Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2007

Stuttgart

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Neujahrsansprachen der letzten Jahre nutzte ich, um besondere Schwerpunkte der Pastoral auch unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten zu benennen. Neben der Verlebendigung der Liturgie, der Quelle und dem Ziel kirchlichen Lebens, arbeiten wir derzeit in unserer Diözese vor allem daran, die Caritas, die tätige christliche Nächstenliebe als unverzichtbare Wesensäußerung des Christentums zu profilieren und so als diakonische Kirche missionarisch in der Welt von heute zu leben. Auch die Stärkung von Ehe und Familie bleibt ein Schwerpunkt des pastoralen und politischen Handelns unserer Diözese. Trotz erfreulicher Tendenzen in der Wirtschaft fordern uns die hohe Arbeitslosigkeit und ihre Folgen, sowie die menschlich schwieriger werdende Situation in der Arbeitswelt weiterhin heraus. Nicht zuletzt müssen wir dabei nichts unversucht lassen, um weiterhin die Arbeitsplätze der insgesamt rund 45.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der katholischen Kirche von Württemberg zu erhalten.

An diesen Prioritätensetzungen werden wir festhalten und sie intensiv weiterentwickeln. Daher werde ich heute keine neuen Schwerpunkte der Pastoral vorstellen, sondern Themenbereiche aufgreifen, die mir aus gegebenem Anlass besonders wichtig sind. Ich schaue auf Europa, auf die Rolle des Christentums und der Kirchen im europäischen Einigungsprozess, und das Verhältnis von Staat und Kirche. Schließlich werde ich auf zwei sensible Punkte im Leben und Zusammenleben der Menschen eingehen, die mir Sorge bereiten.

2006 Jahr der Jugend

Gestatten Sie aber zuvor einen kurzen Blick zurück ins Jahr 2006, weil er in Wirklichkeit ein Blick nach vorne ist. Was ich im vergangenen Jahr mit den Kindern und Jugendlichen unserer Diözese erleben durfte, hat sich mir nachhaltig eingeprägt. Vor allem bei vielen Gottesdiensten, Wallfahrten und Jugendtreffen konnte ich die große Freude und die Begeisterung junger Menschen in ihrem Glauben miterleben. Der Höhepunkt war für mich die Ministrantenwallfahrt nach Rom und der Gottesdienst mit 5300 Ministranten und Ministrantinnen unserer Diözese in der Kirche St. Paul vor den Mauern. - Einige Wochen zuvor fand das diözesane Jugendforum in Untermarchtal statt. Ich selbst, die Weihbischöfe, Domkapitulare und Hauptabteilungsleiter unserer Diözese waren bei der Sternwallfahrt der Jugendlichen dorthin teilweise bis zu 50 Kilometer mit ihnen unterwegs. Wir haben mit über 2000 jungen Menschen gebetet und über ihr Leben, über Glauben und Kirche gesprochen. Die beiden Franziskusfeste im Kloster der Franziskanerinnen von Sießen versammelten gar 10.000 Kinder und Jugendliche zu Gottesdiensten, Glaubenskatechese, Spiel und Begegnung.

Bei vielen anderen regionalen Jugendtagen und Jugendwallfahrten, bei Zeltlagern, Festivals, Aktionen des BdKJ und in Gruppen der charismatischen Erneuerung nahmen nochmals Tausende von Kindern und Jugendlichen teil. Die Zahl der Ministranten in unserer Diözese ist 2006 auf ca. 38 000 gestiegen. Die über 25.000 Sternsinger, die derzeit in den Straßen unserer Diözese unterwegs sind, sind ein sprechendes Zeichen, welch junge Kraft in unserer Kirche steckt. Ich habe das Jahr 2006 als ein Jahr der Jugend erlebt. Dieses Zeichen sollten wir - neben allen Sorgen, die wir uns um die junge Generation machen - dankbar wahr- und den Impuls daraus aufnehmen. Kinder und Jugendliche sind die Zukunft unserer Kirche wie der ganzen Gesellschaft.

