Bischof Dr. Gebhard Fürst: Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2007

Zugleich erfüllt die Stunde des Sonntagsgottesdienstes Sie und Ihr Leben mit Sinn und Kraft. Der Sonntag ist deshalb von hoher Bedeutung für uns alle. Damit uns dies bewusst bleibt und es der Kultur unserer Gesellschaft nicht verloren geht, schreibe ich Ihnen diesen Hirtenbrief. Zugleich bitte ich Sie, für den Schutz des Sonntags einzutreten. Der Sonntag braucht Schutz, denn er ist in Gefahr, ausgehöhlt zu werden.
Derzeit verbreitet sich eine Mentalität, in der nur wirtschaftliche Gesichtspunkte gelten. Die ökonomische Betrachtungsweise scheint für alles entscheidend. So gerät der Sonntag, an dem die Geschäfte ruhen und so nichts zu verdienen ist, unter Rechtfertigungsdruck: Er droht als gemeinsam gefeierter Ruhetag nachhaltig beschädigt zu werden.
Dass es aber um des Menschen willen diesen Tag der Ruhe geben muss, ist eine zentrale Errungenschaft, die aus der Erfahrung der Menschheitsgeschichte gewachsen ist. Nicht umsonst steht das Gebot, den siebten Tag der Woche als Tag der Ruhe zu begehen und ihn von Arbeit und Geschäften frei zu halten, an herausragenden Stellen der Bibel. Das dritte der Zehn Gebote fordert diesen Tag der Ruhe zum Atemholen für den Menschen und die ganze Schöpfung: ,Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten; am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit du und alle zu Atem kommen.' (vgl. Ex 23,12) Hinter diesem Gottesgebot steht das Wissen um den auf Ruhe, Gemeinschaft und Beziehung angelegten Menschen. Es macht sein Menschsein aus, dass er innehält, um die Wirklichkeit des Lebens tiefer wahrzunehmen.
Die ersten Christen schlossen an diese humane und religiöse Tradition an. Sie legten den Tag der Ruhe und der Gottesverehrung aber vom siebten Tag auf den ersten Tag der Woche. Denn "am ersten Tag der Woche", so steht es in den Evangelien (Mt 28,19 par.), begegneten die Frauen und dann die Jünger dem vom Tode auferstandenen Christus. So ist für Christen von Anfang an der Tag der Ruhe zugleich der Tag der Auferstehung. Die wöchentlichen Eucharistiefeiern der ersten Christen fanden daher am ersten Wochentag statt. So feiern wir bis heute "in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche den ersten Tag der Woche als den Tag, an dem Christus von den Toten auferstanden ist." (Drittes Hochgebet) Das Zweite Vatikanische Konzil schreibt in seiner Konstitution über die Heilige Liturgie: "Deshalb ist der Herrentag der Ur-Feiertag. Der Sonntag ist Fundament und Kern des ganzen liturgischen Jahres." (SC 106) Daher ist es sinnvoll und sinnstiftend, dass wir den Sonntag als ersten Tag der Woche verstehen. Er schließt für Christen die Woche nicht ab, er öffnet sie neu und erschließt uns unser Leben und seinen Sinn.
Liebe Schwestern und Brüder, bei vielen Menschen ist dies heute nicht mehr so. Sie vergessen die Bedeutung des Sonntags, und auch wir Christen tragen zuweilen dazu bei. Ein kleines Beispiel: Oft wünschen wir uns am Freitag ein ,schönes Wochenende'. So drücken wir - unbewusst - schon durch die Wortwahl aus, dass der Sonntag für uns am Ende kommt. Er sollte aber für uns am Anfang stehen. Er ist der erste Tag der Woche, weil er die Gelegenheit ist, die Priorität zu setzen, die uns von Gott her gegeben ist.
Sicher: Einkommen, die Sorge um Verdienstmöglichkeiten, das Arbeits- und Berufsleben gehören zu dem, was unser Leben mitprägt. Der Sonntag aber durchkreuzt die Gesetze des Wochen- und Weltenlaufs. Denn wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um zu leben. Das Leben ist nicht nur Arbeit. Der Mensch geht nicht in dem auf, was er leistet. Was Leben und Würde eines Menschen wert sind, hängt nicht davon ab, welche Rolle im Beruf jemand spielt und welches Einkommen auf dem Gehaltsbogen steht. Die Würde als Mensch und der Wert eines Lebens sind davon unabhängig, sie sind uns von Gott gegeben. Der Sonntag ist ein stetes Denk-Mal im Dahinfließen der Lebenszeit, das uns mahnend unterbricht und erfrischend an diese Wahrheiten erinnert.
