Bischof Dr. Gebhard Fürst: Ansprache zum 50-jährigen Bestehen des Diözesanarchivs Rottenburg 2010

Rottenburg, Johann-Baptist-Hirscher-Haus

Das Diözesanarchiv als lebendiges Gedächtnis der Ortskirche von Rottenburg-Stuttgart

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Neher, sehr geehrter Herr Professor Hammer, sehr geehrter Herr Generalvikar Dr. Stroppel, sehr geehrter Herr Domkapitular Dr. Scharfenecker, sehr geehrter Herr Dr. Wurster, sehr geehrter Herr Dr. Zimmermann, sehr geehrte Frau Diözesanarchivarin Erbacher, meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: „Man kann in unserer Zeit manchmal den Eindruck gewinnen, dass Geschichte als unnötiger Ballast gesehen wird. Aktualität, und sei sie noch so kurzatmig, ist ‚in’. Auf Fragen nach Tradition, Herkunft und Ursprung glaubt man verzichten und gleichsam am Nullpunkt anfangen zu können. Neues und auf Zukunft Orientiertes allein ist von Interesse; schnelle Veränderung der bestehenden Verhältnisse ist erstrebenswert. Dennoch, wir können uns Geschichtsvergessenheit nicht leisten; die Geschichte ist Quelle unersetzlicher Erfahrungen. Als Gemeinschaft der Glaubenden stehen wir in der Kette derer, die uns vorangegangen sind; ihr Glaube hält auch uns. Und unser Glaube soll den der nächsten Generation mittragen.“
Mit diesen Worten beschrieb mein Vorvorgänger im Amt als Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Dr. Georg Moser, 1979 beim Gründungsakt des Geschichtsvereins die Bedeutung von Tradition und Geschichtsbewusstsein für die Gestaltung von Gegenwart und die Gewinnung der Zukunft. Seine Formulierungen sind heute noch aktuell – ja man müsste heute wohl noch schärfer formulieren!

Meine Damen und Herren! Es ist ein Paradox, dass gerade unsere zukunftsorientierte, nach Perfektion und Vollkommenheit strebende Gesellschaft, die in Hochgeschwindigkeit über die Datenautobahnen rast und über alle Informationen an nahezu jedem Ort zu jeder Zeit verfügen will, allzu oft und leichtfertig die Bedeutung von Geschichte und Tradition unterschätzt. Sie vergisst damit auch den Mut zur bewussten Entdeckung und Wertschätzung von Langsamkeit, die Entschlossenheit und bewusste Entscheidung zu einem ruhigen Blick, der sich Zeit nimmt und auch Zeit gibt - und der auch zurückgeht. Sie vergisst damit jedoch, dass nur der, der sich erinnern kann, der dies bewusst einübt und das Erinnerungsgut auch pflegt, auch fähig bleibt, Zukunft verantwortlich zu gestalten.
Denn nur der wache, interessierte und im besten Sinn tiefschürfende Blick in unsere Geschichte bewahrt uns davor, die Gegenwart, unser Handeln und unsere Maßstäbe für absolut zu erklären - und damit auch die Fähigkeit zu Reflexion, Kritik und Selbstkritik zu verlieren. Die Diagnose des Bielefelder Soziologen Franz-Xaver Kaufmann in seinem Buch „Wie überlebt das Christentum?“ lautet bezogen auf die Katholische Kirche in Deutschland: Neben der Säkularisierung sei seit Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts „ein eklatanter Abbruch religiöser Traditionen in beiden Konfessionen zu beobachten, der auch die Existenz der Kirchen in ihrer bisherigen Verfassung bedroht.“
Gerade in einer Zeit tiefer gesellschaftlicher - auch kirchlicher - Umbrüche ist es elementar notwendig, sich die Erfahrungen und Reichtümer der eigenen Tradition bewusst zu machen. Es geht darum, ganz konkret z.B. die „Glaubens- und Lebensgeschichte unserer Heimat“ (Bischof Moser) zu bewahren und zu erschließen. Hierbei geht es nicht um einen nostalgisch-verklärenden Blick zurück in die Vergangenheit, um aus der Gegenwart zu fliehen. Es geht vielmehr darum, auch durch Kenntnis des Woherkommens das Zukünftige zu gewinnen, und so verantwortlich die Gestaltung der Gegenwart und die Gewinnung der Zukunft übernehmen zu können.

