Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2009

Stuttgart

„In Verantwortung vor Gott und den Menschen“

Meine sehr geehrten Damen und Herrn!

Ich grüße Sie alle sehr herzlich. Ich danke Ihnen, dass sie meiner Einladung wieder so zahlreich gefolgt sind. Ich freue mich, ihnen zu begegnen.
Wer in diesen Tagen zum Neuen Jahr eine Rede zu halten hat, kann dem nicht ausweichen, was die ganze Welt derzeit in Atem hält: die Krise der Internationalen Finanzmärkte und die damit zusammenhängenden kritischen Entwicklungen in der globalisierten Wirtschaft weltweit und auch in unserem Land. Auch ich werde dieser Situation, in die wir hineingeraten sind, nicht ausweichen.

Aber ich möchte auch andere Probleme, die mir Sorge bereiten, nicht vernachlässigen. So nehme ich in unserer westlichen Kultur eine neue Qualität eines sich teilweise auf die Naturwissenschaften stützenden, offensiv werdenden Atheismus wahr. Und ich beobachte eine weltweite Verfolgung von Christen unterschiedlichster Konfessionen, über die immer mehr besorgniserregende Daten und Zusammenhänge bekannt werden.
In der globalisierten Welt stellt sich auf diesem Hintergrund unabweisbar die Frage, von welchen Menschen- und Gottesbildern und - damit aufs engste verknüpft - von welchen Grundvorstellungen und Grundorientierungen wir uns in der Gestaltung unseres globalen Zusammenleben aber auch bei uns leiten lassen wollen.

Erster Teil
Die Krise der internationalen Finanzmärkte - und was wir daraus lernen können und sollen!

Im ersten Teil meiner Rede möchte ich auf die Krise der internationalen Finanzmärkte eingehen und auch danach fragen, was wir daraus lernen sollten.
Meine Damen und Herren, wir stecken offensichtlich in der schwersten Krise der internationalen Finanzmärkte seit 1929. Viele Menschen wurden bereits weltweit um Hab und Gut gebracht und ihrer Zukunft beraubt. Die Weltwirtschaft ist auf dem Weg in die Depression. Wir hören bisher allermeist bloß davon. Zu spüren haben wir die gravierenden Folgen noch kaum bekommen. Aber was geschieht morgen? Und noch einmal zurückgefragt, wie konnte es überhaupt soweit kommen? Vielerorts sind schon Analysen vorgetragen worden, die ich jetzt nicht erneut vorstellen will. Ich möchte aber heute auf eine Dimension hinweisen, die bisher in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt.

Bei der krisenhaften Entwicklung haben nicht einfach nur Regelwerke und Kontrollorgane versagt. Da haben auch Menschen im großen Maßstab versagt. Und sie haben Schuld auf sich geladen. Wer anderen angeblich mit hoher Rendite versehene Risikopakete aufdrängt, ohne selbst die Mechanismen zu durchschauen, nur um selbst möglichst hohe Rendite zu erzielen und eigene Gewinnbeteiligungen einzustreichen, und das alles weil es die anderen ja auch tun, der handelt unverantwortlich, betrügt Menschen und raubt ihnen Hab und Gut.

Einer der einflussreichsten amerikanischen Hedgefonds-Manager, der ehemalige Chef der amerikanischen Computerbörse Nasdaq, Bernard Madoff, hat mit Geld, das ihm anvertraut wurde, jahrelang extrem hohe Renditen für anderes bei ihm scheinbar gut angelegtes Kapital bezahlt. Als nun in der Krise die Einleger ihr Geld zurückwollten, war keines mehr da. Von den 50 Milliarden blieben nur 300 Millionen Dollar übrig. Bei seiner Verhaftung sagte Madoff, er habe „keine Entschuldigung“ parat. Es wäre allein seine Schuld, denn „ich bezahlte Leute mit Geld, das es gar nicht gibt.“ Leitenden Angestellten seines Unternehmens gegenüber bekannte er: „Es ist alles eine große Lüge!“ - Hier haben Menschen versagt und Schuld auf sich geladen.

