Bischof Dr. Gebhard Fürst: Der unsichtbare Tod und die ‚ars moriendi' 2003

Veröffentlicht in der Zeitschrift Informationen Ausgabe 6/03

Der erlebte Tod ist in seiner Konsequenz die bestürzende Erfahrung eines radikalen Verlustes. Entscheidend ist die Erfahrung der Irreversibilität dieses Verlustes: Wir werden diesen ganz bestimmten Menschen in seinem und unserm Leben niemals mehr wiedersehen.

Allerdings wird die Trauer über den Verlust heute meist nicht mehr öffentlich und langfristig getragen. Die Trauer ist bei uns oft verinnerlicht und privatisiert worden, während sie früher eine Angelegenheit der ganzen Umgebung war, vom ganzen Dorf mitgetragen und auch kontrolliert wurde. Über den zu erleidenden, den eigenen Tod schweigen wir zudem meist. Früher gab es eine "ars moriendi", eine "Kunst des Sterbens" zu lernen. Da war den Menschen anders als heute die Endlichkeit und Unwägbarkeit des Endes bewusst und gegenwärtig - und auch die Bedeutung dieses Endes im Blick auf eine andere Zukunft stand unmittelbar vor Augen. In der Aschermittwochliturgie der katholischen Kirche heißt es bis heute bei der Aschenbestreuung: "Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst!" Weil mir diese ars moriendi für mein Leben bedeutsam ist, habe ich auf meinem Bischofsstab die Worte eingravieren lassen: "Memento homo, quia pulvis es."

Aber gleichzeitig steht all unser Lebenswillen, all unser Lebensbewusstsein dagegen. Das memento mori und das Bedenken der hora nostrae mortis ist selten geworden. Der Kontakt mit dem Tod wird so lange und so effizient wie möglich aus dem Leben ausgeschlossen. Da dies nicht wirklich gelingen kann, wird der Tod zu etwas Handhabbarem gemacht, das der eigenen Verfügung untersteht. Wenn er sich schon nicht abschaffen lässt, soll er wenigstens zu unseren Bedingungen eintreten. Der Ruf nach Euthanasie hat hier eine seiner Wurzeln.

Da die letzte Lebensphase enorm kostenintensiv ist, kann der Ruf nach ‚natürlichem Sterben' auch von finanziellen Interessen geleitet sein.

Zudem soll das Leben heute so perfektioniert werden, dass Einschränkungen aller Art nach Möglichkeit ausgeschlossen sind. Alles, was an den Tod erinnert, wird weggeredet, weggeturnt, weggeatmet, weggeschluckt, weggeschminkt, weggespritzt und weggeschnitten. So zu wirken und auszusehen, dass niemand das wirkliche Alter - die Nähe zum Tod - vermutet, ist ein Ideal unserer Zeit und zugleich Ausdruck und Teil der Tabuisierung des Todes. Wir investieren unglaublich viel, um den Tod zu verdrängen. Da Familienmitglieder heute meist in großer Entfernung voneinander leben, wird der Prozess des Sterbens meist nicht mehr unmittelbar wahrgenommen; Angehörige werden von Todesnachrichten häufig überrascht. Kinder haben heute in der Regel kaum Möglichkeiten, dem Sterben als natürlichem Teil des Lebens zu begegnen.

Der Tod wird unsichtbar. Das sicherste Datum des Lebens entschwindet, verschwindet.

Mit der Verdrängung oder Ausblendung des Todes korrespondiert die Unfähigkeit zu trauern, die sowohl ein gesellschaftliches als auch ein individuelles Phänomen ist. Entgegen ihrer tatsächlichen Bedeutung gilt Trauer allgemein nicht als ‚wertvoll' und unterstützenswert. Trauer ist aber ein lebenswichtiger Mechanismus der Seele, um mit Verlusterfahrungen, die ja unser ganzes Leben prägen, weiterleben zu können.

Wie bei allen wichtigen biografischen Übergängen brauchen Menschen auch in der Trauer Rituale, die das Erleben des Abschieds und des Verlustes gestalten helfen. Im Vollzug geprägter Rituale reihen sich Menschen in die lange Geschichte derer ein, denen dasselbe widerfahren ist, und wissen sich darin gleichsam aufgehoben. Im Ritual wird ein bewährtes Verhaltensmuster angeboten, das den Einzelnen davon entbindet, in einer menschlichen Extremsituation eigenständig angemessene und hilfreiche Verhaltensmuster zu entwickeln. Die von der Tradition angebotenen Rituale (Aufbahrung zu Hause, Trauerbesuche, Totenwache, "Sechswochenamt", schwarze Kleidung...) werden heute von vielen Menschen nicht mehr als stimmig, tragfähig oder hilfreich erlebt. Zugleich wächst aber das Bedürfnis, neue Rituale zu entwickeln bzw. alte neu zu entdecken und zu deuten. Das Bedürfnis Trauer und Verlust rein individuell zu realisieren, kann auch damit zusammenhängen, dass wir unfähig geworden sind, Tod und Sterben auch aus der Hand zu geben und so auch den Toten loszulassen. Statt dessen wird auch hier noch ‚gemacht'! Dem Selbstdenkertum der Aufklärung folgt das Selbstmachertum in allen Dimensionen unseres Lebens in unserer Zeit.

Innerhalb einer Kultur des Todes und der Trauer kommt dem Friedhof nach wie vor besondere Bedeutung zu. Als abgegrenzter Raum macht der Friedhof deutlich, dass die Trennung von den Verstorbenen notwendig ist und auch innerlich vollzogen werden muss. Zugleich bietet der Friedhof aber einen Ort, an dem Trauer gelebt werden kann, an dem die Verbundenheit mit dem Verstorbenen in der Pflege des Grabes Ausdruck findet und an dem Kontakte zu anderen Trauernden entstehen können. Alle, die eine anonyme Bestattung wünschen, mögen bedenken, dass Hinterbliebene einen Ort zur Trauer, zur Bewältigung des Todes, brauchen. Ganz abgesehen davon, dass anonyme Bestattung dazu beiträgt, den Tod unsichtbar zu machen und das Verständnis eines sich im Tod in alles und nichts auflösenden Lebens zu propagieren. Wer sich anonym bestatten lassen möchte, sollte wenigstens wissen, dass dies mit dem christlichen Glaubenswissen um die unsterbliche Personalität des einzigartigen Menschen - eine der Säulen unserer humanen Kultur - nichts zu tun hat.

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