Diese Erfahrungspotenziale liegen auf vielen Ebenen, zum einen sind es Erfahrungen des gelebten Glaubens durch einzelne Personen und Gruppen. Zum anderen sind es aber auch Erfahrungen der Kirche als Institution.
Erfahrungen, die uns in die Zukunft weisen, aber auch Erfahrungen, die uns warnen, Fehler in der Geschichte immer wieder zu begehen.
Gerade in diesem Zusammenhang hat eine Institution wie das Diözesanarchiv eine eigene und in besonderer Weise herausragende Bedeutung. Als Orte der Erinnerung bieten Archive die Möglichkeit einer angemessenen Bewertung des tatsächlichen Geschehens, der erreichten Ergebnisse, aber auch der Unterlassungen und Irrtümer. Die in den Archiven verwahrten historischen Quellen fördern das Bewusstsein und die Kenntnis des kirchlichen Wirkens in der Vergangenheit. Dieses Bewusstsein ist Grundlage für die Weiterentwicklung und Erneuerung der Kirche und ihre Anpassung an veränderte Verhältnisse der Gegenwart. Einer Einrichtung, die die eigene Vergangenheit nicht kennt, wird es schwerlich gelingen, ihre Aufgabe unter den Menschen ihres jeweiligen sozialen, kulturellen und religiösen Umfeldes darzustellen. In diesem Sinne besitzen die Archive, die die Zeugnisse der religiösen Überlieferungen und der pastoralen Praxis aufbewahren, ihre eigene innere Lebenskraft und Gültigkeit. Sie bewahren, öffnen und erschließen die Schätze der Vergangenheit zur Gewinnung von Gegenwart und Zukunft. In seiner Gesamtheit und Vielfalt gibt das über die Jahrhunderte erwachsene und überlieferte Archivgut Zeugnis über das religiöse, weltliche, kulturelle und karitative Wirken der Kirche in der jeweiligen Zeit. Die kirchlichen Archive sind somit Gedächtnis der Kirche und tragen ganz wesentlich bei zur Identifikationsstiftung. Die Kenntnis der Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu verstehen. Aber nur wer die eigene Vergangenheit kennt, kann auch Zukunft gestalten.

Aufgrund der Bedeutung der katholischen Kirche und ihrer Orden für die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte haben kirchliche Archive und Archivalien innerhalb der Archivlandschaft eine hervorgehobene Bedeutung. Machen wir uns bewusst: Es waren kirchliche Archive, die am Anfang der europäischen Archivgeschichte standen.
Bereits seit dem 5. Jahrhundert sammelte die römische Kurie systematisch die für ihre auf Rechtssätzen bestehende Gemeinschaft konstitutiven Dokumente. Klöster und Stifte des Frühen Mittelalters mussten als Herrschafts- und Wirtschaftsgebiete ihre Rechte jederzeit durch Urkunden beweisen, um sie verteidigen und durchsetzen zu können. Die Bischöfe als Träger der kirchlichen Gerichtsbarkeit hatten für die Kontinuität der Rechtsprechung zu sorgen. Infolge dessen entstanden Archive – nicht als planmäßig angelegte Sammlungen historisch bedeutsamer Dokumente, sondern vielmehr mit dem Ziel, Dokumente, die wichtige Rechtsverhältnisse fixieren, sicher aufzubewahren und nachzuweisen. So lässt sich nicht nur das Vatikanische Archiv bis ins Frühmittelalter zurückverfolgen; auch zahlreiche Bistums- und Klosterarchive verfügen über eine ununterbrochene Überlieferung bis ins frühe Mittelalter.
Archive enthielten dabei – und enthalten noch immer – in erster Linie Verwaltungsschriftgut. Ihre ursprüngliche Funktion liegt im Dienst für die eigene Verwaltung. Sie sorgen für die Rechtswahrung und Rechtssicherheit der eigenen Verwaltung und machen zugleich deren Handeln transparent und nachvollziehbar. Archivgut unterscheidet sich dadurch ganz fundamental von anderen Kulturgütern wie Bibliotheks-, Kunst- oder Museumsgut. Das in Archiven verwahrte Schriftgut entsteht vor allem aus der Tätigkeit der Verwaltung im Kontext ihrer Aufgabenerledigung. Dadurch stellt Archivgut das historische Geschehen und das Handeln der Personen unmittelbar, fortlaufend und wachsend dar – und darin liegt auch seine besondere Bedeutung als Hauptquelle für die Geschichtsforschung.
Zudem ist Archivgut – im Unterschied zu Druckerzeugnissen – einmalig und damit auch unwiederbringlich. Aus dem Unikatscharakter des Archivgutes und seiner Bedeutung für die eigene Verwaltung und deren Rechtssicherung ergibt sich die besondere Sorgfalt, die die Kirche für die Sicherung und Bewahrung ihrer Archive aufwendet.