Als ich im November zu Wirtschaft und Ethik einen Vortrag hielt, wurde mir vorgehalten, ‚die Kirchen hätten sich doch lange vor der Krise diesen Entwicklungen entgegenstellen müssen und mahnen und kritisieren sollen.’ Sie seien ihrer moralischen Verantwortung und Wächterfunktion nicht gerecht geworden. Heute wird also den Kirchen vorgeworfen, sie hätten vor der Krise weder etwas bemerkt noch etwas gesagt.

Aber dies ist nicht richtig! Schon seit Jahren fordert die katholische und auch die evangelische Kirche ethisches Verhalten in den Unternehmen, zu denen auch die Banken gehören. Und wir haben Regeln für den sich globalisierenden Markt eingefordert. Dies wurde aber nicht gehört oder nur mitleidig belächelt!

Ich möchte ihnen nur einige Dokumente und Formulierungen der letzten 10 Jahre vorstellen, um ihnen ein eigenes Urteil zu ermöglichen.
Bereits im Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ aus dem Jahr 1997 wird mit Blick auf die Entwicklungen an internationalen Finanz- und Kapitalmärkten festgestellt, dass von ihnen nicht nur stabilisierende, sondern auch destabilisierende Wirkungen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen können. Zitat: „Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital.“ (162)

In diesem Sinne und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Finanz- und Währungskrisen veröffentlichte die wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2001 die Studie „Globale Finanzen und menschliche Entwicklung“ mit dem Anliegen, ethische Maßstäbe für eine Reform der internationalen Finanzmärkte zu erarbeiten und die Notwendigkeit stabiler Finanzmärkte für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung auch im Dienst auch der Armen, die in besonderer Weise von Finanz- und Wirtschaftskrisen betroffen sind, zu unterstreichen.
Ebenso legte im selben Jahr 2001 eine Expertengruppe der ComECE, der Kommission der katholischen Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, nach intensiver Vorbereitungszeit mit dem Bericht “Global Governance. Unsere Verantwortung, Globalisierung zu einer Chance für alle werden zu lassen“ das Konzept einer globalen Ordnungspolitik vor, das u. a. auch die Forderung nach stärkerer Überwachung von Finanzsituationen vorsieht.

In der Einführung zu diesem Bericht schreiben die Auftraggeber, die bischöflichen Präsidenten der ComECE: „Ernsthafte Bemühungen um den Aufbau eines globalen Ordnungssystems können den Menschen die Gewissheit vermitteln, dass unsere Welt nicht führungslos ist oder außer Kontrolle gerät. Das Wirken für einen verlässlichen globalen Ordnungsmechanismus vermittelt Menschen die Hoffnung, dass globale Fragen künftig gelöst werden, dass Hegemonien jedweder Art vermieden und gleichzeitig die Grundwerte Gerechtigkeit und Freiheit gefördert werden. (…) Wir hoffen deshalb, dass das in diesem Bericht vorgestellte Konzept einer globalen Ordnungspolitik eine neue entwicklungspolitische Richtung weisen wird“. (Global Governance, Seite 3-5)
Soweit das Zitat.

Warum diese Positionen nicht richtig bekannt geworden sind und nicht gegriffen haben, ist eine Frage, der ich heute nicht nachgehen kann, die sich aber stellt.
Der Ständige Rat der katholischen deutschen Bischöfe hat im November 2008 einige erste Orientierungspunkte zur Finanzkrise verfasst und neben anderen auch die Forderung erhoben, dass es auf internationaler Ebene eine Verständigung über gemeinwohlorientierte Regeln geben müsse und Institutionen und Organe mit Möglichkeiten zur Durchsetzung dieser Regeln geschaffen werden müssten.

