Stuttgart
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Arbeitslosigkeit im gegenwärtigen Umfang ist eine der schweren offenen Wunden unserer Gesellschaft, die immer noch größer und schmerzhafter wird. Die ‚Gemeinsame Erklärung’ der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland ‚Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit’ (1997), bezeichnet die Massenarbeitslosigkeit zurecht als „die wohl bedrängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung“ der Gegenwart. Von der Bewältigung dieses Problems hängt die Zukunft der sozialen, der menschlichen Dimension unserer Gesellschaft ab. Ich sage bewusst der menschlichen Dimension, denn ich habe große Sorge, dass uns die Menschen in Arbeitslosigkeit immer mehr und immer lautloser verloren gehen. Ich befürchte, dass immer mehr arbeitslose Menschen aus Scham nicht von ihrer Arbeitslosigkeit sprechen, sondern sich statt dessen abkapseln.
Wer über eine längere Dauer wider Willen arbeitslos ist, hat nicht nur materielle Einbußen zu befürchten. Der Mensch selbst ist betroffen: sein Selbstwertgefühl, seine Lebensfreude, seine sozialen Beziehungen. Arbeitslosigkeit betrifft auf Dauer zudem nicht nur den einzelnen, sondern auch die Familie und das soziale Umfeld, ja die ganze Gesellschaft. Denn wo sich Verbitterung, Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit und Resignation breit machen, da ist auch der soziale Friede gefährdet.
In diesen Tagen hört man zuweilen die These, unser Sozialstaat sei zu teuer. Ich möchte mit Blick auf das gemeinsame Wort der Kirchen deutlich erwidern: letztlich ist nicht der Sozialstaat zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit. Daher muss in unserer Gesellschaft die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit absolute Priorität haben. Angesichts der Sorgen, die sich die Menschen um die Zukunft des Gemeinwesens machen, der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit, der beängstigenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte und der ausstehenden Reformen der sozialen Sicherungssysteme müssen wir mittel- und langfristig "das Soziale neu denken", wie es der Titel des Sozialwortes der beiden Kirchen 1997 formulierte. Mir würde allerdings der Titel „Das Neue sozial denken“ noch besser gefallen.
Neben den vielen Vorschlägen, die hierzu von den politischen Parteien und den Tarifpartnern gemacht worden sind (Verkürzung der Arbeitszeit, Schaffung von mehr Teilzeitarbeitsplätzen, Modernisierung der Volkswirtschaft), möchte ich auf eine Überlegung eingehen, die gemeinsam mit den vielen Arbeitsloseninitiativen auch von den Kirchen im genannten gemeinsamen Wort erhoben wird: Wir brauchen einen öffentlich finanzierten Arbeitsmarkt. Denn es ist in jedem Fall besser, Arbeit zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit.
Auch ein noch so hohes Anspringen der Konjunktur und eine noch so starke Verkürzung der Arbeitszeit werden nicht in der Lage sein, gerade die immer größer werdende Gruppe der Langzeitarbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen. Dies wird nur durch ein sehr vielfältiges arbeitsmarktpolitisches Programm geschehen können, wozu unbedingt auch öffentlich finanzierte Arbeitsplätze gehören. Hierbei muss als Grundrichtung die Linie "Arbeit statt Sozialhilfe" Tendenz sein. Und es ist ja kein Geheimnis, dass viele bitter notwendige Tätigkeiten im Bereich des Umweltschutzes, der städtischen Modernisierung, der Jugend-, Alten- und Sozialarbeit allzu oft liegen bleiben. Die Zustände in der Pflege, in der Betreuung von alten, kranken und behinderten Menschen sind bei uns, in einem der reichsten Länder der Erde oftmals inakzeptabel. Auch kirchliche Einrichtungen sind hier weitgehend an die Vorgaben gebunden und können oft nicht mehr exemplarisch wirksam werden. „Bürgerschaftliches Engagement“ kann ohne Verknüpfung mit Professionalität keine qualitative Sozialarbeit betreiben. Fachleute sehen im Bereich der körperlichen und seelischen Gesundheit einen oder gar den Zukunftsmarkt. Deutschland gilt international immer noch als „Service-Wüste“. Hier böte sich ein Feld für „Einfachsttätigkeiten“, die in der Industrie ein für allemal verloren gingen. Gleiches gilt für die Arbeit im ökologischen Umbau. Von mir angefragte Experten sagen, es gäbe beispielsweise Möglichkeiten in der Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Anlagen zur regenerativen Energiegewinnung; in Wärmedämmung, Energiespar-Technologien; bei der Entwicklung, Produktion und Vermarktung alternativer Antriebe und Verkehrssysteme; bei der Sanierung der Abwasser-Systeme; bei der Landschaftspflege und bei alternativer Landwirtschaft.
