck befreit und einige Häuser werden auch abgebrochen, da sie akut einsturzgefährdet sind. Viele der Bewohner sagten uns, dass Sie den Ort verlassen wollen, nachdem die Häuser abgerissen sind.Darüber hinaus hätten nur 40 Prozent der Hauseigentümer eine Gebäudeschutzversicherung, die Hochwasser abdeckt, wie uns der Bürgermeister sagte. Für viele ist es nicht finanzierbar, das Haus zu sanieren oder gar ein neues Haus zu bauen“, berichtet Rademacher.

Und der Rottenburger fährt fort: „Der Schlamm birgt allerdings auch noch Opfer, wie ein Baggerfahrer in der Nähe des Hotels Löchmühle bitter erfahren musste. Er wollte das Haus nur von Schlamm befreien, als er plötzlich eine Leiche in seiner Baggerschaufel hatte. Wir wurden sofort zu dem Einsatzort gerufen, um den Baggerfahrer, den Laster-Fahrer und eine Gruppe jugendlicher Helfer zu betreuen.

 

Ich wusste ja, dass ich jederzeit eine Leiche finden kann,
aber ich hatte gehofft, dass ich davon verschont bleibe.

 

Der Baggerfahrer meinte zu mir: ‚Ich wusste ja, dass ich jederzeit eine Leiche finden kann, aber ich hatte gehofft, dass ich davon verschont bleibe.‘ Es ist schwer, mit dem Anblick und dem Geruch einer gut zehn Tagen alten, in Schlamm begrabenen Leiche umzugehen. Und so betreuten wir drei Notfallseelsorger in den zurückliegenden drei Tagen insgesamt zwölf Personen, die damit konfrontiert wurden. Und noch jetzt sucht die Polizei mit Spürhunden nach weiteren Opfern, denn in jedem noch nicht erkundeten Haus, in jedem Fahrzeugwrack kann noch ein Opfer liegen.“ 

Viele Fragen müssen aufgearbeitet werden, damit die Menschen irgendwann Frieden finden

Olaf Digel, Notfallseelsorger und evangelischer Pfarrer aus Neckarweihingen sowie Leiter des Einsatzkräfte Nachsorge-Teams und Bezirkskoordinator für den Bereich Ludwigsburg, stellt fest: „Ich arbeite seit 20 Jahren als Notfallseelsorger, aber dort gibt es Situationen jenseits alles dessen, was ich schon erlebt habe. Und die schiere Größe des betroffenen Gebiets gibt dieser Katastrophe eine ganz andere Dimension.“

Und er fährt fort: „Ich habe die psychische Verfassung der Menschen als sehr verschieden erlebt. In einer Situation habe ich zum Beispiel ein junges Paar gesehen, das mitten im Schlamm, mitten in der Überflutungszone ein Bäumchen gepflanzt! Andere arbeiten mit dem Mut der Verzweiflung immer weiter. Manche finden wirklich unglaubliche Kraft. Aber vielen geht es auch sehr schlecht, sie erleben tiefe Angst und Ohnmacht – und auch Wut: Mussten meine Angehörigen wirklich sterben? Hätten man nicht früher evakuieren können? Diese Fragen müssen aufgearbeitet werden, damit die Menschen irgendwann Frieden finden.“

Die Fernsehbilder können die Wucht der Zerstörung nicht abbilden

Auch Regina Wacker, Referentin für Notfallseelsorge der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Erzdiözese Freiburg, war mit vor Ort und wurde mit dem Thema „Tod“ konfrontiert und auch sie stellt fest: „Hier sind die immer noch die unglaublichen Auswirkungen des Hochwassers zu sehen und zu spüren: Kein Strom im Haus der Betroffenen bis auf ein Notstromaggregat, das Strom für eine Tischlampe liefert. Weiteres Licht bietet eine Taschenlampe, mehr nicht. Und uns wird klar, dass die Bilder, die wir aus dem Fernsehen kennen, nicht wirklich die Wucht der Zerstörung wiedergeben. Nachdem das verheerende Hochwasser nun drei Wochen zurückliegt, realisieren die Betroffenen so langsam, was ihnen widerfahren ist. Von einem Moment auf den anderen haben viele Menschen einen Angehörigen und ihre Lebensgrundlage verloren. Das gilt es zu verarbeiten. Das braucht Zeit.“

