Interview

„Bildung entsteht durch interreligiösen Austausch“

Dr. Albert Biesinger ist emeritierter Professor des Lehrstuhls „Religionspädagogik“ der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und gehört zum Leitungsteam der in Tübingen beheimateten Stiftung „Gottesbeziehung in Familien“. Bild: privat

Der Religionspädagoge Albert Biesinger spricht im Interview über das Filmprojekt „Kleine Menschen große Fragen“ für die Arbeit in Kitas.

Der Tübinger Religionspädagoge Dr. Albert Biesinger hat das multimediale Filmprojekt „Kleine Menschen große Fragen“ mitinitiiert. Im Interview berichtet er, wie damit die dringend notwendige Kompetenz für (inter-)religiöse Bildung in Kindertagesstätten erworben werden kann.

Herr Biesinger, woran hakt es bei der religiösen Bildung in der Praxis der Kindertagesstätten?

Die Herausforderungen haben sich in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft rapide verändert. Religiöse Bildung muss sich darauf innovativ einstellen, sonst verflacht sie und bricht Schritt für Schritt weg.
Dabei haben Kinder große Fragen. Es ist inkompetent, sie damit im Regen stehen zu lassen. Man darf Kinder nicht um den Bildungshorizont Gott betrügen. Sie haben ein Recht auf religiöse Begleitung. Religionspädagogik in der Kita ist genauso wichtig wie in den Schulen. Es besteht Nachholbedarf.

Wie kommen Sie zu dieser Meinung?

Gemeinsam mit meinem evangelischen Kollegen Friedrich Schweitzer habe ich über viele Jahre hinweg an der Universität Tübingen in großen Teams – unterstützt von der Stiftung Ravensburger Verlag – konfessionell-kooperativ durch empirische Befragungen von pädagogischen Fachkräften, Eltern und Kindern in Kindertagesstätten Belege dafür vorlegen können, was dringend ansteht: Pädagogische Fachkräfte brauchen dringend mehr Ermutigung, Unterstützung und Kompetenzen für die religiöse und interreligiöse Bildung von Kindern. Schon in der Ausbildung ist der Erwerb religiöser und interreligiöser Kompetenz unverzichtbar, sonst melden sich die nachwachsenden Generationen von pädagogischen Fachkräften bei diesen Themen innerlich ab: ‚Es ist mir zu kompliziert‘, ‚Ich glaube ja selbst nicht so richtig, wie soll ich dann Kinder religiös begleiten‘ oder: ‚Mein Glaube ist privat‘, könnte es dann heißen.

War dies der Auslöser für das Filmprojekt ‚Kleine Menschen große Fragen‘?

Wir haben nach unseren Forschungen entschieden, die erhobene Ausgangslage nicht zu beklagen, sondern die Probleme und Herausforderungen in diesem großen multimedialen Filmprojekt für die Aus- und Fortbildung innovativ zu bearbeiten. Mit Büchern und Texten allein, sind solche Lernprozesse nicht effektiv genug zu gestalten. Auch in der religiösen Bildung ist Digitalisierung schon längst dran.

Können Sie uns kurz beschreiben, worum es darin geht?

Mit circa fünfminütigen Filmen zu den Themen Tod, Schöpfung und Versöhnung mit Kindern werden alltagsnahe Herausforderungen erschlossen. Kurze Erklärvideos zu Themen wie ‚Recht auf Religion‘, ‚Religionsfreiheit‘, ‚Interreligiös in der Kita‘ oder ‚Beten in der Kita‘ und ‚Religiöse Vielfalt in der Kita‘ bieten ein stabiles Hintergrundwissen. Expertengespräche und Dialoge von Studierenden bringen eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung. Weitere Filme zur Elternbegleitung helfen beispielsweise, Elternabende zu gestalten. Man kann also aus einem differenziert angelegten Fundus situationsorientiert auswählen, weil die Filme themenzentriert entwickelt sind.

Krippenspiele oder Martinsfeiern sorgen regelmäßig für Konfliktstoff in der Zusammenarbeit mit Eltern und innerhalb multireligiöser Kita-Teams. Befasst sich die Clip-Reihe auch damit?

In den Filmen zu interreligiöser Erziehung in der Kita wird St. Martin auch deswegen profiliert bearbeitet, weil vor Ort das Ritual der Mantelteilung immer öfter zu einem Lichterfest degradiert wird ­– es sei muslimischen Kindern religiös nicht zuzumuten, heißt es dann.
Dabei ist dieses Ritual des Teilens und Almosengebens gerade auch für Muslime religiös hochrelevant. Sie sind beim St.-Martinus-Ritual hoch willkommen und meist mit Begeisterung dabei. Auch Krippenspiele als Bibeltheater zu Weihnachten sind bei Kindern sehr beliebt. Interreligiös sind sie gut begründbar:
Die Geburt Jesu an einer Palme wird auch im Koran in der Sure 19 beschrieben. Aus Weihnachten ein Winter- oder Jahreswendefest zu machen, heißt, Kindern zentrales Hintergrundwissen und wichtige Verstehensmöglichkeiten zu entziehen, sie letztlich für dumm zu verkaufen nach dem Motto: Für Kinder tut es ja so auch. Wer in unserer Gesellschaft lebt, sollte sehr wohl wissen, was die Millionen Christinnen und Christen an Weihnachten feiern – auch, wenn man nicht christlich glaubt. Dies gilt analog für das Ramadanfest selbstverständlich auch. Bildung entsteht durch alltagstaugliche interreligiöse Herausforderungen und Austausch und nicht durch Abschleifung der Profile. Die religionsdidaktische Leitlinie ‚Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden‘ hilft auch hier weiter.

