Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2003

Stuttgart

„175 Jahre jung: ‚Gott und den Menschen nahe’ - Eröffnung des Jubiläumsjahres“

175 Jahre jung: ‚Gott und den Menschen nahe’ Eröffnung des Jubiläumsjahres„Was dem Zeitalter an ‚Utopie’ verloren ging, kann ihm die Religion zurückgeben.“Botho Strauß, Der GebärdensammlerMeine sehr geehrten Damen und Herren, 175 Jahre jung! Die Diözese Rottenburg-Stuttgart ist 175 Jahre jung ! Mit zahlreichenVeranstaltungen feiern wir dieses Datum im Jahr 2003.

Heute darf ich mit großerFreude dieses Jubiläumsjahr eröffnen. Jubiläen sind immer auch und zurechtRückblick und Ausblick. Meine Worte zur Eröffnung stelle ich deshalb unter dasMotto des Historikers Edmund Burke:„Diejenigen Leute, die nie nach ihren Vorfahren rückblicken, werden nie nach ihrenNachkommen vorausblicken.“ 1Innerhalb unseres Jubiläumsprogramms werden wir uns immer auch rückblickend erinnern

2 . Denn der Schlüssel zur Identität dieser Diözese liegt auch in ihrer gewachsenen Überlieferung. Das fordert einen sorgsamen Umgang mit derErinnerung an das, was war 3 und an das, was geworden ist. Eine Reihe von Veranstaltungen des Geschichtsvereins und unserer Akademie werdenVeranstaltungen zur Geschichte unserer Diözese durchführen. Das Diözesanmuseumwird in zwei Ausstellungen Heilige und Selige aus Schwaben vorstellen und Kostbarkeiten aus den Kirchenschätzen zeigen.

Jubiläum mitten in einer wenig hoffnungsfrohen WeltIn meiner Rede zur Eröffnung des Jubiläumsjahres möchte ich mich aber zunächstauf unsere gegenwärtige Situation konzentrieren. Wir feiern ja dieses Jubiläummitten in einer alles anderen als hoffnungsfrohen Welt: Weltweit sich häufendeTerrorakte, der drohende Krieg im Irak, dann die krisenhafte Situation in unsererGesellschaft mit verstärkten Eigenintere ssen und gleichzeitiger Destabilisierung dersozialen Sicherungssysteme, mit einem zunehmend kalten sozialen Klima. Der inZeiten leerer Kassen sich verstärkende Kampf um die Wohlstandsressourcen, derbesonders die sozial Schwachen trifft; die Vergreisung unserer Gesellschaft mitzugleich wachsender Versingelung.

Dies wohl bedingt durch die notwendige Mobilität und Flexibilität der Lebensgestaltung; aber sicher auch bedingt durch dasNachlassen der Bindungsfähigkeit: Im Jahr 2001 wurden mit 197 500 zerbrochenenEhen mehr Ehen als je zuvor in Deutschland geschieden. 4 Und schließlich dieangebliche Geburt des ersten Klonkindes der Menschheitsgeschichte: Eva mitNamen – gottlos fabriziert, nicht gezeugt! – 2 –Keine hoffnungsfrohe – eher eine beängstigende Welt!Aus der eigenen Geschichte Zuversicht schöpfenAber ein Jubiläum fordert mehr als die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft unddie Diagnose ihrer Probleme. Auch mehr als den dankbaren Rückblick auf 175 Jahreeiner dynamischen kirchlichen Entwicklung, die uns auch Mut machen kann. Denn wer die Entstehung des Bistums Rottenburg nach der Säkularisation von 1803anschaut und miterlebt, wie aus de r Enteignung und Zerstörung kirchlicherEinrichtungen, von Klöstern und Stiftungen, wie aus dem Chaos, das nach demReichsdeputationshauptschluss im Süden Deutschlands ausgebrochen war, eine lebendige, katholische Kirche von Rottenburg entstand, der kann erkennen, dass auch in krisenhaften Zeiten Hoffnung und Zuversicht wohl begründet sind.