Die europäische Einigung und das Zukunftspotential des Christentums für Europa und die Weiterentwicklung seiner humanen Kultur
Europapolitisch birgt das neue Jahr Herausforderungen und Chancen, denn Deutschland hat die Ratspräsidentschaft übernommen. Zugleich hat sich die EU auf 27 Mitgliedstaaten vergrößert. Dadurch ist sie europäisch vollständiger geworden. Aber die institutionelle Form ist noch nicht erreicht, in der die so gewachsene EU langfristig handlungsfähig bleibt. Der Verfassungsvertrag, der dieses Reformwerk begleiten sollte, befindet sich seit seiner Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden in einer Krise. Dass sie überwindbar ist, deutet sich inzwischen an. Diesbezüglich richten sich im In- und Ausland große Erwartungen auf die deutsche Ratspräsidentschaft. Man erhofft sich neue, überzeugende Impulse hin zu einem „europäischen Grundgesetz“.
Bei allem Respekt vor dem gebotenen Abstand von Religion und Politik können und müssen die Kirchen sich hierbei nicht auf die Zuschauerposition zurückziehen. Eher sogar sind sie durch Geist und Buchstaben des EU-Verfassungsvertrags dazu aufgefordert, diese wichtige Etappe des europäischen Integrationsprozesses mit ihren Möglichkeiten angemessen zu unterstützen.

Der breiten Öffentlichkeit ist entgangen, welch wichtige positive Signale der Verfassungsvertrag an die Adresse der Religionsgemeinschaften sendet. Denn erstmals in der Geschichte des Europarechts wird das Recht der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit (VVE Art. II-70,1) verankert. Zugleich wird die Respektierung und Nichtbeeinträchtigung der nationalen Regelungen zum Staat-Kirchen-Verhältnis festgeschrieben (VVE Art. I-52,1). Nicht zuletzt verpflichten sich die EU-Organe zu einem offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den Kirchen und anderen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften, ich zitiere und betone dies, „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags“ (VVE Art. I-52,3) für Europa.

Hier kann die Kirche sicher mehr einbringen als das vielfach wahrgenommen wird. Denn das Potential der christlichen Tradition, das für die Europas Zukunft von Bedeutung ist, reicht von verfassungstheoretischen Grundprinzipien bis hin zu konkreten Netzwerken von Menschen und Institutionen. Zunächst formal, denn das normative Strukturprinzip der Europäischen Union als eines Systems aus mehren Ebenen des Gestaltens, ist der christlichen Soziallehre entnommen und heißt Subsidiaritätsprinzip. Hier wie dort bezeichnet es den Grundsatz der vorrangigen Zuständigkeit der unteren, grundlegenden Ebene und drängt damit auf einen bürgernahen und regionalen Aufbau des Gemeinwesens.

Das inhaltliche Rüstzeug, das zur inneren Stabilisierung der Europäischen Union jenseits von tagespolitischen Konsensen über Agrar-, Arbeitsmarkt- oder Migrationspolitik dient, ist ebenfalls vor allem in der christlichen Gedankenwelt zuhause: die Idee der gleichen und gleichberechtigenden Menschenwürde aller; eine kosmopolitisch offene, grenzüberwindende Geisteshaltung; vorurteilslose Solidarität; die Dialogbereitschaft zur Versöhnung und Verständigung. Zudem zeigt sich - zumindest hinter den Kulissen der Politik -, dass kirchliche Netzwerke von der oberen Verwaltungsebene bis hin zur Basis vor Ort hilfreich vermitteln können, wenn das Aufeinandertreffen politisch unterschiedlicher staatlicher Verwaltungen zunächst eher Probleme schafft als löst.

Wenn die EU-Ebene diese sowohl inspirierend-beseelende als auch inhaltlich-politische Relevanz der Kirchen förmlich anerkennt, so liegt hierin eine ausdrückliche Einladung an die Christen, auf ihre Weise das Problem- und Wertebewusstsein der Europapolitik zu schärfen und deren Qualität zu optimieren.