Was sind in der Praxis die größten Herausforderungen aus Ihrer Sicht?

Wenn wir weiterhin Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft wollen – ich bin sehr dafür – dann muss eine profilierte religiöse und interreligiöse Bildung in der Alltagspraxis und nicht nur auf dem Papier in den Bildungsplänen gewährleistet sein. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat bereits im Rottenburger Kindergartenplan exzellente Ideen dazu vorgelegt und dem Kitabereich seit einiger Zeit in der Hauptabteilung ‚Schulen‘ eine prominente Bedeutung zugewiesen. Dieses Filmprojekt wird dazu beitragen, dass diese Ideen realisierbar sind – bereits ab der Ausbildung. Auch kommunale oder betriebliche Kindertagesstätten haben oft Nachholbedarf auf diesem Gebiet. Für sie gilt der Bildungs- und Orientierungsplan Baden-Württemberg genauso. Es ist ja unlogisch, dass die ihnen anvertrauten Kinder kein Recht auf Religion haben.

Welche Unterstützung gab es seitens der Diözese Rottenburg-Stuttgart für das Film-Projekt?

Bischof Gebhard Fürst zeigt – wie schon in der Berufsbildung – auch in diesem Bereich der religionspädagogischen Innovation Weitblick. Ihm ist es zu verdanken, dass dieses Großprojekt gemeinsam mit Bischof July und Oberkirchenrat Heckel in der Evangelischen Kirche in Württemberg finanziell überhaupt realisierbar wurde. Ich wüsste nicht, welcher andere katholische Bischof im deutschsprachigen Raum eine solche Entscheidung gefällt hätte. Als früherer Medienbischof war ihm dies ein wichtiges Anliegen. Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte werden es ihm und der Diözese Rottenburg-Stuttgart danken.

Nun sind die Clips verfügbar. Wie erreichen Sie jetzt Ihre Zielgruppe?

Über alle Kanäle der Kita-Organisationen, den Gemeindetag, die Schulämter, die Lehrerinnen und Lehrer in den Ausbildungsstätten und über die sozialen Netzwerke. Die Website www.kleine-menschen-grosse-fragen.de wird ja auch offen gefunden.

Gibt es schon erste Rückmeldungen auf das Projekt?

In Schulen und bei Fortbildungen werden die Filme höchst positiv bewertet. Jüngst habe ich dazu mit großer Resonanz eine Fortbildung in Bozen gestaltet und es gab eine überregionale digitale Fortbildung bei uns. Auch da wurde vielfach hervorgehoben, dass man mit dem Filmprojekt auch bei Elternabenden und in Teams gut weiterkommen könne. Zudem häufen sich die Anfragen aus verschiedenen Regionen. Wir hoffen, dass die Verbreitung und Nutzung zum Erwerb religiöser und interreligiöser Kompetenz zu Ermutigung auf breiter Ebene führt. Pädagogische Fachkräfte, nicht nur in konfessionellen Kitas, haben es dann leichter – Eltern und Kinder auch. Verantwortliche der Träger und pastorale Begleiterinnen und Begleiter der Kitas gewinnen außerdem religionspädagogisch erforschte Innovationen für die Weiterentwicklung ihrer Kitas.

Zum Hintergrund und zur Person:

Albert Biesinger ist emeritierter Religionspädagoge an der Universität Tübingen. Er hat neun Enkelkinder, einige auch im Kita-Alter. Forschungs- und Praxisschwerpunkte seiner Arbeit sind die religiöse Bildung in Familien, die Kitaforschung sowie die berufsorientierte Religionspädagogik. Albert Biesinger ist verheirateter Diakon und Notfallseelsorger und er lebt in Bühl/Baden sowie in Rottenburg am Neckar. Gemeinsam mit Friedrich Schweitzer, Reinhold Boschki und Helga Kohler-Spiegel leitet er die in Tübingen beheimatete Stiftung „Gottesbeziehung in Familien“, welche die Federführung bei der didaktischen Umsetzung des multimedialen Filmprojekts „Kleine Menschen große Fragen“ innehat. Das Gesamtprojekt wurde von Tellux München gemeinsam mit Regisseur und Drehbuchschreiber Johannes Rosenstein entwickelt und produziert.

Unter dem Titel „Kompetent in (inter-)religiöser Bildung in der Kita“ lädt die Stiftung am Montag, 28. November, zu einer digital gestalteten Tagung über das Filmprojekt ein. Weitere Informationen zu der Tagung gibt es ab dem 1. November 2022 online auf: 
www.stigofam.de
www.kleine-menschen-grosse-fragen.de

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