Bischof Dr. Gebhard Fürst: Ansprache bei der Vernissage zur Ausstellung ‚Noch mal leben’ 2009

Stuttgart

Sehr geehrter Herr Dr. Elsner, sehr geehrte Frau Dr. Wodtke-Werner, sehr geehrte Frau Landtagsvizepräsidentin Voss-Schulte, sehr geehrter Herr Staatssekretär Wacker, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Lakotta, sehr geehrter Herr Schels!

Meine ersten Worte sind Worte des Dankes: Dank für diese großartige Ausstellung: „Noch mal leben“. Dank für die überwältigenden Bilder zum Sterben und zum Tod von Menschen. Dank für das ebenso facettenreiche wie auf hohem Niveau organisierte Begleitprogramm, das mehr ist als ein Begleitprogramm. Dank für die tiefgehende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Sterben und mit dem, wohin dieses Sterben führt zum Tod: Dank für dieses in Bildern und Gedanken sich vergegenwärtigende Leben mit dem Tod – und dem „Danach“.

Die Kirchliche Landesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung in Baden-Württemberg hat nicht nur diese Ausstellung organisiert und das Begleitprogramm entwickelt. Sie lädt auch ein zu einer Großzahl von Führungen. Ausdrücklich sind auch türkischsprachige Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Ausstellung eingeladen: die Bilder, Worte und Texte zu Leben und Tod aus unserer gegenwärtigen Kultur zu sehen, zu hören, zu erleben. Dies ist fürwahr ein besonderer Akzent!

Die Ausstellung empfinde ich zugleich als eine bewegende Hommage an die Hospizbewegung in Deutschland. Und eben dieser Bewegung bezeuge ich an dieser Stelle meinen Respekt: Danke für Ihr Engagement, danke im Namen all der Menschen, die die Hospizbewegung betreut und begleitet hat und in Zukunft begleiten wird. Danke, dass Sie dem Sterben und dem Tod nicht ausweichen, vor allem, dass sie auf die Würde des Menschen bis zum letzten Atemzug und über diesen hinaus hinweisen, dass sie die Menschenwürde hochhalten. Die Frauen und Männer der Hospizbewegung geben ihre Zeit und ihre seelische Kraft an Menschen ohne nach dem Nutzen zu fragen. Ihr Einsatz ist unter der alleinigen Perspektive des vorfindlichen Lebens nutzlos, denn dieses Leben ist im Tod am Ende, ihr Einsatz also unter dieser Perspektive nutzlos gewesen. Ich bin mir sicher, wer Sterbende begleitet und wer dem Tod nicht ausweicht gewinnt für das eigene Leben und für das eigene Sterben eine neue Qualität.

Damit sind wir beim Thema der Ausstellung und meiner Einführung:

Hoffnungsvoll Leben: Vom Umgang mit Sterben und Tod

1. Zur Einführung

Meine Damen und Herren! Man könnte sagen: Dass wir sterben müssen, zwingt uns dazu, unserem Leben Sinn zu geben. Auf diese Weise lässt sich eine Annäherung an Sterben und Tod vom Diesseits her versuchen. In gewisser Weise lässt sich sogar sagen, dass Sinn die Betrachtung des Lebens von seinem Ende her ist. Aber was ist dieses Ende? Wie wird das Ende verstanden? Vernichtung? Durchgang? Verwandlung? Tod als Absprung zum ‚da capo’ (abermals, von neuem, wieder) des Lebens? Was sind die Eschata, die letzten Dinge im Tod, mit dem Tod, im „Danach“?

Früher gab es die „ars moriendi“, die Kunst, das Sterben zu lernen. Früher, sagen wir, da war den Menschen anders als heute die Endlichkeit und Unwägbarkeit des Endes bewusst und gegenwärtig - und auch die Bedeutung dieses Endes im Blick auf eine andere Zukunft stand unmittelbar vor Augen: Das Leben leben im Blick auf das ewige Leben nach dem sicheren Tod. - In der Aschermittwochliturgie der katholischen Kirche heißt es bis heute bei der Aschenbestreuung: „Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst!“ Weil mir die ars moriendi für mein Leben und für das Leben derer, für die ich in gewisser Weise Verantwortung trage, bedeutsam ist, habe ich auf meinem Bischofsstab ebendiese Worte in lateinischer Sprache eingravieren lassen: „Memento homo, quia pulvis es.“ „Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst!“ Gedenke Mensch, dass du sterblich bist, sterben wirst.