Auch hier sind sicherlich noch allzu viele Möglichkeiten überhaupt nicht angedacht worden. Es reicht nicht, bloß dahin zu gehen, wo sowieso schon ein Weg ist, sondern umgekehrt kreativ zu werden: Wo gegangen wird, da entsteht ein Weg. Da wird aktiv und engagiert geschaut, wo neue Möglichkeiten und Wege sind.
Ausdrücklich vorschlagen möchte ich in diesem Zusammenhang auch die nötige Anerkennung und Bezahlung der Erziehungs- und Beziehungsarbeit sowie des bürgerschaftlichen Engagements. Es geht um die gesellschaftliche Anerkennung sowie Ausstattung mit sozialer Anwartschaft oder sogar Honorierung von Haus- und Erziehungsarbeit. Dasselbe gilt auch für bürgerschaftliches Engagement.
Ziel bei solchen Bemühungen wäre dauerhaft auch die Etablierung eines neuen Arbeitsbegriffes: Arbeit ist mehr als Erwerbsarbeit. Die für eine Gesellschaft kostbarste Arbeit, nämlich die Arbeit für und mit Menschen, muss für beide Geschlechter attraktiv gemacht und der Erwerbsarbeit gleich gestellt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, viele von Ihnen wissen es vielleicht: Für bezahlte Familienarbeit gibt es schon eine Fülle an durchkalkulierten und, wie es so kühl heißt, sich rechnenden Modellen. Das Problem liegt offensichtlich darin, dass sie erst staatlich vorfinanziert werden müssen, bis sie sich durch Einsparungen bei Sozialleistungen und Stärkung der Kaufkraft voll amortisieren bzw. sogar rentieren. Einer solchen Vorfinanzierung steht m.E. neben der hohen Staatsverschuldung durchaus mangelnder Mut zu wirklicher Reform und einem Neuentwurf entgegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kann hier und heute nicht Erwartungen wecken, die wir als Katholische Kirche in Württemberg nicht erfüllen können. Aber sie wissen es: Als Diözese sind auch wir auf dem Arbeitsmarkt präsent. Mehr als 20.000 Arbeitsverhältnisse bestehen mit der Diözese. Dazu gehören z. B. in der Seelsorge weit über 1000 Priester, Diakone, Pastoralreferenten/innen und Gemeindereferenten/innen, die 5000 Religionslehrer, die tausenden Erzieherinnen in den kirchlichen Kindergärten, die Pfleger in den Heimen Sozialstationen etc. Dazu gehören zusätzlich die Beschäftigten des Diözesancaritasverbandes in der katholischen Kirche in Württemberg. Zum Bereich des Diözesancaritasverbandes, einschließlich seiner Mitglieder, gehören rund 30.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Voll- und Teilzeit. Die katholische Kirche der Diözese Rottenburg-Stuttgart ist damit mit rund 50.000 Mitarbeitern/innen mit der größte Arbeitgeber in Württemberg.
Der Bischof ist nach katholischen Kirchenverständnis nicht nur der Bischof der 2 Millionen Gläubigen, sondern auch – bei aller relativen Selbstständigkeit vieler kirchlicher Einrichtungen – verantwortlich für diese ca. 50.000 Beschäftigten im sog. Non-profit-Bereich Kirche. Daraus erwächst ihm/mir eine große Verantwortung für diese Menschen, die Arbeitsplätze dieser Beschäftigten zu erhalten. Denn es ist deutlich, dass auch diese Arbeitsplätze durch sinkende Steuereinnahmen und hohe Arbeitslosigkeit bedroht sind. Zudem sind wir auch bemüht, diese Arbeitsplätze menschen- und lebensfreundlich und beispielhaft zu gestalten. So ist vor Kurzem das Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg mit immerhin ca. 400 Arbeitsplätzen durch die Hertie-Stiftung als familienfreundlicher Betrieb ausgezeichnet worden, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, besonders für Frauen.
Kirche hat sich für das Heil der Menschen einzusetzen. Sie hat Notleidenden beizustehen. Wer wider Wille arbeitslos ist – insbesondere noch über eine lange Zeit – ist notleidend. Das Engagement für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen entspricht dem kirchlichen Auftrag. Das Thema Arbeitswelt ist daher auch ein Handlungsziel der Pastoralen Prioritäten „Zeichen setzen in der Zeit“.