Traumata und Existenzangst

Boris Rademacher berichtet über ein weiteres Erlebnis: „Auf unserem Weg zurück zur Kirche kamen wir an der Winzereigenossenschaft vorbei und dort reinigten Helfer die Flaschen mit Wein, welche das THW aus dem Schlamm im Keller befreien konnte. Die Winzer in Mayschoss haben alle Fässer, Pressen und Gebäude verloren und jetzt ist die Frage, was geschieht mit den Weinreben in den Steillagen oberhalb des Orts. Diese waren nicht von der Flut getroffen und werden weiter gepflegt, denn außer Weinanbau und Tourismus gibt es kein erwähnenswertes Einkommen im Ort.

Doch was tun mit dem Wein im Keller? Was mit der Weinlese? Die Winzer hoffen, dass Winzer aus anderen Regionen ihnen helfen, die Lese einzufahren und zu verarbeiten. Die Flaschen aus dem Keller werden von Freiwilligen geprüft, grob gereinigt und als Hochwasser-Wein gegen eine Spende ausgegeben. So sollen neue Pressen und Abfüllablagen finanziert werden.

Ein Tag später ging meine Kollegin Daniela Janke, zu einer Familie, bei der die Tochter gerade aus einer psychologischen Betreuung in Bonn zurückgekehrt war. Die Tochter wurde von der schnell steigenden Flut im Auto überrascht und wäre beinahe ertrunken. Es werden noch viele Gespräche nötig sein, um ein solch traumatisches Ereignis zumindest teilweise ertragen zu können.“

Zusammenhalt und Engagement sind phänomenal

Und Rademacher zieht eine persönliche Bilanz des Erlebten: „Es wird noch viel Zeit brauchen, bis so etwas wie Normalität in Mayschoss einkehrt. Noch sind THW, Bundeswehr und Feuerwehren aus ganz Deutschland dabei, die größten Schäden zu beheben. Aber die seelischen Schäden werden die Bewohner noch lange begleiten. Aber wie meine Kollegin Danila Jahnke feststellte: ‚Der Zusammenhalt und das Engagement im Dorf sind phänomenal. Und die vielen Helfer. Und dieser Zusammenhalt ist das Wichtige, denn oft bekamen wir von jemandem, der sich Sorgen macht, den Hinweis darauf, ob wir nicht noch mit Person XY sprechen könnten. Viele registrieren erst jetzt, nachdem die gröbsten Aufräumarbeiten zu Ende sind, was Sie verloren haben. Viele haben alles verloren.‘‘

"Es ist gut, dass ihr da seid"

Regina Wacker schließt sich dem Erlebnisbericht von Boris Rademacher an und stellt fest, dass die Notfallseelsorgenden in den zurückliegenden Tagen in den betroffenen Dörfern und bei Bürgerversammlungen mit anwesend gewesen seien und sie dabei mit aushielten, was so unaushaltbar scheint.

Die Helferinnen und Helfer aus Baden-Württemberg hätten für Gespräche mit Notleidenden bereitgestanden und ihren Blick dabei stets auf ihr Gegenüber gerichtet und sich gefragt, was sie oder er gerade jetzt an seelischer Unterstützung braucht. „So hörten wir des Öfteren: ‚Es ist gut, dass Ihr da seid. Wir brauchen Eure Unterstützung. Jetzt und auch in der kommenden Zeit. Ihr müsst einfach da sein‘“, berichtet die Referentin für Notfallseelsorge aus ihren Erfahrungen im Kreis Ahrweiler.

Kontakt für Medienanfragen

Bei Medienanfragen zur Tätigkeit der Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger steht Regina Wacker, Referentin für Notfallseelsorge der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Erzdiözese Freiburg, für Auskünfte bereit. Sie ist erreichbar unter den Telefonnummern 0 72 37 / 27 84 99 und 0 15 20 / 1 65 09 33 sowie via E-Mail an: regina.wacker@seelsorgeamt‑freiburg.de

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