Die Geschichte unserer Diözese ehren wir am besten dadurch, dass wir uns inunseren Tagen selbstbewusst als eine Kirche vorstellen, die gerade heute denMenschen und der Gesellschaft viel zu sagen und viel zu geben hat und die aus dem Hoffnungspotential der eigenen Frohbotschaft vom kommenden Reich Gottes alsentschiedene und kompetente Anwältin der Zukunft auftritt. Wir feiern unserJubiläum aus der Gegenwart heraus nach vorne blickend und bedenken den Weg indie Zukunft unserer Kirche, an den wir mit Freude an ihre Gest altbarkeit herangehen.

Gott und den Menschen nahe Gedanken zu LeitwortUm diesen Gestaltungsprozess anzuleiten und zu begleiten, ha ben wir ein Leitwortausgewählt, das die gewachsene geistli che Tradition der Diözese Rottenburg-Stuttgart aufnimmt und zusammenfasst: „Gott und den Menschen nahe“. DiesesWort soll uns eine grundsätzliche Ausr ichtung und Orientierung bieten, wenn wiruns zu Gottesdiensten, Feiern, Veranstaltungen oder Aktionen versammeln. DasLeitwort „Gott und den Menschen nahe“ soll uns zu Aktivitäten ermuntern unddiesen zugleich den rechten Gehalt geben; es soll uns motivieren und konzentrieren.

Denn das Leitwort gründet im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe: „Dusollst den Herrn Deinen Gotte lieben mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand undganzer Kraft, und du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ 5 Fürwahr einhoher Anspruch! Aber nur der, der sich ihm stellt, erhält die Antwort: „Du bist nichtfern vom Reich Gottes!“ 6Das um Gott und Mensch kreisende Leitwort, erinnert zudem ganz bewusst an dasgroße Vorzeichen unserer Verfassung, nachdem alles Handeln des Staates und seinerBürgerinnen und Bürger „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ 7 zu geschehen hat. Verantwortliches Handeln geschieht vor Gott und vorden Menschen. Im Leitwort ‚Gott und den Menschen nahe’ möge schließlich dieJugend unserer Diözese das Spannungsfeld von „Mystik und Politik“ wiedererkennen, das sie seit vielen Jahren in ihrer Arbeit begleitet.Die kulturelle Situation, in der wir uns vorfinden Gott nahe?Manche werden allerdings fragen: Ist das gewählte Leitwort nicht weltfremd?Erleben heute Menschen Gottes Nähe, sodass sie in unserer Zeit ihm nahe seinkönnten? Erfahren viele nicht eher Gottesferne oder gar ‚Gottesfinsternis’, wie – 3 – Martin Buber dies ausgedrückt hat?

„Gott nahe“ - dieser Teil des Leitworts stellt bewusst die Frage nach Gott in dieserZeit in den Mittelpunkt der in tellektuellen wie der existentiellen Aufmerksamkeit. Ist der Gottesglaube unter den Menschen von he ute, auch unter uns , lebendig oder tot?Verlust der TranszendenzStatt Gott als den lebendigen zu erfahren, erleben Menschen heute einen ebensoschleichenden wie dramatischen Verlust an Gottesbezug, an Transzendenz wie dasnoch in keiner Epoche unserer europäischen Geschichte der Fall war. Wir leben ineiner immer mehr säkularisierten und sich säkularisiert verstehenden Umwelt, ineiner Welt und Kultur, die sich von Gott emanzipiert, sich als rein immanent verstehtund sich auch so begründen will. Zentrale Werte gehen verloren, Orientierung ineiner von extremem Wertepluralismus bestimmten Gesellschaft wird immerschwieriger.Ursachen unserer kulturellen SituationDie gegenwärtigen krisenhaften Erschütterungen unserer Gesellschaften in Europasind Folgen und Spätfolgen von Ereignissen vielfältiger Art. Gewiss aber auchAuswirkungen philosophisch-metaphysischer Setzungen, die erst heute unserAlltagsbewusstsein und unser Zusammenleben erreichen.

