Bischof Dr. Gebhard Fürst: Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2016

Immer wieder werden der Kirche Menschen geschenkt, die durch ihr Leben und Wirken Zeugnis ablegen von der Barmherzigkeit Gottes. Einer von ihnen ist unser Diözesanpatron, der heilige Martin. Deshalb fügt es sich besonders gut, dass das Heilige Jahr der Barmherzigkeit in das große Jubiläum unseres Diözesanpatrons fällt.

Leben teilen – Gott begegnen

Martinsjahr im Martinsland

Liebe Schwestern und Brüder in der Diözese Rottenburg-Stuttgart!

Dieses Jahr feiert die Diözese Rottenburg- Stuttgart den 1700. Geburtstag des heiligen Martin von Tours. Deshalb widme ich meinen Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit in diesem Jahr dem heiligen Martin. 2016 ist das Fest- und Gedenkjahr unseres Diözesanpatrons. Unter dem Leitwort „Leben teilen – Gott begegnen: Martinsjahr im Martinsland“ werden wir an vielen Orten an den heiligen Martin erinnern. Wir werden uns in besonderer Weise vergegenwärtigen, aus welchem Geist er Kraft schöpfte, lebte und wirkte. Als Martinsdiözese lassen wir uns von ihm anregen. Wir wollen uns anstecken lassen von seiner hingebenden Liebe.

I.

Das Bild vom heiligen Martin, das wir alle kennen, das ist vor allem das Bild der Mantelteilung. Jedes Jahr am 11. November, am Gedenktag des Heiligen, wird die berühmte Szene in unseren Kirchengemeinden nachgespielt. Der heilige Martin teilte mit dem Bettler den Mantel. Indem er so die Distanz zum frierenden Bettler überbrückte, trat er – zunächst wohl ganz unbewusst – in die Nähe zu Jesus Christus. In der bedürftigen und erbarmungswürdigen Gestalt des Bettlers durfte Martin Jesus Christus erkennen. Und so begegnet Martin im notleidenden Bettler letztlich Jesus Christus selbst. Durch die Mantelteilung wird deutlich: Gott wird nicht in Luxus und Erfolg erfahrbar.

Sein Ruf als wohltätiger Nachfolger Christi verbreitete sich schnell in ganz Europa. Und schon bald wurde Martin als Heiliger verehrt. Bis heute ist uns Martin ein lebendiges Vorbild darin, nicht nachzulassen in dem Bemühen, für die Armen und Notleidenden da zu sein. Er ist uns Ansporn darin, zu teilen, was uns gegeben ist, und so im Geist und Sinne Jesu Christi zu leben und ihm selbst, ja, Gott zu begegnen.

II.

Der heilige Martin ist ein bedeutender Zeuge der barmherzigen Liebe, die uns in den Worten, Gleichnissen und Taten Jesu immer wieder begegnet. Indem er den Mantel in zwei gleiche Teile teilt, erkennt Martin: Jedem Menschen ist die gleiche Würde geschenkt – unabhängig von Herkunft, Milieu und individuellen Unterschieden. Damit wird deutlich: Als Geschöpf Gottes besitzt jeder Mensch die gleiche Würde: die uns alle verbindende gottgegebene Menschenwürde.

Martin lebte und wirkte in leiblicher Weise die Werke der Barmherzigkeit, die Jesus selbst im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums nennt (Mt 25,31–40): Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde und Obdachlose aufnehmen und beherbergen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und die Toten würdig begraben – sich barmherzig gegenüber denen zeigen, die in Not und Elend leben.

All diese Werke der Barmherzigkeit gehören auf den Weg menschlicher Solidarität. Ihren speziellen Charakter erhalten sie aber durch die zentrale Aussage, die Jesus selbst den Taten der Barmherzigkeit hinzufügt: „Das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40). Denn Jesus selbst hat sich mit denen identifiziert und hat mitgelitten mit denen, die hungern, dürsten, arm und ohne Obdach sind, die krank sind und frieren – innerlich wie äußerlich. Der Geist des heiligen Martin lebt in den Tafelläden ebenso wie in den Vesperkirchen; durch Kleiderspenden und in den Kleiderkammern; in unseren Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen und ambulanten Diensten, in Obdachlosenheimen ebenso wie in Flüchtlingsunterkünften. Allerorts finden sich in unserer Diözese Orte und Einrichtungen der Barmherzigkeit.

III.

Papst Franziskus hat für das Jahr 2016 das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen.

„Gottes Barmherzigkeit ist keine abstrakte Idee […]. – Sie ist das pulsierende Herz des Evangeliums“, schreibt Papst Franziskus in seinem Brief zum außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit: „Gottes Barmherzigkeit ist eine konkrete Wirklichkeit, durch die Er seine Liebe als die Liebe eines Vaters und einer Mutter offenbart, denen ihr Kind zutiefst am Herzen liegt“, so Franziskus. Seit Advent sind in der Konkathedrale St. Eberhard in Stuttgart und in 36 weiteren Kirchen und Klöstern unserer Diözese die Pforten der Barmherzigkeit geöffnet. Die offenen Türen sollen uns allen zeigen: Hier können die Menschen, die Gläubigen, Trost und Zuversicht gewinnen. Hier können sie sich als geliebte Töchter und als geliebte Söhne des barmherzigen Vaters angenommen wissen (vgl. Lk 15,11–32). Hier können sie spüren, dass Gott ein verzeihender, gnädiger Gott ist.