Manche mögen sich fragen: Warum traut man gerade den Kirchen einen solch konstruktiven europapolitischen Beitrag zu? Begegnet nicht mindestens in manchen Epochen der Kirchengeschichte alles andere als das, wofür heute die moderne liberale Rechtsstaatlichkeit steht und kämpft? Historische Entwicklungen und durchaus zwiespältige Aktivitäten und Interventionen der Kirche sollen wahrgenommen, kritisch analysiert sowie selbstkritisch aufgearbeitet werden. Zur ganzen Wahrheit der Geschichtsläufe gehört aber auch, dass die Humanitätsgeschichte Europas nachhaltig orientiert und geprägt wurde durch die theologisch-gesellschaftspolitischen Spitzenbegriffe der christlichen Botschaft und des Evangeliums: ‚Freiheit’, ‚Gleichheit’, ‚Geschwisterlichkeit’. Die Französische Revolution wie die europäische Aufklärung überhaupt haben diese Begriffe zwar säkularisiert, nicht aber erfunden. Heute, anlässlich der gesellschaftlichen Krise des Säkularismus und Laizismus, wird die Pointe dieser Unterscheidung wieder neu entdeckt. Zudem wächst neu ein Bewusstsein dafür, dass das Christentum auch nach zweitausendjähriger Geschichte keineswegs erschöpft ist, was die Grundbotschaften des Evangeliums an Inspirationskraft enthalten im Blick auf politische Strategien der Humanität. Offenbar ist man sich dessen auch auf EU-Ebene bewusst und hat erkannt, dass Europa als Geschichts- und Kulturraum eine besonders anspruchsvolle ‚Einheit in Vielfalt’ ist, die vornehmlich in einer bestimmten religiös-kulturellen Tradition gründet: nämlich der jüdisch-christlichen.

Gerade junge Menschen entdecken heute neu den Sinn postmaterieller, geistig-spiritueller Werte. Intuitiv spüren sie, dass solche Werte Handlungsorientierung anders und freiheitsschonender leisten als restriktive Normen. Wertbegriffe befehlen nicht, sie diktieren nicht, sie sind keine Gesetze im strengen Sinn. Vielmehr appellieren sie an die Vernunft und die Freiheit des einzelnen. Werte orientieren dadurch, dass sie wirkliche Ziele nennen. Sie kennzeichnen, was konsequent vorzugswürdig zu heißen verdient. Entsprechend wollen Werte nicht durch äußeren Zwang binden, sondern durch innere Anziehungskraft Wirkung entfalten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gesellschaftspolitisch steht Europa vor großen Herausforderungen. Wir müssen dabei einsehen und dies auch aktiv annehmen, dass eine stabile europäische Friedensordnung und eine gemeinsame Zukunft Europas heute ebenso wenig umsonst zu haben sind wie in früheren Zeiten. Gegenwärtig kosten sie viel Geld. Dies belastet die Staatshaushalte und damit auch die Bürgerinnen und Bürger. Und doch ist es ungleich besser als in der Vergangenheit, als durch unsinnige Kriege in Folge nationalstaatlicher Interessen vor allem das Leben vieler Menschen beeinträchtigt und geopfert wurde. Demographisch und wirtschaftspolitisch müssen wir wieder zu einem geographischen Großraum von sozialen und zukunftsstiftenden Innovationen werden. Beispielsweise müssen nicht die jobgerechte Familie, sondern familiengerechte Jobs das Ziel sein. Wir brauchen in Europa jetzt und in Zukunft nicht den marktkonformen Menschen, sondern den menschengemäßen Markt. Alles andere würde den sozialen Frieden zerstören.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Oktober 2001 war ich bei einer vom kirchlichen Hilfswerk Misereor zusammen mit dem chinesischen Institut für Religion und Kultur veranstalteten Tagung nach Peking eingeladen. Experten aus China und Deutschland tauschten sich mehrere Tage über das Thema „Die Bedeutung des Christentums für eine sich im Umbruch befindende Gesellschaft“ aus. Nichts konnte dabei das Interesse der chinesischen Wissenschaftler so wecken wie der Vortrag über die katholische Soziallehre mit ihren Prinzipien der Personalität, Subsidiarität und Solidarität. Ich fragte daher den Leiter des Instituts, Herrn Prof. Zhuo – er hat übrigens als Stipendiat der Diözese Rottenburg in Deutschland Religionswissenschaften studiert -, warum er gerade in der dramatischen Umbruchphase Chinas so sehr am Christentum interessiert sei. Er antwortete mir: „China hat durch die verschiedenen Revolutionen seiner Geschichte und den Kommunismus maoistischer Prägung die Inhalte für eine Sinnstiftung unserer Gesellschaft verloren. Wir erleben jetzt einen sinnentleerten materialistischen Kapitalismus. Das ist völlig unzureichend für den Zusammenhalt und die wirklich innovative Gestaltung unserer Gesellschaft. Da haben wir uns in der ganzen Welt umgeschaut. Wir haben entdeckt, dass die Regionen, in denen ein hohes Maß an allgemeinem Wohlstand und an sozialer Gerechtigkeit, verbunden mit gesellschaftlicher Stabilität, sozialem Frieden und zugleich dynamischer Entwicklung vorliegen, in besonderer Weise vom Christentum geprägt sind.“