Heute steht dem Tod all unser Lebenswillen, all unser Lebensbewusstsein entgegen. Wird dieser Lebenswille allein und exklusiv leitend, dann verdrängen wir leicht den Tod und fügen uns und unserer Kultur eine schwere Verwundung zu. An solcher Verwundung kranken wir heute. Der Kontakt mit dem Tod wird so lange und so effizient wie möglich aus dem Leben ausgeschlossen. Da dies nicht wirklich gelingen kann, wird der Tod zu etwas Handhabbarem gemacht, das der eigenen Verfügung untersteht. Wenn er sich schon nicht abschaffen lässt, soll er wenigstens zu unseren Bedingungen eintreten. Dem Selbstdenkertum der Aufklärung folgt in unseren Tagen vielfach das Selbstmachertum in allen Dimensionen unseres Lebens. Wer das Selbstmachen im Sterben und im Tod absolut setzt, scheitert absolut und verwundet vom Ende her sein Leben schon heute. Wenn wir genau hinschauen, sind ‚natürliche’ Berührungsmöglichkeiten mit dem Tod heute kaum gegeben. Viele Erwachsene haben noch nie einen echten Toten gesehen oder das Sterben miterlebt. Abnehmende Erfahrung damit und wachsende Scheu davor bedingen sich gegenseitig. Da Familienmitglieder heute meist in großer Entfernung voneinander leben, wird der Prozess des Sterbens meist nicht mehr unmittelbar wahrgenommen; Angehörige werden von Todesnachrichten häufig überrascht und finden sich sehr hilflos vor.

Kinder haben heute kaum Möglichkeiten, dem Sterben als natürlichem Teil des Lebens zu begegnen. Der Tod wird unsichtbar. Das sicherste Datum des Lebens entschwindet. Das Datum (!), das Gegebensein des Todes verschwindet.

Ein Datum, an dem wir aber nicht, keineswegs und niemals vorbei kommen. An dem wir nicht vorbeikommen können, aber auch nicht wollen dürfen, daran vorbeizukommen, sonst würden wir die Kunst zu sterben nicht lernen. Der ars moriendi entspricht spiegelbildlich die Kunst, leben zu lernen. Immer gehörten in der Tradition ‚carpe diem’ - Ergreife im Heute die Chancen des Lebens - und ars moriendi zusammen. Das heißt, in dem Maße, in dem wir den Tod auszublenden versuchen, nehmen wir unserem Leben und seiner Gestaltung Tiefe und Verantwortung. Wer den Tod ausblendet, verwundet das Leben. Das gilt individuell ebenso wie auf unser Zusammenleben bezogen: Diese Zusammenhänge zu realisieren entscheidet über das Humanum unserer Kultur. Wo das Bewusstsein des Todes bzw. der eigenen Endlichkeit ausgeblendet wird oder fehlt, verliert sich auch das Bedürfnis nach existentiell gestaltetem Lebenssinn, ja verliert sich die Kraft, den Tod wirklich gewissermaßen konstruktiv anzunehmen. Das heißt positiv gewendet: mit dem Blick auf die eigene Endlichkeit, mit dem Bewusstsein von Sterben und Tod als dem sichersten Datum im eigenen Leben lernen wir anders, intensiver zu leben. Im sogenannten Mittelalter gehörte daher das ‚carpe diem’ als Kehrseite zum ‚memento mori’ dazu. Also nutze den Tag und gedenke, dass du sterblich bist. So wirst Du anders leben.

2. Den Tod im Leben annehmen

Die Ausstellung über das Sterben kann, will und soll uns darüber anregen, über solche Fragen nachzudenken oder noch sinnvoller: unser eigenes Sterben, unseren eigenen Tod anzunehmen.

