Bischof Dr. Gebhard Fürst: Grußwort beim Tag der Katholischen Organisationen und Verbände 2006

Stuttgart, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Sehr geehrter Herr Hellstern, sehr geehrter Herr Dr. Drumm,
sehr geehrte Frau Dr. Utz, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, den können die vielfältigen Probleme, die mit dem Thema Familie zusammenhängen, nicht unberührt lassen. Die Familie wurde in unseren Tagen in tiefgreifende und rasche Wandlungen von Gesellschaft und Kultur hineingezogen. Unsere Zukunft hängt an der Zukunft der Familien! Die Situation, in der sich die Familie heute befindet, weist dabei positive und negative Aspekte auf: Einerseits ist man sich der persönlichen Freiheit mehr bewusst, schenkt der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Ehe, der Förderung der Würde der Frau sowie der Erziehung der Kinder größere Aufmerksamkeit.

Andererseits gibt es Anzeichen einer besorgniserregenden Verkümmerung fundamentaler Werte: eine zweifelhafte Auffassung von Freiheit und gegenseitiger Unabhängigkeit der Eheleute, den merkwürdigen Fall einer Versingelung mitten im Familienverbund, die Einebnung und begriffliche Umdefinition von bis dato eindeutig geprägten Worten. Unter dem Vorwand einer falsch verstandenen Selbstverwirklichung wächst dazu eine "Anti-life-Mentalität", die häufig vor allem auf Kosten der schwächsten Glieder, der geborenen und ungeborenen Kinder, und damit auf Kosten unserer Zukunft geht. Dabei ist jedoch ein interessantes Phänomen zu beobachten: Je mehr die festgefügten Familienstrukturen sich lösen, desto stärker meldet sich die Sehnsucht nach einem überschaubaren Lebensraum in Vertrauen und Liebe. Allen düsteren Prognosen zum Trotz halten 83% in Europa die Familie für wichtig und weitere 14% für ziemlich wichtig. Wir alle - Kinder und Erwachsene - brauchen ein Zuhause, ein Dach überm Kopf und mehr noch über der Seele. Ohne eine solche Behausung droht uns seelische Obdachlosigkeit.
Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner sagt zurecht: "Die Familie ist also nicht am Ende, sondern für das psychische Überleben der Menschen so wichtig wie noch nie".

Aber bevor ich hieran anschließe, möchte ich noch einen zweiten Gedankenstrang einflechten, den man in der aktuellen Diskussion keineswegs vernachlässigen darf: Die Alterstruktur in Deutschland verändert sich dramatisch, die Robert-Bosch-Stiftung überschreibt in einer Studie das eindrucksvolle Schaubild des Bevölkerungsaufbaus mit den Worten: Die Pyramide kippt und wird zur Urne! Was für ein dramatisches Bild, das aber nur die Entwicklung abzu-bilden versucht, die nicht minder dramatisch ist. Denn verändert sich nichts, so droht um das Jahr 2050 der soziale Tod der Gesellschaft. Die Ursache dieser Entwicklung ist nicht nur in der finanziell-strukturellen Benachteilung von Familien begründet. Das gesamtgesellschaftliche Klima ist zu wenig „kinderfreundlich“. Dabei spielen keineswegs nur äußere Bedingungen eine Rolle. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist eine individuelle und vielschichtige Entscheidung. In den meisten Fällen wird sie nicht ein für allemal getroffen, sondern aus der konkreten Lebenssituation heraus. Hier wird einerseits die Grenze überindividueller Einflussnahme erkennbar. Andererseits wird deutlich, dass die Ermutigung zu einem Leben mit Kindern und eine Stärkung von Partnerschaft und Familie eine Herausforderung an alle gesellschaftlichen Kräfte ist. In ihrem zusammenfassenden Wort kommt die genannte Bosch-Studie zur Situation der Familie zum Schluss: „Dass Kinder geboren werden, in der Fürsorge ihrer Eltern und ihrer Umwelt aufwachsen, sich angemessen auf ihr eigenes Erwachsenenleben vorbereiten und so Verantwortung in der Zukunft übernehmen können: Dafür zu sorgen ist die wichtigste Aufgabe eines Landes, das eine Zukunft will.“ So die Bosch-Studie!