Insofern seien handlungsfähige Aufsichtsbehörden und eine am Oberziel der Systemstabilität auszurichtende Bankenaufsicht zentrale Aufgaben der Zukunft. Des weiteren böten die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft eine Orientierung für die zu schaffenden Rahmenbedingungen des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems. Die Soziale Marktwirtschaft verbinde das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem der Ordnung, der Verantwortung und des sozialen Ausgleichs. Sie verpflichte sich einem wertebasierten Handeln im Wirtschaftsprozess, in dem Markt und Wettbewerb dem Menschen dienen sollten. Dazu sei auch eine „moralische Erneuerung“ bei den Akteuren notwendig. Ähnliches war schon zu lesen im Gemeinsamen Text der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2006: „Demokratie braucht Tugenden“.

Im Zusammenhang der krisenhaften Entwicklungen der Finanzmärkte und der Folgen, möchte ich nochmals darauf hinweisen, wie sich das alles auf die Diözese Rottenburg-Stuttgart ausgewirkt hat, bzw. auswirkt. Ich kann ihnen gerne mitteilen, dass die Ortskirche Rottenburg-Stuttgart insgesamt von den unmittelbaren Auswirkungen der Finanzkrise nicht betroffen ist. Ein umsichtiges Finanzmanagement, also der verantwortungsvolle Umgang mit den Kirchensteuergeldern, hat uns bewusst keine verlustreichen Risikogeschäfte tätigen lassen.

Wir haben eine grundsolide Finanzlage. Allen, die in der Diözesan-Leitung dazu ihren hoch einzuschätzenden Beitrag geleistet haben und leisten, möchte ich herzlich danken! Mein Dank gilt ebenso der kompetenten Mitwirkung des Diözesanrats! Solch ein Umgang mit dem Materiellen wirkt sich heilsam aus in unserer Kirche, aber auch heilsam auf die Menschen in unserer Gesellschaft. Zunächst bedeutet dies, dass wir unsere kirchlichen Arbeitsplätze erhalten können. Dass wir unsere 45.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Beschäftigung halten können, ist für sie selbst, für ihre Familien und alle, die ihnen anvertraut sind, von größter Bedeutung.

Wenn wir noch darüber hinaus schauen, so zeigt sich, dass die finanzielle Solidität es uns ermöglicht, die sozial-karitative Dimension unseres kirchlichen Handelns beibehalten zu können. Wir werden eine diakonische Kirche im umfassenden Sinn bleiben und unser diakonisches Engagement erhalten können, weil wir mit den finanziellen Voraussetzungen unseres diakonischen Grundauftrags verantwortungsbewusst umgegangen sind.

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten für andere Menschen, in den kulturellen Einrichtungen unserer Diözese, in unseren Schulen und Bildungseinrichtungen, sie wirken durch die sozialen und karitativ-diakonischen Angebote, durch unsere Hilfe- und Beratungseinrichtungen, in unseren Kindergärten und Krankenhäusern usw. Sie arbeiten durch eine moderne Seelsorge für Menschen, die diese Sorge um ihr Leben und Heil brauchen und annehmen möchten. Unsere Dienste sind für alle offen – ob Christen oder Nichtchristen, ob Deutsche oder Ausländer, ob jung ob alt, ob reich oder arm. Durch das kirchliche Handeln tragen wir Werte in unsere Gesellschaft hinein und können so den Menschen ein bewährtes Orientierungsangebot anbieten, eine frohe Botschaft, die dem Leben tagtäglich und über alle Tage hinaus Sinn gibt.