Mit dem Breve „Inter omnes“ von Papst Pius V. begannen im Jahr 1566 die für die Gesamtkirche erlassenen Dekrete zur sicheren Lagerung und zur Verzeichnung der Archive. Grundlegend für die weitere Entwicklung des kirchlichen Archivwesens wurde die Konstitution „Maxima vigilantia“ Papst Benedikts XIII. von 1727, die den Bischöfen, Kapiteln und Ordensoberen in Italien die Einrichtung von Archiven an sicherem Ort auferlegte. Anknüpfend an diese Vorschriften enthielt der Codex Iuris Canonici von 1917 grundsätzliche Regelungen zum Archivwesen, die in ähnlicher Weise in den neuen CIC von 1983 eingeflossen sind: Nach dem Kirchenrecht ist in jeder Kurie die Einrichtung eines Diözesanarchivs vorgeschrieben, in dem die Dokumente und Schriftstücke, die sich auf die geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten der Diözese beziehen, geordnet und sorgfältig verschlossen aufbewahrt werden. Der Bedeutung entsprechend, die historisches Gedächtnis, Erinnerung und Tradition für die Kirche spielen, verpflichtet das Kirchenrecht die Bischöfe, in ihrer Diözese ein historisches Archiv einzurichten, in dem alle Dokumente mit historischer Bedeutung sorgfältig aufbewahrt und systematisch geordnet werden. Die gleiche Sorgfalt ist auch auf die Akten und Dokumente der Pfarreien anzuwenden. Archive sind also eine den Bischöfen kirchenrechtlich auferlegte Pflichtaufgabe; sie sind keine freiwillige Leistung, auf die man in Zeiten knapper Kassen verzichten kann.
Ergänzend zu den allgemeinen Bestimmungen des CIC hat die Deutsche Bischofskonferenz weitere partikularrechtlicher Bestimmungen erlassen. Ihre Rahmenordnungen, Empfehlungen und Richtlinien – allen voran die „Anordnung über die Sicherung und Nutzung der Archive der katholischen Kirche“ – bilden die Arbeitsgrundlage der Archive der katholischen Kirche.
Das gilt in besonderer Weise auch für das Rundschreiben der Päpstlichen Kommission für die Kulturgüter der Kirche, das in deutlicher Weise von der pastoralen Funktion der kirchlichen Archive spricht.
Es geht darin neben der Behandlung ganz praktischer Fragen zur Sicherung, Erschließung und Nutzung von Archivgut darum, in einigen grundsätzlichen, programmatisch-theologischen Reflexionen die pastorale Funktion der kirchlichen Archive darzustellen und so ihre herausragende kulturelle Bedeutung darzustellen.