Zu ihnen gehört wesentlichauch die Proklamation des Todes Gottes durch Friedrich Nietzsche in seiner Figurvom tollen Menschen.Wie im Erschrecken über das Verschwinden Gottes fragt der tolle Mensch in der‚fröhlichen Wissenschaft’: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonnelosketteten?

Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allenSonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts nachallen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten, Irren wir nicht wie durch einunendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kältergeworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ 8Aber das Projekt geht noch weiter als di e Ablehnung Gottes. Die Folge des Verlustes der Gottesbeziehung, der Transzendenz und de r sie tragenden christlichen Religionist schon von Nietzsche selbst mit gewaltigen Bildern vorhergesagt worden: Erspricht vom Verlust der Mitte, vom Taumeln, ja von unkontrollierbaren Stürzen ohneWerte und in Orientierungslosigkeit, die auch den Verlust der Zukunftsfähigkeit mitsich bringt. Denn wer die Orientierung im Heute verloren hat, ist nicht fähig, dieZukunft zu gestalten.

Gestalten kann nur wer Gestaltungsmaßstäbe besitzt. Orientierungskraft und Zukunftsfähigkeit gehören unlösbar zusammen. Der Zerfall der religiösen Ordnung bedroht auch die kulturelle Ausrichtung. Die Institutionen verlieren ihre Vi talität, „das innere Gerüst de r Gesellschaft stürzt in sichzusammen und löst sich auf; die Aushöhlung der Werte vollzieht sich erst langsam, dann beschleunigt sie sich; die Kultur läuft Gefahr zusammenzustürzen.“ 9Nicht wenige ernstzunehmende Zeitgenossen diagnostizieren deshalb, die moderneWelt, in der wir leben, befinde sich im Prozess der Selbstauflösung. 10 Verlust der Transzendenz – Verlust der Zukunft Dies wirkt sich aus. Infolge des Verl ustes von Transzendenz und Orientierungfixieren sich Menschen immer mehr auf ihre pure Gegenwart und verlieren die Beziehung auf die Zukunft und ihr Recht. 11 Die Gesellschaft wird zum „Club der Anwesenden“ 12 , zu einer Gesellschaft, die nur noch mit sich selbst beschäftigt ist und der die noch Abwesenden, aber zukünftigen Menschen aus dem Blick geraten.

Die Bedeutung der Religion für die Zukunftsbewältigung – 4 –Schon Charles Tocqueville, einer der Klassiker der Staats- und Gesellschaftslehre,hat diese Zusammenhänge erkannt. Er „verbindet den Schwund des Glaubens mitdem Verlust des Sinnes für das Künftige. Die Religion gibt dem Menschen den Sinn des Zukünftigen. Die Religionen gewöhnen allgemein daran, sich auf die Zukunft einzustellen.“ 13 „Sobald sie (die Menschen, d.Verf.) nicht mehr gewohnt sind, ihreHaupthoffnungen auf weite Sicht zu bauen, treibt es sie... nach sofortigerVerwirklichung ihrer... Wünsche, und vom Augenblick an, da sie nicht mehr an einewiges Leben glauben, handeln sie so, als hätten sie nur einen einzigen Tag zu leben.“ 14 Was das für den Einzelnen und seine Lebensgestaltung für Folgen hat, liegt auf derHand: Angesichts eines nahezu unendl ichen Angebots der Selbstverwirklichung inder Konsumgesellschaft führt der Verlust der Transzendenz und des Glaubens anewiges Leben zur Zeitknappheit und zur alles andere dominierenden Angst, jetztetwas zu versäumen.