Immer wieder werden der Kirche Menschen geschenkt, die durch ihr Leben und Wirken Zeugnis ablegen von der Barmherzigkeit Gottes. Es genügt, einen Augenblick innezuhalten, um zu verstehen, dass solche Menschen gegenüber dem Nächsten barmherzig geworden sind, weil sie sich selbst von der unendlichen Liebe Gottes durchdringen ließen, ja, sich von der göttlichen Barmherzigkeit umfangen wussten. Einer von ihnen ist unser Diözesanpatron, der heilige Martin. Deshalb fügt es sich besonders gut, dass das Heilige Jahr der Barmherzigkeit in das große Jubiläum unseres Diözesanpatrons fällt.

IV.

Von Martins Lebensweg wissen wir weiter, dass Martin im Jahr 316/317 in der Stadt Szombathely, die im heutigen Ungarn liegt, geboren wurde. Seine Grablege befindet sich in Tours in Frankreich. Durch seine Herkunft, aber auch als Missionar, Klostergründer und Botschafter des Friedens steht der heilige Martin für ein Europa, das vom christlichen Geist durchdrungen wird. Seine Bescheidenheit, die er als Mönch in Askese übte, ermöglichte ihm ein Handeln ohne persönliche Vorteilnahme.

Martin steht mit seinem gesamten Leben seit Jahrhunderten für die Kultur christlicher Nächstenliebe in Europa. Gerade die christlichen Wurzeln bedeuten ein großes Zukunftsgut für Europa.

Heute müssen wir bitter erfahren, dass ein Europa, das sich nicht auf gemeinsame Werte beruft, ein leeres Gerüst ist. Zieht jeder Staat nur sein eigenes Wohl als Maßstab heran, ist der europäische Gedanke zum Scheitern verurteilt. Deshalb hat schon Jaques Delors, von 1985 bis 1994 Präsident der Europäischen Union, eine Rückbesinnung auf die christlichen Grundwerte mit ihrer eindeutigen Option für die Schwachen und gegen eine Gesellschaft des Egoismus gefordert.

V.

Im Jahr 2005 hat der Europarat den Martinusweg, die „Via Sancti Martini“, in die Liste der europäischen Kulturwege aufgenommen und somit das Zeichen gesetzt: Martin ist ein europäischer Heiliger; er ist ein Wegweiser für Europa.

Besonders freut es mich deshalb, dass der Martinsweg, der den Geburtsort des heiligen Martin in Ungarn mit seiner Grablege im französischen Tours verbindet, bei vielen Pilgern immer größeren Zuspruch findet. Der Pilgerweg verbindet auch besondere Orte und Einrichtungen der Barmherzigkeit gegenüber den Armen und den Schwachen miteinander. Im Jubiläumsjahr – im Oktober 2016 – werde ich, zusammen mit dem Erzbischof von Freiburg, die von unserer Diözese wesentlich initiierte und gestaltete Route des europäischen Martinsweges von Szombathely nach Tours eröffnen.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
2016 ist Martinsjahr im Martinsland. Wir werden an zahlreichen Orten feiern mit einem bunten und auch musikalisch reichhaltigen Programm. Zwei große Wallfahrten führen zum Geburtsort von Martin nach Szombathely und zur Grablege des Heiligen nach Tours. Bereits heute möchte ich Sie ganz herzlich einladen, mit mir zusammen zu den Wirkorten des heiligen Martin zu pilgern! Ich freue mich auf zahlreiche Begegnungen mit Ihnen!

Alle, die sich in den Kirchengemeinden, Einrichtungen, Verbänden, Vereinen und Gruppen oder auch persönlich als Einzelne der Not ihrer Mitmenschen annehmen, formen das Gesicht einer wahrhaft zeitgenössischen, diakonischen Kirche! Einer Kirche, die die Zeichen der Zeit erkennt und aus dem Geist des Evangeliums handelt.

Unsere Ortskirche von Rottenburg-Stuttgart ist Martinsland! Verwurzelt in der eigenen und der gemeinschaftlichen Glaubenserfahrung, können wir mit offenen Händen aufbrechen und in der Nachfolge Jesu Christi und unseres Diözesanpatrons, des heiligen Martins von Tours, als Christen glaubwürdig leben. Wer Leben teilt, wird Gott begegnen! Dafür erbitte ich den Segen Gottes!

Rottenburg, am Fest der Darstellung des Herrn,
2. Februar 2016

Ihr Bischof
Dr. Gebhard Fürst

Fastenhirtenbrief als Download und Übersetzungen des Fastenhirtenbriefes für Katholiken anderer Muttersprache
  • Initiativseite Martinsjahr 2016

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