Ich möchte hier Worte von Papst Johannes Paul II. aufgreifen, der in einer Predigt 1997 sagte: ‚Durch die Familie ist in der Tat die ganze menschliche Existenz auf die Zukunft hin orientiert. In der Familie kommt der Mensch zur Welt, wächst er auf und kommt er zur Reife.’ (Johannes Paul II.) Dieser Satz ist nicht wahr, weil der Papst ihn sagt, sondern der Papst sagt ihn, weil er wahr ist!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in keinem Lebensbereich erfahren wir die Höhen und Tiefen unseres menschlichen Daseins so intensiv und hautnah wie in der Familie. Vertrauen und Angst, Gesundheit und Krankheit, Streit und Versöhnung werden in den Beziehungen zu Eltern, Kindern, Geschwistern und überhaupt zu den Angehörigen besonders stark erlebt. Die Familie ist der Lernort des Lebens. Hier können soziale Verantwortung und Solidarität wachsen, hier entscheidet sich, ob jemand lebenstüchtig wird und gemeinschaftsfähig. An der Hand ihrer Eltern erfahren die Kinder, dass sie dem Leben trauen dürfen. Sie lernen, Beziehungen aufzunehmen, mit Ängsten umzugehen und Vertrauen zu gewinnen. Wer sich angenommen weiß, der kann "Ja" zu sich selbst sagen und zu anderen, und, das möchte ich hier ausdrücklich betonen, "Ja" sagen auch zu Gott. Dieses Ja zu Gott aber ist ermöglicht durch ein vorgängiges Ja Gottes zum Menschen. Hier liegt eine zentrale Bedeutung des Gottesglaubens für die Zukunftsfähigkeit der Menschen und Gesellschaft.
Bereits das II. Vatikanische Konzil, dessen 40-jährigen Jahrestag wir soeben in zahlreichen Veranstaltungen gewürdigt haben, hatte mit eindringlichen und bis heute gültigen Worten auf diese zentrale Bedeutung der Familie hingewiesen: "Die Familie empfing von Gott die Sendung, Grund und Lebenszelle der Gesellschaft zu sein. Diese Sendung wird sie erfüllen, wenn sie sich in der gegenseitigen Liebe ihrer Glieder und im gemeinsamen Gebet vor Gott als häusliches Heiligtum der Kirche erweist". Im Grunde griffen die Konzilsväter damit auf große Traditionen im jüdisch-christlichen Glauben zurück: Die frühe Kirche ist in den Häusern gewachsen. Hier wurde der Glaube von Generation zu Generation weitergegeben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das heißt nun nicht, dass die Wohnungen wie Kapellen einzurichten sind, oder das Familienleben am Leben im Kloster Maß nehmen sollte. Aber es ist doch klar: Elementare Erfahrungen in der Familie sind oft ausschlaggebend dafür, ob ein Mensch den Weg zum Glauben und zur Kirche findet. Die Familie kann so etwas sein wie die kleinste Form einer Gemeinde. So wird die Familie zum Ort der Erfahrung für christlichen Glauben und christliches Leben. Für christliche Gemeinden sind junge Eltern und Familien damit maßgeblich und zukunftseröffnend.
In der großen Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes’ fanden die Konzilsväter an zentraler Stelle darüber hinaus Formulierungen zur Bedeutung von Ehe und Familie für die Gesellschaft, die in ihrer prophetischen Klarheit bis heute wegweisend sind. Es heißt dort: „Das Wohl der Person sowie der menschlichen und christlichen Gesellschaft ist zuinnerst mit einem Wohlergehen der Ehe- und Familiengemeinschaft verbunden.“ (GS 47) Im lateinischen Original heißt der matte deutsche Begriff Wohl: Salus personae et societatis humanae, und das zeigt, in welche Dimension für das Konzil die Bedeutung von Ehe und Familie hineinreicht. Es geht hierbei um mehr als körperliches oder materielles Wohlergehen, sondern weit darüber hinaus um die Frage des Heils oder Unheils eines Menschen Leben. Für das Konzil ist es unbestritten klar, dass Ehe und Familie wesentlich dazu beitragen können, dass Menschen in ihrem Leben grundsätzliche Erfahrungen heilen, d.h. vor Gott gelingenden Lebens machen können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Kirche sehen wir daher in der Familie die grundlegende Form menschlichen Zusammenlebens. Ehe und Familie sind Keimzelle und primärer Lernort gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens. Um nochmals das Konzil zu zitieren: „Die Familie ist eine Art Schule reich entfalteter Humanität.“ (GS 52)
Ehe und Familie sind die Lebensform, die dem menschlichen Grundbedürfnis nach Annahme, Zuwendung und Geborgenheit in besonderer Weise entspricht. Sie ist deshalb auch der primäre Ort, an dem Mitmenschlichkeit und soziales Verhalten erfahren und eingeübt werden können. Persönlichkeit und Stabilität des Einzelnen wurzeln und reifen vor allem in einem gelingenden familiären Zusammenleben. In ihm erfahren Kinder zuerst und gerade in den ersten Lebensjahren vorbehaltlose Annahme und unbedingte Verlässlichkeit. Solche Kernkompetenzen, die im Leben, Zusammenleben, aber auch in der heutigen Arbeitswelt gefordert sind, werden in den ersten Lebensjahren durch die Beheimatung in einer Familie grundgelegt. Nichts wünschen sich Menschen mehr als die Beheimatung in einem familiären Lebensort.