Die Bedeutung des Christentums für Europa, seine Gesellschaften und seine Zukunft, wird womöglich von außen noch stärker wahrgenommen als bei uns, die wir von innen her mit Europa verbunden sind.

Auf dieser Linie sehe ich auch die Mahnung des Philosophen Jürgen Habermas, die Sinnpotentiale der christlichen Religion für den gesellschaftlichen Aufbau unserer Demokratie nicht zu exkommunizieren.

Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandelns sagte er in der Frankfurter Paulskirche: „Es darf nicht zu einem unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit kommen, denn dann würde die säkulare Gesellschaft sich von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden.“

Vor diesem Hintergrund können die Kirchen im Blick auf die Zukunft Europas legitimer Weise beides tun: Die Stärken des europäischen Projekts betonen und unterstützen – und zugleich seine Schwächen aufzeigen, um sie konstruktiv auf Verbesserungen hin zu kritisieren. Eine europapolitische Botschaft der Kirchen könnte daher lauten: Das Christentum gibt den Europäerinnen und Europäern nicht nur Wurzeln, sondern verleiht ihnen auch Flügel! Und dies in einer Zeit, in der Europa beides braucht: einerseits Klarheit über eigene Standorte und Ausgangspunkte, andererseits Inspiration und Mut für innovatives Denken, das über alle momentanen Hindernisse hinweg das Zukunftsträchtige in den Blick nimmt.

Daran anknüpfend möchte ich etwas über das Verhältnis von Staat und Kirche und die Bedeutung des Christentums für einen demokratischen Staat sagen.

 

Beziehung von Staat und Kirche in Deutschland

Der Geist einer Demokratie und das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft werden durch das Selbstverständnis der darin lebenden Menschen geprägt. Der Stellenwert, den Eigenverantwortung und Solidarität, Gerechtigkeit und Gemeinsinn, Ehrfurcht und Respekt in einer Gesellschaft haben, ist abhängig vom Bild, das die Menschen von sich und ihren Mitmenschen haben. Konkret gesprochen: Ob Menschen sich autark oder als Selbst aus Begegnung mit dem Du verstehen, ob sie ihre Existenz als Geschöpf wahrnehmen oder als selbstgemacht; ob die Menschen von Angst bedrückt werden oder mit Hoffnungs- und Gestaltungskraft erfüllt in die Zukunft blicken. Das Bild, das Menschen vom Menschen haben, bestimmt ihr Handeln, all das prägt ihre Entscheidungen. Es bestimmt die Bereitschaft, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, sich für andere solidarisch einzusetzen, Anteil zu nehmen am Schicksal der Mitmenschen und die Gesellschaft mitzugestalten. Das Bild vom Menschen und Werte und Handlungen, die daraus folgen, entscheiden über den Respekt vor der unantastbaren Würde und Unverfügbarkeit jedes Menschen, ob geboren oder ungeboren, ob behindert oder unbehindert, ob bei Kräften oder angewiesen auf andere.