Meine Damen und Herren! Für die an unserem diözesanen Finanzgebaren noch weiter Interessierten möchte ich noch folgendes hinzufügen: Eine der Grundlagen für die Stabilität der Finanzen liegt im Anlageverhalten für die Finanzmittel des Diözesanhaushalts. Wir haben Anlageprodukte, in denen amerikanische Immobilienkredite verbrieft sind, nicht gekauft. Zudem haben wir bereits im 4. Quartal des Jahres 2007 die Aktienanteile als Anlagebeimischung von einem schon niedrigen Niveau nahezu vollständig reduziert. Unsere Anlagen werden in soliden Produkten getätigt. Die aktuelle Aktienquote beträgt lediglich ca. 0,06%. Die Risiko vermeidende Anlagestrategie hat bewirkt, dass auch 2008 eine positive Anlageentwicklung erreicht werden konnte.
Gehen wir wieder auf die nationale und internationale Ebene, dann geht es insgesamt um die Frage, welche Konsequenzen aus der krisenhaften Entwicklung gezogen werden müssen. Die Katholische Kirche in Deutschland ist insgesamt davon überzeugt, dass - ganz auf der Linie der Forderungen der letzten Jahre - aus der globalen Krise möglichst zeitnah international ordnungspolitische Konsequenzen gezogen werden müssen. Es geht um ein internationales Regelwerk für Finanzgeschäfte.

Es geht aber zweitens – und das erscheint mir ebenso dringlich, wenn nicht unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit noch dringlicher – um die neue Wertschätzung von Tugenden und um die ethisch-moralische Grundorientierungen der in den Finanzmärkten und im Wirtschaftsgeschehen insgesamt handelnden Personen. Statt weiteres Versagen der Marktakteure brauchen wir eine neue Wertschätzung und die Wiederbelebung der moralisch-verantwortlich handelnden Persönlichkeit.

Bei der Debatte über die Krise der Finanzmärkte im Deutschen Bundestag, am 7. Okt. 2008 formulierte ein Abgeordneter diese Notwendigkeit folgendermaßen: „Diese Krise zeigt an allererster Stelle, dass kein Regelwerk (…) bestehen kann, wenn die einzelnen wirtschaftlichen Akteure meinen, frei von moralischer Bindung, frei von unternehmerischer Ethik, ohne gesamtgesellschaftliches Verantwortungsgefühl agieren zu können. Der Staat kann durch Regulierung nie ersetzen, was von verantwortlichen Wirtschaftsakteuren an moralischer Selbstverpflichtung nicht mehr empfunden wird. Nach unserer Überzeugung gehört der Vorrang der ethischen Dimension unmittelbar und originär zur Marktwirtschaft, und zwar an allererster Stelle.“ (Norbert Röttgen)

Wenn ich seriöse Berichte einschlägiger Zeitungen über die Hintergründe der krisenhaften Entwicklung der Finanzmärkte lese, so komme ich zu dem Urteil, dass gegen mindestens zwei der Gebote von den Zehn, die wir aus der jüdisch-christlichen Tradition kennen, in eklatanter Weise verstoßen wurde. Wenn ich an Machenschaften denke, die zahllose Menschen um viel Geld, um ihr Hab und Gut, ja um ihre Existenz gebracht haben; oder wenn ich von Machenschaften höre, von denen man sagen muss: Alles war Lüge!, oder von Verträgen höre, die mit der Qualifikation ‚Täuschung’ versehen werden müssen, dann erhalten die beiden Gebote: ‚Du sollst nicht lügen!’ und: ‚Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut!’ eine nicht zu übertreffende Relevanz für alle Betroffenen. Vielen Geschäften, die in den letzten Jahren gemacht wurden, mangelt es an ethischer Qualität.

Aus der Erfahrung der letzten paar Monate haben wir gelernt: es ist verhängnisvoll, wenn Menschen etwas machen, nur weil es andere auch tun, statt eigenverantwortlich zu handeln. Wer seine im letzten unvertretbare Verantwortung nicht wahrnimmt, handelt fahrlässig. Und alles führt zum Zusammenbruch, wenn Menschen einander belügen, betrügen und täuschen und wenn Menschen das Hab und Gut ihrer Mitmenschen nicht heilig ist. Die Krise der letzten Wochen ist für mich auch ein dramatischer Kommentar zum Thema Aktualität der Zehn Gebote Gottes für die Menschheit. Auch für die Finanz-Geschäfte und die Wirtschaft muss gelten: Du sollst nicht lügen, und: Du sollst nicht begehren deines nächsten Hab und Gut!