Der Verlust der eigenen Zukunftsfähigkeit und der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft sind die logischen Konsequenzen. 15 Diagnose der Zeit wichtig für ihre TherapieMeine sehr geehrten Damen und Herren, ich will mit diesen Gedanken deutlichmachen, dass wir es in unserer gegenwärtige kulturelle Situation mit Auswirkungengeistesgeschichtlicher Entwicklungen zu tun haben, die wir als gott-gläubigeChristen ernstnehmen und bedenken wolle n, wenn wir als Kirche in die Zeithineinsprechen und uns auf unsere Zeit einlassen möchten, um ihre Zukunftmitzugestalten. Glaube, Religion eröffnet und ermöglicht Zukunft – das ist meine These! Zukunftsfähigkeit aus dem GlaubenOhne Beziehung auf Transzendenz, ohne Gottesglauben, ohne Religion, auch alstragendes System von Orientierung, von Grundhaltungen und Werten im Heute undfür die Zukunft - das ist das Ergebnis dieser Überlegungen - sind Zivilisationen undin ihr die Menschen nicht wirklich zukunftsfähig. Das Christentum mit seinerBotschaft vom Reich Gottes und dem damit verbundenen Hoffnungspotential ist eine Religion der Hoffnung 16, die zugleich Handlungsziel e für die Mitgestaltung Zukunftanzubieten hat.

Christen müssen ihr Hoffnungspotential in die moderne Gesellschafteinbringen, um deren Zukunftsfähigkeit willen. Der biblische Gott ist uns gegenwärtigAls der große Mathematiker Pascal den lebendigen Gott in einer Stunde der Gnadeerfahren hat und dieser Erfahrung der Gegenwart Gottes in seinem bekanntenMemorial einen überwältigenden Ausdruck verliehen hat, da legt er Zeugnis ab nichtvom Gott der Philosophen, sondern vom lebendigen Gott der Bibel: „’GottAbrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs’, nicht der Philosophen und Gelehrten.Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi!“ 17 In dieserStunde ist dem Naturwissenschaftler Blaise Pascal der Gott der Bibel lebendig und gegenwärtig geworden.

Das Jahr der Bibel, das wir 2003 ebenfalls begehen, wird vielen Menschen dieBegegnung mit den heiligen Schriften der Bibel ermöglichen. Viele werden GottesWort im Menschenwort vernehmen und sich davon ergreifen lassen. Viele Menschenwerden in der Bibel Zeugnisse des Gottesglaubens finden, den von ihm vollbrachtenHeilstaten in der Geschichte begegnen und in den Evangelien Jesu Gleichnisse vom Reich Gottes hören und die Zeugnisse seiner heilenden Taten vernehmen. Ich bindavon überzeugt, dass in den Herzen vieler Menschen dadurch Religiosität, Glaube, – 5 – Hoffnung und Liebe neu gestiftet und gestärkt werden. Davon war schon der großePhilosoph der Vernunft, Immanuel Kant überzeugt, wenn er schreibt: „Die Bibel hatdie Kraft, Religion im Herzen des Menschen zu stiften!“ 18 Sie hat die Kraft zumGlauben zu rufen, Hoffnung zu wecken und das Feuer der Liebe zu entzünden.