Wir kennen den Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Doch dieser Satz hat Folgen, die bedacht und gestaltet werden müssen. Weil der Staat ‚von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann’, bedürfen diese Voraussetzungen der Pflege. Wir alle, vor allem die Verantwortungsträger in Gesellschaft und Staat müssen dazu beitragen, dass diese Voraussetzungen selbst lebendig sind und bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kraft dieser Voraussetzungen erhalten bleibt, dass die Quellen, die das Feld bewässern, nicht austrocknen, dass die „Voraus-Setzungen“ nicht verdampfen, wegschmelzen. Oder dass sie sogar unbemerkt zu Voraussetzungen mutieren, von denen der freiheitliche Rechtsstaat und eine pluralistische Gesellschaft dann nicht mehr leben können, sondern durch die sie geschwächt, verletzt oder gar zerstört werden. Lebensquellen als notwendige Voraussetzung bedürfen der sorgsamen und verantwortungsvollen Pflege.

 

Christliche Inspirations- und Orientierungskraft

Vor diesem Hintergrund sind Christentum und Kirchen neu gefragt: Das christliche Bild vom Menschen weiß darum, dass der Mensch Geschöpf ist und nicht sein eigenes selbstgemachtes Produkt. Das Christentum erinnert daran, dass es eine Instanz über dem Menschen gibt, der er Verantwortung schuldet. Seine Gottebenbildlichkeit verleiht und garantiert jedem Menschen, unabhängig von seinen Qualitäten, eine durch nichts verlierbare Würde. Die Menschenwürde stattet ihn mit der Unverletzlichkeit seines Menschseins aus und verbietet jede Instrumentalisierung zu Zwecken außer seiner selbst. Seine Geschöpflichkeit macht ihn zur einmaligen und doch auf den Anderen verwiesenen Person. Eine Person, die über naturale Kreisläufe herausgehoben in der Transzendenz verwurzelt ist, ein Mensch, der zur verantwortungsbewussten Gestaltung der Mitwelt und zur Bewahrung und Entwicklung der ihm anvertrauten Schöpfung beauftragt ist.

 

Umgang mit dem menschlichen Leben am Anfang

Beim Umgang mit dem menschlichen Leben am Anfang und an seinem Ende wird auf der Ebene der Personen und ihres Zusammenwirkens besonders deutlich, dass dieses großartige Bild vom Menschen vergessen zu werden droht. Das erfüllt mich mit Sorge. Was heute biotechnologisch möglich geworden ist, hat unüberschaubare Konsequenzen für das Verhalten und Zusammenleben der Menschen. Der Umgang mit dem menschlichen Leben am Anfang wird immer mehr durch die Reproduktionstechnologie, ihre Logik und Möglichkeiten bestimmt. Ich nenne Beispiele:

Erst in den letzten Tagen hat sich eine 67jährige bisher kinderlose, alleinstehende Spanierin durch künstliche Befruchtung ihren Kinderwunsch erfüllt und Zwillinge geboren. Die In-vitro-Fertilisation, die künstliche Befruchtung im Reagenzglas, macht es in Verbindung mit Leihmutterschaft möglich, dass ein Kind bis zu sechs Elternteile hat: die biologischen Eltern, die Ei und Same spenden, die sozialen Eltern, die sich diese nach bestimmten Eigenschaften aussuchen, der Arzt im Labor, der die Zeugung technologisch herbeiführt, sowie die Leihmutter, die den so produzierten Embryo austrägt. Schon heute können sie sich übers Internet die Samen- und Eispenden per Mausklick bestellen. Amerikanische Collegestudentinnen erzielen einige Tausend Dollar durch Verkauf ihrer Eizellen, sogenannte Designerbabys haben auf Bestellung die gewünschten Eigenschaften. So können Frauen durch Samenspende Kinder von Nobelpreisträgern bekommen. Vor einiger Zeit haben sich zwei Menschen, die partnerschaftlich zusammenleben, keine Kinder bekommen können und beide taub sind, wunschgemäß ein genetisch determiniertes taubes Kind bestellt. Die Kinder müssen so sein wie das Paar. Welch eine monströse Fremdbestimmung.