Es geht also nicht nur um ordnungspolitische Maßnahmen, es geht um die Erneuerung der moralisch handelnden Persönlichkeit, dass Menschen persönliche Verantwortung übernehmen für ihr Tun und Lassen. Es geht darum, dass diese moralische Persönlichkeit sich von Großorientierungen leiten lässt, in der die Erfahrung von Jahrtausenden für ein gutes und gedeihliches Zusammenleben der Menschen kondensiert sind. Und das sind die Zehn Gebote, die Mose von Gott am Sinai empfangen hat. Diese Gebote wenden sich an den Menschen und weisen ihn hin auf seine Verantwortung für seine Mitmenschen, deren Lebens- und Zusammenlebensgrundlage er nicht zerstören soll.

Kein Geringerer als der große Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, dessen Jahrhundertroman ‚Die Buddenbrooks’ wir zur Zeit in den Kinos sehen können, sieht in seiner Moses-Erzählung ‚Das Gesetz’ in den zehn biblischen Geboten einfach „das ABC des Menschenbenehmens“.
Aber, meine Damen und Herren: Empfinden Sie es nicht fast als unerlaubte Störung in der Öffentlichkeit, heute hier im Raum einer große Bank über Moral, über die Zehn Gebote und über Gott zu reden? Meine Damen und Herren, gerade in der Privatisierung des Christlichen liegt meiner Ansicht nach auch eine wesentliche Ursache für vieles, was wir erleben müssen. Was öffentlich nicht präsent sein darf und nicht präsent ist, das ist auch nicht wirklich und spielt deshalb auch für mich selbst und mein Verhalten keine Rolle.

Zweiter Teil
Die neue Infragestellung Gottes

Meine Gedanken zu dem in Gott verankerten „ABC des Menschenbenehmens“, den Zehn Geboten, führen mich zu einem zweiten, viel kürzeren Teil meiner Rede, in dem ich mich mit dem in letzter Zeit aggressiver werdenden Atheismus beschäftigen möchte.

In seiner Bestreitung Gottes höhlt der Atheismus auch den Geltungsanspruch der Gebote Gottes für den Menschen aus. Ich bin überzeugt, dass die moralisch handelnde Persönlichkeit, das auf Ethos und Moral basierte Zusammenleben und die auf Ethos und Moral basierende Verantwortung von Menschen ins Wanken geraten, wenn die Gottesfrage existentiell negativ beantwortet wird. Dass es keinen Gott gibt, gegenüber dem man letztlich Verantwortung zu tragen hat und vor dem man sich letztlich verantworten muss, diese mit steigender Aggressivität vorgetragene Überzeugung nimmt in den letzten Jahren zu. Die Bestreitung Gottes ist letztlich eine Kampfansage auch an eine alle bindende Moral. Und auch eine Kampfansage gegenüber dem in der Präambel unseres Grundgesetzes festgeschriebenen Grundsatz, die Verfassung unseres Gemeinwesens und seine Gestaltung stehe „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

Der neue offensive Atheismus fordert Christen neu heraus, Rechenschaft zu geben von ihrem Glauben. Christen müssen hellwach werden und Strömungen, die unsere Zeit bestimmen oder zu beeinflussen versuchen, aktiv zur Kenntnis nehmen und ihre eigene Glaubensüberzeugung offensiv vertreten. Das ist ein weites Feld. Und ich möchte nur auf eine Dimension in dieser argumentativ zu führenden Auseinandersetzung aufmerksam machen, die uns in den kommenden Jahren vermutlich vermehrt beschäftigen muss. Es ist der sich auf Naturwissenschaft berufende und gegenwärtig besonders mit Evolutions-Biologie angereicherte neue Atheismus.