DieVeranstaltungen des Diözesanjubiläums werden deshalb immer auch die Begegnungmit der Bibel suchen.Bevor wir als Christen unter den Anspruch gestellt sind, Gott und den Menschennahe zu sein, dürfen wir im Glauben davon ausgehen: Gott ist uns selbst schon nahegekommen. Er schenkt uns seine bleibende Gegenwart: „Ich bin der, der für euch da ist“ 19, auf all euren Wegen! So offenbart sich Gott seinem Volk in bedrängenderSituation. Das ist nicht nur heilige Überlieferung, das ist vielmehr heiligende Gegenwart.Meine Predigt im Gottesdienst zum Fest der Erscheinung des Herrn hatte GottesVersicherung, seinem Volk nahe zu sein zum Zentrum. Dies gilt uns heute ebenso.Ich bitte ich Sie das als großes Vorzeichen für das Leitwort und das Programm desJubiläums zu verstehen. Derselbe Gott ist uns in Jesus nahegekommen, als Immanuelist er der „Gott mit uns“, der die Mitte unseres Lebens sein will. Jesus Christus selbstversichert uns seiner bleibenden Gegenwart in alle Zukunft. „Seid gewiss, ich bin beieuch, alle Tage bis zum Ende der Welt“ 20, so lauten die letzten Worte desMatthäusevangeliums!Nicht Menschen müssen Gott erst vergegenwärtigen, er selbst hat sich uns schonvergegenwärtigt und aus dieser Botschaft können Menschen selbst im eigenen Lebenund durch ihr eigenes Handeln Gott und den Menschen nahe sein! 21 Aus derErfahrung des lebendigen Gottes der Bibel können wir den Menschen nahe sein und ihnen unsererseits Gottes Nähe in sichtbaren Zeichen erschließen. Denn in„menschlichen Gebärden bleibt er den Menschen nah“ 22, eine mich immer wiederanrührende Formulierung in einem unserer Kirchenlieder. Wir wollen auch nichtvergessen, dass die Zeichen der wirksamen Nähe Gottes besonders die Sakramentesind, die Liturgie, die wir feiern. Christen als Lobbyisten der Zukunft und ZukunftsfähigkeitHoffnung muss das Erkennungszeichen für Christen sein. Aus ihrer Hoffnung herausvertrauen Christen in die Zukunft, die sie gestalten. Als hoffende Menschen, sindChristen zukunftsoffen, zukunftsfähig und zukunftswillig. Und wenn Hans Jonas inseiner Kritik im Umgang mit den Biotechnologien und ihren Folgen für die Zukunft beklagt: „Die ‚Zukunft’... ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihrGewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine Lobby und dieUngeborenen sind machtlos.“

23 Dann müssen und werden wir Christen als Lobbyund Lobbyisten für die Zukunft an den Tischen der Kommissionen sitzen und umeiner menschenwürdigen Zukunft willen die Kraft unserer Hoffnung in dieWaagschalen dieser Welt und Gesellsch aft werfen: als Lobbyist der künftigenGenerationen unserer Kinder, einer mens chlichen Zukunft der Gesellschaft und derZukunft der Schöpfung auf unserem Planeten Erde.Für eine zukunftsfähige Kirche, die mitgestalten kannPrioritätenprozess als pastoralpraktische KonsequenzUnsere Diözese wird ihr Jubiläum nicht nur feiern. Wir werden vielmehr gerade indiesem Jahr auch inhaltlich an der Zukunftsfähigkeit der Kirche und der Pastoralarbeiten. Worauf wir den Schwerpunkt in der Verkündigung und im christlichen – 6 –Handeln legen müssen, was für die Pastoral in der Diözese Rottenburg-Stuttgartangesichts der Herausforderungen unserer Zeit Priorität hat, darauf werden wir unsgemeinsam im Diözesanrat besinnen.

Durch die Setzung von Priori täten gestalten wirdie inhaltliche Konzeption als Zeugnis unserer christlichen Hoffnung. Dies ist diepastoralpraktische Konsequenz und Ausdruck der mit dem Christentum verbundenenWerteorientierung, das Ergebnis unserer wertegestützten Zeitanalyse, besonders aber die Orientierung für die künftige pastorale Praxis in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Wir werden gerade im Jubiläumsjahr nicht nur von Hoffnung reden, sondern unserer Hoffnung Gesicht und Gestalt geben! Gott nahe sein: Spiritualit ät fördern und entwickelnDie wirklichen Gestaltungsressourcen liegen in den Personen, in den Menschen: sieliegen in uns selbst! Wir selbst sind angefragt, immer mehr vom Geist Jesu ChristiErgriffene zu werden. Diese geistliche Dimension in unserem Handeln müssen wirverstärken, sichtbarer machen und überzeugend leben. Gott nahe zu sein gelingt unsnur in einer lebendigen und überzeugend gelebten christlichen Spiritualität 24 .