Ich war in der größten IVF-Klinik der USA in Boston und habe mit den Ärzten und Schwestern gesprochen; und ich war in Kalifornien im Eldorado neuer Biotechnologien dieser Art. Dort sagen manche, sie könnten es nicht verstehen, warum Menschen heute noch auf natürliche Weise Kinder zeugen. Hier löst sich der Zusammenhangs von Liebe – Sexualität - Zeugung und Verantwortung für das Kind auf. Die psychischen und gesellschaftlichen Folgen für solche Kinder und für die in diese Prozesse involvierten Menschen sind unabsehbar.

Die Gesetzeslage in Deutschland erlaubt die angeführten Beispiele nicht. Noch nicht? Auch in europäischen Ländern ist manches davon möglich. In Deutschland wird derzeit die restriktive Gesetzeslage aufgeweicht und die Novellierung des Gesetzes zum Verbot der Einfuhr embryonaler Stammzellen betrieben. Die Gewinnung von embryonalen Stammzellen führt aber zur Tötung von Embryonen. Die Tötung embryonaler Menschen wird billigend in Kauf genommen, um Grundlagenforschung betreiben zu können. In der Öffentlichkeit wird so getan, als ob nur diese Forschungswege zur Heilung schwerer Krankheiten führten. Von Stammzellen, die auf andere, unbedenkliche Weise gewonnen werden und die erwiesenermaßen bereits Heilungserfolge erbracht haben, hören wir in der Öffentlichkeit so gut wie nichts. Auch nichts davon, dass in großen Biotechnologiefirmen durchaus erfolgversprechende Entwicklung von Medikamenten betrieben wird, die schwere Krankheiten heilen können, und deren therapeutischer Einsatz ohne ethische Bedenken möglich sein wird. Die größte und zukunftsträchtigste biotechnologische Firma in Oberschwaben geht aus ethischen Gründen diesen Weg und betreibt keine verbrauchende Embryonenforschung.

Christen sind nicht forschungsfeindlich, aber lebensfreundlich! Wir sind dankbar für die großen Erfolge von Forschung und Wissenschaft, ohne die unser Leben in der heutigen Qualität und Lebenserwartung nicht möglich wäre. Aber Christen müssen aufstehen für das Leben, wenn der Mensch in seiner schwächsten und schutzwürdigsten Phase zur Ware und zum bloßen Produkt genetischer Ingenieurskunst oder zum Forschungsobjekt degradiert wird.

Wer Menschen der Forschung opfert, wird bald selbst zum Opfer dieser Mentalität. Wer Menschen im Keim zerstört, der hat keine Zukunft. „Die Ungeborenen sind machtlos“ schreibt Hans Jonas in seinem Buch ‚Prinzip Verantwortung’. Christen müssen ihre Lobbyisten sein.


Umgang mit dem Leben des Menschen am Ende

Auch beim Umgang mit den Menschen am Ende ihres Lebens wird besonders deutlich, dass das christliche Bild vom Menschen vergessen zu werden droht. Denn gerade das Christentum macht deutlich, dass Sterben und Tod eines Menschen kein Unfall sind, sondern zum Leben gehören und dementsprechend sensibel und verantwortungsbewusst gestaltet werden müssen. Vor Jahren schon hat die Deutsche Bischofskonferenz deshalb eine vielfach verbreitete christliche Patientenverfügung herausgegeben, zwischenzeitlich sind die vielen Patientenverfügungen schier unüberschaubar geworden. Ein Gesetz ist vorgelegt, das Eckdaten und Rahmenbedingungen für die Erstellung und Handhabung dieser Patientenverfügungen geben soll. Ich halte all dies für wichtig. Aber bei aller Überlegung über Gesetze und Regelungen, sollten wir nicht vergessen, dass Sterben und Tod damit nicht bewältigt sind. Das Sterben als Teil des Lebens anzunehmen, bleibt eine persönliche, grundeigentliche Aufgabe eines jeden Menschen, die ihm niemand abnehmen kann. Vor allem darf die Debatte um gesetzliche Regelungen nicht auf die Ermöglichung von Tötung auf Verlangen oder aktive Sterbehilfe hinauslaufen. Europäische Länder haben hier negative Erfahrungen machen müssen, die wir nicht übersehen dürfen.
Das vielbeachtete Beispiel der Niederlande hat sich inzwischen als verhängnisvoller Weg erwiesen. „Doktor, bitte töte mich nicht“ steht auf den Karten, die manche Niederländer bei sich tragen vor allem, wenn sie alt sind.
Die Erwartung, durch ein Gesetz aktive Sterbehilfe zu kanalisieren, hat sich nicht erfüllt. Angst hat sich dort breit gemacht. „Die Angst ohne Verlangen von einem Arzt getötet zu werden, ist nicht übertrieben. Jahr für Jahr soll das bei mehr als 900 Menschen geschehen, weil zum Beispiel die Angehörigen die Situation nicht mehr ertragen können. Man kann es ruhig sagen, die Praxis des holländischen Euthanasiegesetzes gilt mittlerweile in Europa als abschreckendes Beispiel.“ (Süddeutsche Zeitung, 29.12.06)