Die strukturellen Rahmenbedingungen für den Lebensort „Familie“ sind in unserer Gesellschaft aber nach wie vor sehr unzureichend. Familien sind im Grundsatz strukturell und ideell nach wie vor benachteiligt. Trotz des dramatischen Geburtenrückgangs und des starken prozentualen Anstiegs der Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt hat sich bei steigendem Realeinkommen der Beschäftigten die relative materielle Lage der Familien kontinuierlich verschlechtert. Familienpolitik, will sie eine nachhaltige positive Wirkung erzeugen, darf daher künftig weniger Subventionspolitik, sondern muss mehr Strukturpolitik sein. Dabei dürfen aber die weiterhin dringend notwendigen strukturellen Verbesserungen nicht außer acht gelassen werden wie soziale Absicherung, Steuer- und Rentengerechtigkeit, Wohnungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Bereitstellung unterstützender Dienste für Familien. „Familientätigkeit ist keine Schattenwirtschaft, sondern ist und bleibt auch künftig eine wirtschaftlich erhebliche Leistung“, wie Professor Paul Kirchhof treffend feststellt.
Da zwischenzeitlich alle Parteien das Thema ‚Familie’ entdeckt haben, sollten wir unser Augenmerk insbesondere darauf richten, welche ideellen und finanziellen Auswirkungen programmatische Aussagen der Parteien jeweils ganz konkret für die Familien haben. Politische Maßnahmen müssen dabei mit Bemühungen der Wirtschaft und soziokulturell-gesellschaftlichen Überlegungen zusammengehen.
Denn es ist klar: Die Freude an Kindern und die Bereitschaft, Kindern das Leben zu schenken, kann man in Menschen nicht nur mit der Begründung wecken, dass so die Versicherungssysteme saniert werden können. Es geht vielmehr um die Veränderung des Bewusstseins, d.h. es geht um die Voraussetzungen für alles Handeln. Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Neubesinnung auf den Sinngehalt und die Wertschätzung eines Lebens mit Kindern. Denn die Familie sind Werte-, Beziehungs- und Verhaltensgeneratoren ersten Ranges, die es daher entschieden zu fördern gilt. Die Verstärkung der Familienpolitik ist ein Zeichen dafür, dass unser Land und seine Menschen Zukunft wollen. Familien zu stärken ist eine zentrale Option für die Zukunft. Wie es unser Diözesanrat in seiner jüngsten Erklärung zur Familienpolitik formulierte: „Die Gesellschaft lebt von und aus der Familie und nicht die Familie von der Rücksichtnahme der Gesellschaft“.
Wir brauchen daher eine neue familienfreundliche Grundeinstellung und ganz konkrete familienfreundliche Maßnahmen. Dementsprechend müssen wir die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens bewusster von der Familie her, von ihren Belangen und Bedürfnissen her vornehmen. Die Politik muss „von einer bloßen Sozialpolitik für Familien zu einer familienorientierten Politik“ finden, „von einer verkürzenden Subventionspolitik zu einer Politik, die Familien in den Mittelpunkt stellt und stark macht.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Ehe und Familie sind das Zukunftskapital einer Gesellschaft. Sie wurden schon immer von den Kirchen wertgeschätzt. Die Kirche tut dies auch heute, weil es zur Substanz christlicher Kultur und Ethik gehört, aber eben auch, weil Ehe und Familie die Keimzelle der humanen Gesellschaft sind. Kinderfreundlichkeit ist die nachhaltigste und effizienteste Zukunftspolitik. Für die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat die Stärkung der Familie eine klare Priorität. Denn durch den geforderten Perspektivenwechsel zugunsten einer neuen Wertschätzung der Familien weiß sich die Diözese auch selbst in die Pflicht genommen. Denn die Familie ist auch die zentrale Trägerin und ein regelrechter „Biotop“ des kirchlichen Lebens.
Familien zu stärken heißt, dass Familien ihre Belange, Erfahrungen, Kompetenzen und Bedürfnisse in Kirche und Gesellschaft zur Geltung bringen können. Familien stärken heißt, auch in Zeiten des Einsparens die unterstützenden Angebote weiter bereitzustellen: in der Familienpastoral, der Familienbildung, der Familienberatung, der Familienhilfe und Familienerholung. Und nicht zuletzt heißt die Stärkung der Familien, anwaltschaftlich für Familien einzutreten in Gesellschaft, Politik und Kultur. Eine große Aufgabe liegt vor uns und gefordert sind von uns unser Gottesglaube und das gelebte Zeugnis unserer Hoffnung, die Risikobereitschaft, das Ideal des ‚Self-empowerment’ der Wellnessgesellschaft in ein ‚empowerment für Familien’ zu verwandeln.
Auch hier ist dem Konzil nach wie vor zuzustimmen, wenn es heißt: „Die Christen begrüßen zusammen mit allen, welche diese Gemeinschaft hochschätzen, aufrichtig all die verschiedenen Hilfen, mittels derer man heute in der Förderung dieser Gemeinschaft der Liebe und im Schutz des Lebens vorwärtskommt und Gatten und Eltern bei ihrer großen Aufgabe unterstützt werden. Die Christen hoffen von daher auf noch bessere Resultate und suchen dazu beizutragen.“ (GS 47)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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