Bischof Dr. Gebhard Fürst: Ansprache im Vespergottesdienst, Don Bosco Fest 2002

Obertürkheim, St. Franziskus

Schrifttext: Ez 34, 11f.15f.23f.30f

Liebe Schwestern und Brüder,

bekannt sind die Sätze des 23. Psalms ‚Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen‘. Und bekannt ist auch das Gleichnis vom verlorenen Schaf und dem guten Hirten, das Jesus bei Lukas erzählt. Nirgendwo sonst findet sich aber eine so sorgfältige Beschreibung dessen, was einen Guten Hirten ausmacht wie in der eben gehörten Lesung, die wohl zu den weniger bekannten biblischen Texten gehört. Wenn aber der Prophet Ezechiel im Hirten ein Porträt Gottes unternimmt, Jesus sich selbst zudem nach Johannes (10,11) als den guten Hirten bezeichnet, dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Denn in der Tat: Die Sätze des Propheten entwickeln schon beim Erzählen und Hören eine solche Kraft, dass wir ihnen Glauben schenken, uns in ihnen geborgen fühlen. In ihnen fallen unsere Sehnsüchte und die Verheißung, unsere tiefsten Wünsche und ein prophetischer Ausblick auf ein wunderbares Morgen zusammen. Wer von uns findet sich nicht in der Zustandsbeschreibung wieder, wer hat solche Situation nicht schon kennengelernt, erlebt sie womöglich derzeit: man hat sich verirrt, ist einem Irrtum aufgesessen, einen Irrweg gegangen, droht irre zu werden an Welt und Menschen, an sich selbst und auch an Gott. Man hat sich, wie der Prophet es beschreibt, ‚an all den Orten am dunklen, düsteren Tag zerstreut.‘ Und nun, welch wunderbare Aussicht, gibt Gott die Zusage, selber ‚zu suchen und sich zu kümmern‘. Gott selbst will wie ein Hirt antreten, ‚die Schafe auf die Weide führen und sie ruhen lassen.‘ Ach, was für eine im wahrsten Sinn heilsame Perspektive.

Aber Ezechiel geht dann noch einen wichtigen Schritt weiter, indem er ganz konkret beschreibt, wie dieses Heil sich verwirklichen wird. Denn Heilung hat immer mit konkreten Taten, mit Handeln zu tun. ‚Die verlorengegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten.‘

Ezechiel stellt dann aber eine zweite Variante der Prophetie daneben, eine andere Konkretion, wie das zugesagte Heil Wirklichkeit werden wird. Hier spricht Gott von seinem Hirten David, der in Stellvertretung dies Hirtenamt ausüben wird: ‚Er wird sie weiden, und er wird ihr Hirt sein.‘ Sicher könnten Exegeten jetzt darüber forschen, dass da unterschiedliche Textschichten ziemlich unausgeglichen nebeneinander gestellt wurden. Sei’s drum: Für uns Schafe ist es letztlich einerlei, wenn wir nur wohlbehütet sind. Und wohlbehütet soll hier für wirklich alles stehen, was wir uns unter ‚heilem‘ Leben vorstellen – und woran es uns so oft mangelt.

Liebe Schwestern und Brüder, diese Prophetie des Ezechiel ist in Jesus von Nazareth Wirklichkeit geworden. Wenn Jesus zur Beschreibung des Reich Gottes vom Schaf erzählt, dem der gute Hirt nachgeht und das er wiederfindet, dann schließt er an eben diese Bildebene an. Wenn er dann aber sich selbst als Guten Hirten bezeichnet, schließt er auch an diese zweite Erzählschicht des Propheten an und – bezieht sie auf sich selbst. Jesus präsentiert sich selbst als den angekündigten Stellvertreter Gottes auf Erden und legt den Grund offen, warum die Evangelien für uns Frohe Botschaft sind. In Jesus ist die Verheißung, als verlorenes Schaf gesucht, wiedergefunden und geborgen zu sein, Wirklichkeit geworden. Wenn wir uns nun die Tätigkeitsbeschreibung des Hirten nochmals vor Augen halten und gleichzeitig an die Lebensgeschichte Jesu denken, dann sehen wir: Jesus von Nazareth hat eben das verwirklicht, Jesus hat mit der Zusage Gottes an die Menschen ganz ernst gemacht. Ernst gemacht bis ins Letzte: ‚Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.‘