Die Antwort von Christen auf das Sterben des Menschen sieht anders aus. Es besteht in christlicher Hospizarbeit und Palliativmedizin. Es geht um das ‚Sterben an der Hand eines Menschen und nicht durch die Hand eines Menschen’. Das Argument der ‚Selbstbestimmung’, das in Debatten um die Sterbebegleitung nahezu exklusiv leitend ist, muss ergänzt werden durch die Erkenntnis, dass liebevolle Zuwendung zum Menschen in der schwächsten Phase seines Lebens durch nichts zu ersetzen ist. Geliebt zu werden ist noch wichtiger als selbstbestimmt zu leben.

Ich möchte ihnen dazu zwei Begebenheiten aus dem stationären Hospiz St. Anna in Ellwangen erzählen.

Eine alleinstehende, alte Frau, die völlig vereinsamt war, wurde dort zum Sterben eingeliefert. Die Schwestern sorgten für die Frau, die noch einige Tage bei hellem Bewusstsein war. Wenige Stunden vor ihrem Tod dankte sie den Schwestern und sagte: „So viel Liebe wie in den wenigen Tagen bei ihnen habe ich mein ganzes Leben nicht erfahren.“ Sie konnte mit dieser Erfahrung an ihrem Lebensende ihr Leben und ihren Tod ganz anders annehmen.
Als die Annaschwestern die Angehörigen einer anderen alten Dame, die im Hospiz im Sterben lag, verständigen wollten, erfuhren sie, dass ihre Tochter seit 15 Jahren den Kontakt mit ihr abgebrochen hatte und beide einander nicht mehr sehen wollten. Doch die Schwestern konnten die Tochter umstimmen und erreichten, dass sie zu ihrer Mutter kam und dass auch die Mutter bereit war, ihre Tochter nochmals zu sehen. Beide Frauen versöhnten sich am Sterbebett. Glauben Sie nicht, dass die Mutter friedvoller sterben und die Tochter versöhnter weiterleben konnte, als wenn es diese Verständigung beim Abschied nicht gegeben hätte?

Liebe Damen und Herren, sind das nicht Wunder, die hier in unseren Tagen geschehen sind? Wunder aus sensibler Zuwendung und Liebe? Ich bin froh und dankbar, dass ich morgen Nachmittag in Stuttgart-Degerloch das neue katholische Hospiz St. Martin einweihen kann. Auch dort werden Ordensschwestern den christlichen Geist des Hauses verdeutlichen. Und ich bin dankbar, dass es Menschen gibt, viele Ehrenamtliche, die im ambulanten oder stationären Hospizdienst arbeiten. Sie geben Zeugnis vom heilsamen Wirken des christlichen Verständnisses von dem, was ein Mensch ist und was er braucht.

 