Dies müssen wir erkennen, sie gilt es zu entwickeln und zu fördern.Wir antworten damit zugleich auf das in der ganzen Gesellschaft - auch in unsererKirche - größer werdende Verlangen nach einer tragenden Spiritualität und könnendafür neu auf den Reichtum unserer eigenen spirituellen Tradition zurückgreifen.Und natürlich wird uns die Bibel inspirieren. Und beides muss in eine christlicheSpiritualität des Lebens münden. Ohne eine solche Spiritualität des Lebens , des verheißenen und schon angebrochenenewigen Lebens wird die irdische Zeit für den Menschen nur zur Zeit der letztenGelegenheit, sich seine unbegrenzten Sehnsüchte nach Erfüllung jetzt und sofort zubefriedigen. Wo bliebe die Motivation zum zukünftig mehr als bisher notwendigenTeilen, zum sozialen und karitativen Ha ndeln, wenn weniger Haben und Hingabe an den Nächsten letztlich nur als Verlust erfahren werden könnte?Mit christlicher Spiritualität meine ich nicht eine abgehobene Geistlichkeit, sondern die Entwicklung eines geistlich geprägten Lebens- und Handlungsstils, der aus derVerheißung lebt, dass der, der sein Leben um Christi willen verliert, es wahrhaft gewinnen wird.

25 „Den Menschen nahe sein“: Projekt Aufstehen für das LebenZu diesem geistlich geprägten Lebens - und Handlungsstil gehört heute in ganzbesonderer Weise der Einsatz für das Leben des Menschen, das von vielen Seitenbedrängt wird und bedroht ist. Aus dem Glauben an den auferstandenen Herrn unddie Auferstehung beziehen Christen die Gewissheit, dass einem jeden Menschenjenseits der Glücks- und Leistungsbilanz seiner eigenen Existenz und seinesgesellschaftlichen Lebens eine unverlierbare Würde zukommt und ihm ein Leben inFülle verheißen ist, das das Gelingen in der Lebenszeit einschließt und dochunendlich darüber hinausreicht. Das gilt für den gesunden und leistungsfähigen, aberbesonders für den ungeborenen wie für den alten und sterbenden Menschen ebenso wie für den kranken und behinderten.In unserem Tun, durch unser Handeln müssen Christen verdeutlichen, welchepraktischen Konsequenzen die Überzeugung hat, dass der Mensch vom allererstenAnfang bis zum allerletzten Atemzug keine verfügbare Biomasse ist, sondern der jeeinzigartige Träger von Geist und unverwechselbarer, unverfügbarer Würde: Ein Bild Gottes.Unter dem Motto: Aufstehen für das Leben 26, haben wir in vielen kleinen Schritten – 7 –bereits ein Projekt gestartet, in dem wir uns für das Leben stark machen in allenseinen Dimensionen, wo es „beschädigt“ 27 ist, verletzt zu werden droht und derbesonderen Pflege und „Verschonung“ 28 bedarf. Dies gilt es weiterzuentwickeln undzu intensivieren.

Ich nenne im folgenden nur Stichworte einer menschenfreundlichen Kirche 29 , die fürdas Leben aufsteht in allen seinen Dimensionen:*Angesichts der sich enorm steigenden Möglichkeiten der Lebenswissenschaften undder notwendigen Kritik an Forschung und Wissenschaft müssen wir als Kirchedeutlich machen, dass wir nicht wissenschaftsfeindlich, sondern lebensfreundlich sind.*Angesichts der Reproduktionstechnologien, die die menschliche Fortpflanzung undWeitergabe des Lebens zu entpersonalisieren drohen, muss Kirche mehr als bisherAnwältin einer kultivierten, humanen Entfaltung der Sexualität des Menschen werden.*Angesichts knapper werdender Haushalte muss die Kirche deutlich machen, dasssie überzeugte Anwältin des Lebens auch nach der Geburt ist.

Ich denke an Häuserfür Mütter und Kind, an Kindert agesstätten, Kindergärten. Die Kirche unterstützt mithöchster Entschiedenheit eine Kinder- und Lebensfreundlichkeit, wo immer es inihren Kräften steht. Hier möchte ich den Eltern danken, die Kindern das Lebenschenken: Sie geben ein besonderes Zeichen der Bejahung des Lebens und der Zukunftsfreundlichkeit des christlichen Glaubens.*Ausdruck dieser Lebensfreundlichkeit ist auch das Bemühen, als Kirche ökologischsensibel zu handeln und entsprechende Initiativen zu unterstützen.Lebensfreundlichkeit heißt in diesem Zusammenhang der Blick auf nachhaltiges Handeln.