Was tut die Diözese Rottenburg-Stuttgart im einzelnen?
1. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart beschäftigt zehn Betriebsseelsorger. Diese suchen Kontakte zu den Menschen in den Betrieben, Verwaltungen, Einrichtungen. Sie arbeiten immer wieder befristet als angelernte Arbeiter in einem Betrieb mit, sind wichtige Ansprechpartner für Betriebs- und Personalräte, beraten in menschlichen und betrieblichen Konflikten, ergreifen Partei für die Beschäftigten bei Betriebsschließungen, Entlassungen und sozialen Auseinandersetzungen, kümmern sich um Erwerbslose.
2. Die katholischen Verbände, insbesondere die katholische Arbeitnehmerschaft, das Kolpingwerk und der Bund der Katholischen Unternehmer kümmern sich in vielfältiger Weise um die Belange der Arbeitswelt und um erwerbslose Menschen.
3. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart engagieren sich in dem uns betreffenden Zusammenhang über 40 Initiativen in unterschiedlicher Trägerschaft. Sie bieten mehr als 1.000 Plätze für Beschäftigung, Qualifizierung und sozialberaterische Begleitung. Sie leisten einen praktischen und unverzichtbaren Beitrag zur Verbesserung der Chancen von Arbeitslosen, kommen jedoch durch die Arbeitsmarktreformen in erhebliche Bedrängnis.
4. Diese Initiativen arbeiten mit den Agenturen für Arbeit und den kommunalen Behörden zusammen. Die Diözese unterstützt und fördert diese kirchlichen Initiativen jährlich mit durchschnittlich 530.000 € aus Mitteln des diözesanen Solidaritätsfonds und des sog. Martinusmantels. Ein beträchtlicher Anteil an diesem Betrag kommt aus Spenden- und Kollektenmitteln. In den letzten Jahren spendeten die Katholiken der Diözese Rottenburg-Stuttgart durchschnittlich 410.000 € pro Jahr für diese Zwecke.
5. Als Bischof besuche ich regelmäßig ausgesuchte Betriebe, um mich vor Ort über die ganz konkreten Probleme der Unternehmen, der Unternehmer, der Arbeiter und der Betriebsräte zu informieren. Dadurch gewinne ich einen vielschichtigen Einblick in die Situation von Unternehmen und der darin tätigen Menschen.
6. Auf ein besonderes Projekt der Arbeitslosigkeit positiv zu begegnen ist das Projekt Koka. Koka ist Kooperationsprojekt von Diözese und Caritas für Beschäftigung und arbeitsmarktpolitische Dienstleitung in der DRS. Ziel von Koka ist es, in den Sozialunternehmen und Bildungseinrichtungen der Diözese Maßnahmeplätze für Arbeitssuchende einzurichten. Hierfür wird derzeit – mit Mitteln aus Martinusmantel – ein Netzwerk von Einrichtungen der Sozialwissenschaft, einem arbeitsmarkpolitischen Dienstleister und den zuständigen öffentlichen Partnern aufgebaut.
Wenn die Kirche selbst eine so große Zahl von Arbeitsplätzen vorhält, sich für Arbeitslose einsetzt, wenn sie versucht, die Arbeitswelt human mitzugestalten und Initiativen ergreift, Arbeitslosigkeit nicht als Verhängnis zu sehen, sondern zu gestalten und hier im Interesse von Humanität mahnt, so springt sie nicht auf ein gesellschaftliches Modethema auf. Sie handelt vielmehr im Auftrag der eigenen Froh-Botschaft zum Heil der Menschen, aus der Kompetenz der katholischen Soziallehre, im Interesse der betroffenen Menschen und für eine humane und zukunftsfähige Kultur unserer Gesellschaft.
Im Gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von 1997 lesen wir: „Suche nach Gerechtigkeit ist eine Bewegung zu denjenigen, die als Arme und Machtlose am Rande des sozialen und wirtschaftlichen Lebens existieren und ihre Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verbessern können. Soziale Gerechtigkeit hat insofern völlig zu Recht den Cha¬rakter der Parteinahme für alle, die auf Unterstützung und Beistand an¬ge¬wiesen sind.“ (112)
Anders ausgedrückt: Das Recht der Menschen auf Teilhabe an den öffentlichen Gütern verlangt stets auch die Perspektive derjenigen einzunehmen, die sich – aus welchen Gründen auch immer - nicht selbst oder als Gruppe einbringen können. Genau das wollen wir heute mit Phantasie, Mut und brennender Geduld auf beispielhafte und hoffentlich anstiftende Weise miteinander tun.