Und wahrscheinlich nehmen wir verkopft und verschult zu wenig wahr, wie Jesus von Gott und seinem Reich erzählt. Wenn wir ein Gleichnis hören, versuchen wir gleich zu übersetzen und fragen, was wohl gesagt werden soll. Oft übersehen wir dabei das Einfachste: Jesus erzählt vom Reich Gottes nicht in Theorien oder Spekulationen, sondern in Geschichten vom Handeln. Er erzählt vom barmherzigen Vater, der seinem verlorenen, heimkehrenden Sohn nun mit weit offenen Armen entgegengeht, er erzählt vom zerschlagenen Opfer am Wegesrand, das versorgt und gerettet wird. Und er erzählt eben vom verlorenen Schaf, das auch gesucht und gefunden wird. Jesus erzählt vom Reich Gottes in Geschichten vom Handeln. Und Jesus bricht dieses Reich Gottes an, indem er handelt, indem er heilt, indem er zu den Opfern der Geschichte geht, indem er sich auf die Seite der Ausgegrenzten, der Vorverurteilten stellt, indem er die Schwachen stärkt und die Fremden in die Mitte holt.

Heilung hat immer mit konkreten Taten, mit Handeln zu tun. Jesus lebt es vor und ruft uns auf, ihm nachzufolgen und so zu handeln, wie es dem Reich Gottes entspricht. Reich Gottes bricht an, wo wir für den anderen handeln. Wo wir die Blickrichtung radikal wenden und begreifen: Wir sind tagtäglich aufgefordert, in der Nachfolge Jesu unser Leben für die anderen einzusetzen: ‚die Verlorengegangenen suchen, die Vertriebenen zurückbringen, die Verletzten verbinden, die Schwachen kräftigen und auch die Fetten und Starken behüten.‘ (Die letzte Gruppe mag dann noch daran erinnert werden, was ihr Teil in dieser Geschichte Gottes mit den Menschen ist. Ausgegrenzt und bekämpft werden aber auch sie nicht. Auch hier ist Jesus wieder vorbildhaft und besucht gerade den Zöllner.)

Liebe Schwestern und Brüder, ist das für den einen oder die andere ein zu hoher Maßstab? Verheben wir uns nicht und werden durch den Anspruch Jesu an uns eher bedrückt als zum Handeln befreit? Machen wir es uns nicht vorschnell zu leicht und stehlen uns aus der Verantwortung. Ein Blick auf Christenmenschen unserer Glaubensgeschichte zeigt uns, wie Handeln in der Nachfolge Jesu aussehen kann. Lassen wir uns anstiften durch das Zeugnis eines Franz von Assisi, lernen wir aus dem Leben und Handeln eines Don Bosco.

Beide geben jeweils ein Beispiel dafür, wie konsequent und kreativ diese Nachfolge im konkreten Leben gestaltet werden kann. Sie entdeckten eine Lebensweise, die radikal ist, das Leben gründlich verändert, erneuert und dabei keinen Bereich ausläßt. Franziskus und Don Bosco lebten jeder in seiner Zeit erneuertes Menschsein vor, das um Not und Elend keinen Bogen macht, sondern solidarisch und mitleidend Anteil nimmt. Es ist ein neues Leben, das auf Ruhm, Ehre und Titel nichts gibt und auf Menschsein alles. Ein erneuertes Leben, das auch Krankheit oder Behinderung, Leiden, Sterben und Tod nicht ausblenden will, sondern es annimmt, weil es zum Leben dazugehört.

Liebe Schwestern und Brüder, ich wünsche Ihnen und mir selbst solche Erfahrungen des Evangeliums, wie sie Franziskus und Don Bosco gemacht haben, Erfahrungen, die uns Vertrauen geben können, Erfahrungen in einem Leben mit der Zusage: ‚Ihr seid die Schafe, ihr seid die Herde meiner Weide. Ich bin euer Gott.‘ Amen.

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