Einsatz für die Armen und Schwac hen und Bedrückten aller Art

Und noch eine Dimension unseres Handelns ist mir wichtig: der Einsatz für dieSchwachen. Sie gibt es weiß Gott auch bei uns. Gott und den Menschen nahe zu seinerhält seine eigene Bedeutung im besonderen Einsatz für die Armen und Schwachen und die Bedrückten aller Art. 30 Wir werden uns als Kirche auch politisch einmischen,wo Menschen, die unserer Solidarität bedürfen, ungerechten Zwängen unterworfenwerden. Allerdings beziehen wir unsere Legitimation dazu nur aus dem eigenen entschlossen diakonischen und karitativen Handeln. Dass die tatkräftige Zuwendungzu diesen Menschen absichtslos in besonderer Weise Nähe zu Gott schenkt, zeigenuns große Heiligengestalten wie Elisabeth von Thüringen, Franziskus, Vinzenz vonPaul und nicht zuletzt unser Diözesan patron, der Heilige Martin. Zuwendung undTeilen mit dem Bedürftigen schenkt Christusbegegnung, ja Gottesbegegnung. Wobeiwir hier wieder bei der eingangs gestellten Frage nach Gott in unserer Zeitangekommen sind - allerdings in ganz neuer Weise. Umgekehrt gilt hier: „Wer inGott eintaucht, der taucht neben den Armen auf!“ 31Dem Nächsten begegnen, dem Menschen nahe sein, heißt Gott nahe kommen undGott nahe sein führt in die solidarische Nähe zum Menschen. Diese unauflösbareVerschränkung, die im Leitwort ‚Gott und den Menschen nahe’ verborgen ist,kommt hier zum Vorschein. Letztlich liegt in ihr das Geheimnis unseres Lebens, dasGeheimnis unseres Glaubens, dem wir auf der Spur sind im Jubiläumsjahr unserer Diözese.

– 8 –Erfreuliche Zeichen von Lebendigkeit in unserer KircheIch habe am Beginn meiner Rede kein hoffnungsfrohes Bild der Gegenwartgezeichnet und dabei Zeichen unserer Zeit nicht genannt, die ich abschließend alsHoffnungsmomente nachtragen möchte: - Ich nenne einen neuen Hunger nach Spiritualität, eine neu gewachseneBeziehung zur Bibel, das Entstehen geistlicher Bewegungen, die große Zahl derKlostergemeinschaften unserer Diözese, die Neuentdeckung und Neubelebungreligiöser Praxis in der Volksfrömmigkeit. - Nach wie vor lassen sich viele junge Menschen für geistliche, kirchliche Berufe ansprechen. - Wir erleben eine ungebrochene Bereitschaft, für notleidende Menschen aller Art zu spenden und aktiv zu werden. - Eine halbe Million Kinder und Jugendlicher sind in diesen Tagen alsSternsinger unterwegs, um die Botschaft vom Immanuel, von Gott mit uns auf dieStraßen und in die Häuser zu tragen und sich über die Spenden für Kinder dieser Welt zu freuen. - Caritas und sozial-diakonische Einrichtungen leisten kompetenten Einsatz und genießen hohes Ansehen. - Ich nenne die Bereitschaft, aus dem Glauben heraus in der KircheVerantwortung zu übernehmen: Ca. 200 000 Ehrenamtliche engagieren sich allein inkirchlichen Gemeinden! - Und schließlich das, was gewachsen ist in der Ökumenischen Bewegungzwischen unseren Kirchen und noch weiter wachsen wird.