Wie aber kann ich den Tod, den äußersten Gegensatz, zum eigenen Leben annehmen, da der Tod als Tod jenseits meiner Gestaltungskraft liegt? Woher kommt mir die Kraft, ihn: meinen Tod anzunehmen?

Hier entfaltet die christliche Hoffnung ihre Kraft: die Hoffnung über den Tod hinaus. Aber hier beginnt auch die Unterscheidung der Geister. ‚Bei denen, denen es gut geht, ist das Leben oft von vielen anderen Kräften getragen und die ‚Hoffnung’ nimmt darin oft nur noch den Platz einer Verlängerung des Gegenwärtigen ein, ... bis in die Verlängerung über den Tod hinaus in eine Welt, wo das Wohlergehen der Gegenwart bis in Unendliche gesteigert ist.“[1]

Aus christlicher Sicht zielt aber das „Noch mal Leben“ nicht auf diese bloße Verlängerung des irdischen Lebens über den Tod hinaus. Ohne das Bewusstsein „Noch mal neu zu leben“ entsteht die Überzeugung, dass im Tod alles aus ist. Ohne das Bewusstsein um ein „Leben Danach“ - verdichtet sich aber all unsere unendliche Sehnsucht zu leben, all das Streben nach Erfüllung unseres Lebensdursts auf dieses endliche Leben, das nach dem Psalmisten‚ 70 Jahre währt, wenn es hochkommt 80 Jahre’. Dies mein Leben wird zur letzten ausschließlichen Gelegenheit, den unendlichen Durst zu stillen. Der Mensch überfordert das eigene Leben mit seiner begrenzten Spanne durch die Erwartung unendlicher Erfüllung. An dieser Überforderung leiden viele Menschen heute. Erst die Annahme der Spannung zwischen meinem unendlichen Lebensdurst und der mir gewährten endlichen Lebensspanne, - was eine wahre Lebenskunst ist, - erst diese Annahme führt den Menschen zum menschenmöglichen Glück.

Der Dichter Albrecht Goes bringt dieses Dilemma und die Herausforderung, gut damit umzugehen in einem Gedicht wunderbar zur Sprache.

Albrecht Goes, SIEBEN LEBEN

Sieben Leben möchte ich haben:
Eins dem Geiste ganz ergeben,
So dem Zeichen, so der Schrift.
Eins den Wäldern, den Gestirnen
Angelobt, dem großen Schweigen.

Nackt am Meer zu liegen eines,
Jetzt im weißen Schaum der Wellen,
Jetzt im Sand, im Dünengrase.
Eins für Mozart, für die milden,
Für die wilden Spiele eines.

Und für alles Erdenherzleid
Eines ganz, und ich, ich habe –
Sieben Leben möchte ich haben! –
Hab ein einzig Leben nur.

Sie spüren es: Wir befinden uns mitten im Zentrum unserer aller Frage nach dem Tod – und nach dem Leben. Aber diese Thematik wird von Goes so spielerisch wie geschickt ausgebreitet. Uns selbst wird ein Spiegel vorgehalten, welch große Chance wir in unserer geschenkten Lebenszeit nutzen oder auch vertun können. Wir müssen uns entscheiden.

Wie schön wäre es, verschiedene Alternativen leben zu können, wer von uns hätte diesen Traum noch nicht geträumt. Und auf etwas andere Art scheint mir dahinter auch eine Signatur unserer Zeit durchzuscheinen, in der viele Menschen so leben, dass sie nur ja nichts verpassen. Das Leben wird als biologisch begrenzter Zeitraum entdeckt. Und es wird damit buchstäblich zur einzigen und ‚letzten Gelegenheit’[2], wie es ein Buchtitel zum Thema formuliert.

Unsere begrenzte Lebenszeit wird zum Schauplatz möglichst unbegrenzter Anhäufung von Lebenskapital. Welchen Leistungsdruck, welche Erwartungen legen wir damit unserem Leben auf? Denn neben den Tod tritt ein beinah noch ärgerer Widersacher des Lebens: die Angst, etwas zu versäumen. Aber wir geraten damit in eine Sackgasse: die Sehnsucht nach Leben ist unendlich – meine Möglichkeiten sind aber endlich. Wer in der Endlichkeit unendliche Erfüllung sucht, der muss frustriert werden, scheitern.