Allen, die Kostennutzenerwägungen als Maßstab für Entscheidungen heranziehen, sollte bewusst sein: Der Sonntag ist unbezahlbar! Ihn auszuhöhlen, gar auf ihn zu verzichten, nimmt dem Leben der Menschen mehr, als noch so gute Verkaufszahlen je einbringen können. Der Sonntag ist um des Menschen willen da, weil wir uns gerade da bewusst Zeit für Gottes Sache nehmen. Der Sonntag erinnert uns an das Heilige, den Mehrwert, den unser Leben schon hat, ehe wir zu rechnen anfangen.
Weil es sich beim Sonntag um ein hohes Menschen-, Kultur- und Gemeinschaftsgut handelt, hat ihn auch unsere Verfassung ausdrücklich unter Schutz gestellt. Im Grundgesetz lesen wir: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." (GG, Art. 140) Wenn wir Christen den Schutz des Sonntags einfordern, treten wir also für ein hohes allgemeines Gut mit Verfassungsrang ein, das nicht verhandelbar ist und das keinen Einzelinteressen geopfert werden darf. Der Sonntag als zentrales Traditionsgut der christlichen Religion ist bedeutsam für die humane Gestalt der Gesellschaft. Die Feier des Sonntags hat große Auswirkungen auf die Gestalt des Gemeinwesens, denn er stellt den Menschen als Geschöpf der Liebe Gottes vor. Sonntag ist der Ankerplatz, die verheißungsvolle Möglichkeit, Atem zu holen, den Lebensatem, der von Gott kommt. Der Sonntag ist uns deshalb heilig! Er ist keine beliebige Manövriermasse, die wegen wirtschaftlicher Interessen verschoben oder gar aufgegeben werden kann. Wer den Sonntag und seine Zeit den Gesetzen des Marktes opfert, der gibt Wesentliches von dem auf, was uns erst zu Menschen werden lässt. Wenn wir den Sonntag geringachten, verlieren wir das Gespür dafür, was unser Leben aus dem Einerlei von Verdienst, Konsum und Einkommen heraushebt. Der russische Schriftsteller Solschenizyn schrieb einmal: „Es kann nicht ausbleiben, dass ein Mensch, der selbst nur noch bloßer Alltag ist, an einem immer stärker um sich greifenden Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit leidet.“
Liebe Schwestern und Brüder, wir Christen sind Hüter des Sonntags, wir müssen für den Sonntag und seine Bedeutung aufstehen. Das Kostbare zerbricht leicht, es bedarf unseres Schutzes. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Freiräume, die einen Geschmack für das Unbezahlbare geben, erhalten und gepflegt werden. Ich bitte Sie herzlich um dieses Engagement!
Aber prägen wir vor allem das eigene Leben sonntäglich: Denn durch den Sonntag werden wir gefragt, wie wir mit unserer Lebenszeit umgehen. Nehmen wir uns Zeit für andere, für Familie, für Freunde, für Menschen, die auf uns warten? Nehmen wir uns Zeit für Gott, der uns die Lebenszeit geschenkt hat?
Der Sonntag ist eine heilsame Zeit, in der man sich neu öffnet, eine Zeit, zu erfahren, wozu wir leben, eine Zeit zu danken für all das, was wir schon bekommen haben. Am Sonntag nehmen wir Gottes Liebe bewusst hinein in unser Alltagsleben. Der Sonntag, die Gottesdienste und vor allem die Feier der Eucharistie, laden uns ein, den Blick zu heben, unser Leben mit den Augen des Evangeliums sehen zu lernen und die Liebe Christi als Kraft unseres Lebens zu erfahren. So wird der Sonntag wirklich Tag des Herrn. Wir nehmen uns Zeit für Gott - weil Er längst Zeit für uns hat.
Liebe Schwestern und Brüder, in diesem Sinn wünsche ich Ihnen eine gesegnete Fastenzeit, in der wir uns vorbereiten auf die Feier jenes Osterereignisses, das dem Sonntag und unserem Leben insgesamt seinen Grund und seinen Sinn gibt.

Rottenburg, am 1. Sonntag der Fastenzeit 2007

 

+ Bischof Dr. Gebhard Fürst

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