Die Päpstliche Kommission für die Kulturgüter der Kirche sieht in den Archiven ein kostbares Erbe, das wir von unseren Vorgängern übernommen haben, für das wir Verantwortung tragen und das wir kommenden Generationen erhalten und weitergeben müssen.
Hierfür ist selbstverständlich auch die Unterbringung des Archivguts in klimatisch geeigneten und mit Systemen für Brandschutz und Diebstahlsicherung ausgestatteten Räumen unerlässlich. Diesbezüglich unternimmt die Diözese Rottenburg-Stuttgart derzeit mit dem Erweiterungsbau für das Diözesanarchiv große Anstrengungen und Investitionen. Dies gilt insbesondere für die Errichtung von Magazinräumen, die den archivfachlichen Anforderungen nach heutigem Standard entsprechen.
Besichtigung des Rohbaus des Archivs im Bischöflichen Palais.
Bisher lag das Diözesanarchiv Rottenburg am unteren Ende der räumlichen Unterbringung des Archivs in den Diözesen Deutschlands. Jetzt geht es einen gewaltigen Schritt nach vorne! Lesesaal! Öffentlichkeit!
Doch der Erhalt und die Verwahrung der Archivalien allein genügen nicht. Archive sind kein Selbstzweck! Sie sollen und müssen erst genutzt und ausgewertet werden, um ihre Fruchtbarkeit erweisen zu können.
Um das Archivgut der eigenen Verwaltung, der historischen Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, muss es von entsprechend ausgebildeten Fachkräften durch Inventare erschlossen werden. Das historische Erbe zu bewahren, um es an künftige Generationen weiterzugeben, ist eine verpflichtende Aufgabe für die Kirche, ebenso wie die Aufgabe dieses Erbe für die Geschichtskultur und für die Sendung der Kirche zu erschließen.
Die Sicherung, Pflege und Erschließung des archivarischen Erbes dient dem Dialog der Kirche mit der modernen Gesellschaft. Zu diesem Zweck tritt die Kirche selbst nachdrücklich für eine Öffnung ihrer Archive ein.
Sie sollen im Rahmen der gesetzlich festgelegten Normen hinsichtlich des Daten- und insbesondere der Persönlichkeitsschutzes allen Interessierten zugänglich sein, insbesondere einem weiten Kreis von Gelehrten und das ganz ausdrücklich ohne ideologische oder religiöse Vorbehalte. Im Bewusstsein der Kirche sind die Archive lebendige Orte der Erinnerung. Erst die Nutzung und Auswertung verleiht dem Archivgut Lebenskraft; nur so wird aus Archivalien – aus „Schriftstücken der Erinnerung“ – „lebendiges Kulturgut“. Und dessen Bedeutung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Denn es ist für ein verantwortliches Leben als menschliche Gemeinschaft unverzichtbar. Die jüdische Philosophin Simone Weil (1909 – 1943) gibt in ihren Aufzeichnungen eine sehr gute Umschreibung für die Kultur als ein wesentliches Grundbedürfnis jedes Menschen. Sie schreibt: „Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele... Ein menschliches Wesen hat eine Wurzel durch seine wirkliche, aktive und natürliche Teilhabe an einer Gemeinschaft, die gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Ahnungen des Zukünftigen lebendig erhält. Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, entwurzelt. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.“
Die ‚wirkliche, aktive und natürliche Teilhabe an einer Gemeinschaft, die gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Ahnungen des Zukünftigen lebendig erhält’: Diese Worte passen auch und in spezifischer Weise auf das Diözesanarchiv. Kirchliche Archive können so zu wichtigen Kulturzentren werden und zur pastoralen Sendung der Ortskirche beitragen. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit und ermöglichen es ihr, auch mit kirchenfernen Kreisen in Kontakt zu treten. Unter diesem Aspekt können Archive in gewisser Weise sogar einen Beitrag zur Neuevangelisierung leisten und gewinnen auf ihre Weise Anteil am missionarischen Auftrag der Kirche.
Denn durch die Nutzung der von der Kirche hervorgebrachten Kulturgüter ist es möglich, den Dialog der Christen mit der heutigen Welt weiterzuführen und auszubauen.

Die Erforschung der eigenen Archivbestände, die Erarbeitung und Anregung von Editionen und Publikationen durch den Archivar sowie der enge Kontakt, der Austausch und die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft sind ausdrücklich erwünscht. Für die Katholische Kirche haben Archive – wie alle Kulturgüter der Kirche – neben der kulturellen somit auch eine pastorale Bedeutung. Als Ausdruck des Glaubens und Beitrag zum Dialog der Kirche mit der Welt und der modernen Gesellschaft sind Archive ein Kulturgut von ganz essentieller Bedeutung. Das Diözesanarchiv hält den Weg fest, den die Ortskirche der Diözese Rottenburg-Stuttgart über Jahrhunderte zurückgelegt hat. Da sich das Archiv auch in diesem zentralen Sinn in den Dienst der Bewahrung, Aufbereitung und Bereitstellung von Gütern der Erinnerung stellt, ist seine Bedeutung für Gegenwart und Zukunft von nicht zu überschätzender Dimension. Von daher gilt dem Diözesanarchiv unserer Diözese Rottenburg-Stuttgart zu seinem 50. Jubiläum nicht nur mein verbindlicher Dank und meine herzliche Gratulation. Ihnen gelten auch meine besten Segenswünsche: ad multos annos!

Es gilt das gesprochene Wort

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