Bischof Dr. Gebhard Fürst: Eine Schicksalswahl - Kommentar zur Wahl des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019

Europa und in ihm die Europäische Union ist zuallererst ein großartiges Friedens- und Werteprojekt, dass aller Begeisterung wert ist. Und für das sich zu kämpfen lohnt. Ganz konkret auch: zu wählen im Sinne der Werte, die Europa ausmachen.

Europa und in ihm die Europäische Union ist zuallererst ein großartiges Friedens- und Werteprojekt, dass aller Begeisterung wert ist. Und für das sich zu kämpfen lohnt. Ganz konkret auch: zu wählen im Sinne der Werte, die Europa ausmachen.

Aus: DRS.GLOBAL, 9. Jahrgang, Ausgabe 2, April 2019

Am 10. Dezember 2018 jährte sich die Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die Vereinten Nationen zum 70. Mal. Ebenfalls 70 Jahre alt wird am 23. Mai das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“. Genau 70 Jahre später, vom 23. bis 26. Mai 2019, wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zum neunten Mal das Europäische Parlament. Diese drei Daten hängen zuinnerst miteinander zusammen, denn bei der Europawahl im Mai steht auf dem Spiel, ob die bedeutendste zivilisationsgeschichtliche Errungenschaft, die verbindliche Formulierung der Menschen- und Freiheitsrechte, in ihrem Ursprungsland, in Europa, bestätigt und gestärkt oder aber beschädigt, geschwächt und der Erosion ausgesetzt wird.

Die Europawahl 2019 ist eine Schicksalswahl. Nach dem Scheitern des Völkerbunds, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit seinen etwa 50 Millionen Toten hat die internationale Völkerfamilie die Würde der menschlichen Person, die Würde jedes einzelnen Menschen und ihrer „gleichen und unveräußerlichen Rechte“ zur „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ erklärt.1 Die Bundesrepublik Deutschland hat sich bei ihrem Wiederaufbau nach dem Nationalsozialismus, diesem unvorstellbaren moralischen,geistigen und kulturellen Bankrott unseres Volkes mit seinen fürchterlichen Verbrechen, diesem Wertekodex angeschlossen und ihn zur Grundlage ihres künftigen gesellschaftlichen Handelns und ihrerpolitischen Verantwortung gemacht.

Aus dem allem zugrundeliegenden Artikel 1 des Grundgesetzes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, der sinngemäß dem Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung entspricht, leiten sich alle anderen grundlegenden Freiheitsrechte ab: der Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit, die Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung, die Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, der Wissenschaft und Kunst, die Gleichheit von Frau und Mann, der Schutz vor Diskriminierung und Ausgrenzung, der Schutz von Ehe und Familie und anderes mehr. Dies entspricht existenziellen Bedürfnissen jedes Menschen, aus denen Rechte mit universellem Anspruch hervorgehen.

Diese Sicht des Menschen und eines „guten Lebens“ und Zusammenlebens ist aus Geist und Tradition Europas entstanden: aus dem biblischen Erbe von Judentum und Christentum und aus dem philosophisch-ethischen Erbe der antiken Philosophie, vor allem der Stoa. Die religiös in seiner Gottebenbildlichkeit begründete und letztlich unfassbare Würde des Menschen ist eine Frucht biblischen Glaubens. Renaissance und Humanismus haben die Bedeutung des menschlichen Subjekts entdeckt, die europäische Aufklärung hat einen menschheitlichen Universalismus und die Autonomie des vernunftbegabten Menschen betont und die demokratischen Regeln des Zusammenlebens entwickelt – leider oft gegen kirchlich-dogmatischen Widerstand, wie wir ehrlich und demütig zugeben müssen. Dies alles ist europäisches Erbe, wobei gerade Europa diesen eigenen Schatz oft schrecklich vergessen und verspielt hat – Kolonialismus und zwei Weltkriege stehen als Beispiele dafür.

Und weltweit, leider auch in Europa und leider auch in Deutschland, scheint dies heute wieder zur Disposition zu stehen. Nationalistische Engstirnigkeit hat Konjunktur. Pressefreiheit wird diffamiert, Illiberalität erhebt Anspruch auf Toleranz, Wahrheit wird in Zeiten von Fake-News und unverhohlener Lüge zur Münze ohne Zahlungswert. Das Recht auf Asyl ist angesichts globaler Flucht und Vertreibungziemlich ausgehöhlt. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nehmen zu. Juden müssen angesichts eines neu erstarkten und öffentlich vertretenen Antisemitismus in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern wieder um ihre Sicherheit fürchten. Religionsfreiheit gerät in die Haft von Fanatismus und Intoleranz. Und eine zunehmende Verrohung in Denken, Sprache und Handeln beschädigt nicht nur die Würde der Opfer, sondern vor allem auch der Urheber.

Eine apokalyptische Sichtweise? Ja und nein. Es gibt Gottseidank sehr, sehr viele Menschen, die anders denken, reden und handeln. Aber es gibt auch genügend Grund zu großer Besorgnis. Deshalb müssen wir dafür werben und aktiv handeln, dass der Geist, der aus Europa heraus erwachsen und zu internationaler Geltung gekommen ist, wieder neue Begeisterung weckt. Europa ist nicht nur die Europäische Union, und diese ist nicht nur ein System von Wirtschafts- und Finanzbeziehungen. Das ist nötig, aber es bewirkt keine innere Identifikation. Europa und in ihm die Europäische Union ist zuallererst ein großartiges Friedens- und Werteprojekt, dass aller Begeisterung wert ist. Und für das sich zu kämpfen lohnt. Ganz konkret auch: zu wählen im Sinne der Werte, die Europa ausmachen.

Mehr als ein Nachtrag

Die Menschenrechte, die der UN-Konvention und dem Grundgesetz vorangestellt sind, sind individuelle Grundrechte, die freilich nicht ohne soziales Miteinander zu verwirklichen sind. Aber wir sind weder nur Individuen noch nur gesellschaftliche Wesen, wir sind auch Teil der Schöpfung und Mitgeschöpfe mit allem Geschaffenen. Unser Verständnis der Grundrechte muss sich erweitern auf ein umfassendes mitgeschöpfliches Grundrechtsverständnis und auf ein entsprechendes persönliches, gesellschaftliches und politisches Handeln. Die Pariser Klimaschutzziele, die Agenda 2030 zu nachhaltigen Entwicklungszielen – auch sie gehören zu einer zukunftsweisenden Werteorientierung. Und auch sie stehen bei der Europawahl zur Entscheidung an.

Gebhard Fürst, Dr. theol., seit 2000 Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart

1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Präambel.

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