‚Hab ein einzig Leben nur’: Das ernüchternde Fazit nach all den erträumt-erwünschten Alternativen klingt fast ein wenig resignativ – und ist doch zugleich eine Wendung hinein in den Auftrag, dies eine und einzige Leben und damit auch Sterben und Tod bewusst und verantwortlich anzunehmen und zu gestalten.

‚Bedenke Mensch, dass Du Staub bist, und zum Staub musst du zurück!’ (Gen 3, 19) Fast scheint es mir so, als würden wir damit an die letzte Zeile des Gedichtes anknüpfen und sie eben mit jedem einzelnen unserer Leben weiterschreiben: Ja, ich habe nur ein einziges Leben – und ich nehme es bewusst als Gabe und Aufgabe an. Unsere ängstliche Frage angesichts der von Goes’ Gedicht geschilderten ungeheuren Wahlmöglichkeit für unser Leben erhält eine erste und letzte Antwort, die uns immer schon vorgegeben ist und unser Leben trägt. Als Christen ist uns dafür die Botschaft von der Auferstehung geschenkt. In dieser Botschaft von der Auferstehung des zu Tode gefolterten Gekreuzigten Jesus Christus zu neuem Leben liegt die christliche Hoffnung als Kraft, angesichts der eigenen Endlichkeit wirklich leben zu können. „Die Hoffnung darauf, dass sich Gott gegen alle Hoffnungslosigkeit durchsetzt, dass der Geist seiner Hoffnung auch und gerade dann eine unbändige Kraft entwickelt, wenn mehr Hoffnungslosigkeit als Hoffnung erfahren werden muss, überspringt keine negativen Erfahrungen (auch nicht die Schrecklichkeit des Todes), sondern ist darin wirksam.“[3]

Christliche Hoffnung speist sich aus der Botschaft des Glaubens an den auferstandenen Christus. „Denn wenn Gott Christus nicht auferweckt hat, wenn er die Toten nicht in ein neues Leben hinein rettet, wenn er sich nicht mit seinem Leben gegen den Tod der Menschen behaupten will oder kann, dann ist der Glaube null und nichtig (vgl. 1 Kor 15,14), dann ist auch Gott für die Menschen gestorben.“[4] Das ist der Angelpunkt der Theologie des Paulus.

Die christliche Hoffnung auf das neue Leben hat ihre Ursache im Vertrauen auf einen Gott, dessen unendliches Geheimnis identisch ist mit seiner unendlichen Liebe, die in Jesus Christus unter uns lebendig und wirksam geworden ist. Aus diesem Vertrauen heraus haben Christen Hoffnung.

So ist der Glaube die Begründung unserer Hoffnung auf das „Noch mal leben“ -nicht als da capo, nicht als erneutes Einsteigen ins Lebenskarussell, sondern als durch den Tod hindurch zum neuen, ewigen Leben verwandeltes Leben. Diese Auferstehungsgewissheit ist für Christen nicht nur ein neues Leben nach dem Tod, sondern auch ein anderes Leben vor dem Tod. Die ars moriendi impliziert das carpe diem.

Meine Damen und Herren, so ist nun meine Eröffnung der Ausstellung zugleich eine Einführung in diese Ausstellung über das Sterben und ein christlicher Beitrag zu dieser Thematik geworden: zu Sterben und Tod, wie Christen damit aus ihrem Glauben umgehen – und leben.

Dass diese Ausstellung, die Bilder, die Texte und die Vorträge, solche Beiträge, solches Nachdenken, solche Perspektiven zu leben anregen dafür danke ich nochmals all den hierfür Verantwortlichen. Sie leisten damit einen herausragenden Beitrag für unser aller Leben und Zusammenleben. Gerade solche Beträge zur Existenz sind heute lebensnotwendig, damit wir hoffnungsvoll leben und sterben können.

Ich danke für die Aufmerksamkeit!

 

Anmerkungen:

[1] Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht: Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2009, 12.
[2] Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1993.
[3]
Fuchs a.a.O. 14.
[4] Ebd.

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