2007 Jahr der Berufung

Besonders in der Hospizarbeit wird deutlich, wie wichtig es ist, in unserer Kirche Menschen zu haben, die sich im Sinne der christlichen Nächstenliebe anderen zuwenden und sich für sie einsetzen. Wir brauchen solche Menschen. Und so möchte ich zum Schluss noch einen pastoralen Schwerpunkt für 2007 ansprechen: Ich denke an das aufmerksame Bemühen um ehrenamtliches Engagement und um Berufe der Kirche. Berufungspastoral ist schon seit Jahren eine klare pastorale Priorität. Trotz guter Inhalte und Ideen in der Pastoral, die Verkündigung der frohen Botschaft und die Mitwirkung am Aufbau dessen, was wir Reich Gottes nennen, braucht Menschen. Wenn wir die frohe Botschaft weitergeben wollen, reichen Geld und gute Konzepte nicht aus. Nur durch die Nähe zu den Menschen ist der christliche Glaube traditionsfähig. Nähe zu den Menschen erreichen wir nicht über Papiere, sondern durch Menschen. Wir brauchen engagierte Menschen, christliche Persönlichkeiten, missionarische Christen. Jeder Christ, alle getauften Frauen und Männer, sie alle sind Berufene – jeder und jede hat seine Begabungen, die gebraucht werden. Ich danke den vielen ehrenamtlich Tätigen in unserer Kirche. Ohne sie ist heute Seelsorge undenkbar!

Aber die Kirche und die Ehrenamtlichen brauchen auch die Hauptamtlichen zur Begleitung, Stärkung und Gewährleistung pastoraler Kontinuität. Ich bin froh, dass die finanziellen und personellen Bedingungen es in unserer Diözese ermöglichen, dass wir weiterhin Laienberufe im pastoralen Dienst haben werden: Gemeindereferentinnen/-referenten und Pastoralreferenten/-referentinnen. Die Zahlen derer, die sich auf diese Berufe vorbereiten, stimmen mich zuversichtlich. Jährlich können und werden wir auf absehbare Zeit jeweils 20 Männer und Frauen in beiden Berufe übernehmen können. Es lohnt sich, Theologie zu studieren! Die kirchlichen Berufe, zu denen das Studium befähigt, sind Berufe mit Zukunft und sinnvolle Berufe, die Menschen erfüllen. Gleiches gilt für die Entwicklung der verheirateten Diakone. Schließlich konnte ich in den letzten 6 Jahren insgesamt 60 jungen Männern das Sakrament der Priesterweihe spenden. Trotzdem bereitet mir der Priesternachwuchs die größte Sorge. Wir haben zu wenige, die sich auf den Priesterberuf vorbereiten, und zu wenige Priester für die Pastoral der Gemeinden. Unsere Gemeinden bekommen das mehr und mehr zu spüren. Deshalb bitte ich alle in der Diözese um ihr besonderes Gebet und ich bitte um ihre werbende Aufmerksamkeit für junge Menschen.

Das Jahr der Berufung 2007 wendet sich besonders an die jungen Menschen, die sich überlegen, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Wo sind die Menschen, die sich anderer annehmen, nicht zuerst, weil sie Geld verdienen wollen, sondern weil sie für Anderen da sein wollen, die sie brauchen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren: Sie werden verstehen, dass mich deshalb das, was ich ihnen am Anfang erzählt habe, in diesem Zusammenhang besonders freut, dass wir als Kirche doch so viele jungen Menschen erreichen.

Das Jahr der Berufung soll lebendiger werden lassen, dass alle Christen zugleich Berufene sind und dass alle sich um die besonderen Berufe der Kirche kümmern müssen. Denn wo wir Menschen gewinnen für geistliche Berufe, da tun wir nicht nur etwas für die Kirche, sondern zugleich etwas für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft insgesamt. Geistliche, Pfarrer, Seelsorger sind laut Umfrage nach den Ärzten die Menschen, denen am meisten Vertrauen geschenkt wird. Wer in diesen Berufen arbeitet, mehrt also das Vertrauenspotential in unserer Gesellschaft. Wie aber könnte das Zusammenleben der Menschen ohne Vertrauen gelingen?

Wenn wir Menschen ermuntern, ihre Gaben und Begabungen zu leben und sie für andere einzusetzen, tun wir einen Dienst an ihnen: wir helfen mit, dass sie ihre Persönlichkeit zur Entfaltung bringen können und wir leisten als Kirche einen Dienst am Zusammenleben aller in unserer Gesellschaft. Engagierte Christen leben die Grundhaltungen und Werte, die unser Gemeinwesen braucht, um auch in Zukunft zu bestehen.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen nochmals ein gesegnetes, behütetes und gutes Jahr 2007!

 

Anmerkung der Redaktion: Es gilt das gesprochene Wort.

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