Ich lade Sie daher vonhier ausdrücklich ein zum Ökumenischen Kirchentag nach Berlin zu kommen. Mit spiritueller Kraft dankbar in die ZukunftJeder kennt sicher viele andere große und kleine Hoffnungszeichen. Mit diesemPotential gehen wir in die Zukunft, die wir aktiv gestalten aus der Kraft unsererchristlichen Hoffnung und mit dem spirituellen Reichtum der zahlreichen Menschen,die bereit sind, sich aus ihrem Glauben für andere einzusetzen. Ihnen besonders giltmein Dank. Auch Sie gehören zum großen Hoffnungspotential, das unserer Kirchefür die Menschen und zu ihrem Heil geschenkt ist. Einladung zur Teilnahme und Mitw irkung am JubiläumsjahrSo lade ich Sie, liebe Schwestern und Brüder, ja unsere ganze Diözese, ein, inVerbundenheit mit allen Christinnen und Christen unseres Landes das 175-jährigeJubiläum der Diözese Rottenburg-Stuttgart zu begehen und mitzuwirken – in unserenKirchengemeinden und geistlichen Gemeinschaften, in den Dekanaten, an denzahlreichen Wallfahrtsorten unserer Region, in den Klöstern und geistlichen Zentren.Und ich lade sie heute schon herzlich ein, zu den beiden großen diözesanen Festenam 17. Mai in Rottenburg, der Feier der 175. Wiederkehr der Gründung unsererDiözese und am 29. Juni zum Fest mit den Partnerschaftsgemeinden aus den Ländernder Dritten Welt in Stuttgart. Dieses besondere Jahr in der Geschichte unsererDiözese möge auch zu einem besonderen Jahr des Gebets werden, in dem wir in Dankbarkeit Gottes bisherige treue Begleitung erkennen, wahrnehmen, was jetztnotwendig ist, und mutig unseren Weg weitergehen – Gott und den Menschen nahe.

 

– 9 – Anmerkungen 1 Edmund Burke, Streitschrift gegen die französische Revolution, (1790), zit. nach Prof.Remi Brague, Debatte, 4/2002, 21. 2 Erinnerung im Sinne Gerald Siegmuns, Wiesberg/Strauß, S. 78. 3 „Vergessen bedeutet eine Gefahr für die Komplettierung des Ichs.“ Vgl. GeraldSiegmuns, Wiesberg/Strauß, S. 78. 4 Vgl. Studien zur Scheidungsrekord in Deutschland: Welt am Sonntag, 1.Sept. 2002 5 Mk 12,32. 6 Mk 12,34b. 7 Präambel GG. 8 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125, Ausgabe Kröner, 141. 9 Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/Main 1992, S. 77. 10 Vgl. Remi Brague, in: Debatte, 4/2002, 21. 11 „Totalherrschaft der Gegenwart“: vgl. Wiesberg/Strauß, S. 85. 12 Vgl. Remi Brague,a.a.O. 13 Zit nach: R. Brague, a.a.O. 14 Ebd. 15 Vgl. Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisseund Zeitknappheit, Darmstadt, 1996. 16 Ernst Bloch: ‚Das Wesen der christlichen Religion aber ist Hoffnung.’ Hoffnung istfür Bloch das Wesen der Religion, vgl. dazu A. Jäger, Reich ohne Gott, 54f. 17 Zit. nach Walter Dirks, Die Wette. 18 Immanuel Kant, Streit der Fakultäten. 19 Ex 3,14. 20 Mt 28,20b. 21 Dies ist der Kern und auszuformulierende Ausgangspunkt einer responsorischen Theologie und Christologie. 22 Gotteslob Nr. 639, Str.4. 23 Hans Jonas, Das Prinzip Vera ntwortung, Frankfurt/M. 1979 (st 1085) 55. 24 Andre Malraux, „Das 21. Jahrhundert wird sp irituell sein oder es wird nicht sein!“ 25 Vgl. Mt 10,39. 26 Vgl. KS-Spezial, Ostern 2002. 27 Adorno, Minima Moralia. 28 Formulierung von Botho Strauß. 29 Vgl. auch Dirk Steinfort, Societas sympathica, Münster 1997, v.a. 247-256. 30 Vgl. GS Art.1. 31 Formulierung von Prof. Paul Zulehner.

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