Das Jahr 2009 wurde vielfach als Darwinjahr ausgerufen. Am 12. Februar 2009 jährt sich Charles Darwins Geburtstag zum 200. Mal. Zudem veröffentlichte Darwin sein zentrales Werk ‚Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese’ im November 1859, also vor 150 Jahren. Das Jahr 2009 wird wohl die Auseinandersetzung um die Frage Darwinismus und Schöpfungsglaube verschärfen. Mit der Ablehnung des Schöpfungsglaubens geht auch die Bestreitung Gottes einher. Der Darwinismus liefert vielen das Argumentationsmaterial für die atheistische Position, Gott existiere nicht. Vereinfacht wird z.B. gesagt: Der Mensch hat sich aus dem Tierreich entwickelt, also braucht es keinen Schöpfer, überhaupt entstehe und entwickle sich das Leben aus sich selbst.

Nun ist aber – weniger bekannt, weil anspruchsvoller als manche zeitgenössischen Bücher zum Atheismus - aufgrund der Erforschung der Gene des Menschen eine neue Situation entstanden. Johannes Bauer - um nur ein Beispiel zu nennen - stellt in seinem Buch ‚Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus’, fest: „Nachdem das Erbgut des Menschen und anderer Spezies vollständig entschlüsselt werden konnte, vollzieht sich in der Biologie eine Revolution des Denkens. Lange gepflegte darwinistische Dogmen erweisen sich als unhaltbar.“

Nach Ansicht der modernen Genetik benötigt der Darwinismus Ergänzungen oder Erweiterungen. „In jedem Fall können weder die Tatsache der Evolution noch die darwinistische Interpretation auf Fragen über den Sinn der beschriebenen Ereignisse eine Antwort geben, da Fragen über Sinn und Bedeutung nicht im Bereich der Naturwissenschaften liegen.“

Nach der in der katholischen wissenschaftlichen Theologie herrschenden Überzeugung besteht zwischen Evolution und Schöpfung kein Gegensatz. Gott kann eine Welt geschaffen haben, welche die Fähigkeit besitzt, sich zu verändern und sich nach natürlichen Ursachen zu entwickeln. Pierre Teilhard de Chardin formuliert: „Gott lässt die Dinge sich machen“. Im letzten bedeutet dies ein kontinuierlich weitergehendes Schöpfungsgeschehen. Das Dasein entwickelt sich und es ist da, weil es geschaffen worden ist. „Recht verstandener Schöpfungsglaube und recht verstandene Evolutionslehre stehen sich nicht im Wege: Evolution setzt Schöpfung voraus: Schöpfung stellt sich im Licht der Evolution als ein zeitlich erstrecktes Geschehen – als creatio continua – dar, in dem Gott als der ‚Schöpfer des Himmels und der Erde’ den Augen des Glaubens sichtbar wird.“ (Johannes Paul II.)

Ich habe in meinen Bemerkungen zum Atheismus den Darwinismus angesprochen, weil der Atheismus, das im Darwinismus als innere Dynamik formulierte Gesetz, nach dem der Stärkere überlebt, leicht zum Sozialdarwinismus und zum Wirtschaftsdarwinismus mutiert. Dann ist unter Suspendierung der Moral auch das innere Movens des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des Wirtschaftslebens das Recht des Stärkeren mit allen Konsequenzen. Der Kampf ums Dasein und das Recht des Stärkeren kann schließlich Menschen, die in der Dynamik der Evolution denken, zu Positionen führen, die der Friedrich Nietzsches nahestehen: „Man soll das Schwache und Kranke noch stoßen, dass es falle.“ Im praktischen Sozialdarwinismus wäre dann das Recht des Stärkeren - das darwinistische ‚survival of the fittest’ - legitimiert als Natur-Gesetz. Mit der Menschenwürde und den Grundrechten der Menschen ist dies unvereinbar.

Dritter Teil
Verfolgungssituation der Christen weltweit

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich im Dritten Teil meiner Ausführungen noch auf ein selten beachtetes, aber für die Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte der Menschen ebenso zentrales wie globales Problem eingehen. Ich meine die weltweite Verfolgung von Christen.
Rund 80 Prozent der Menschen, die derzeit wegen ihres Glaubens verfolgt werden, sind Christen – die christliche Religion ist damit zurzeit die meistverfolgte auf der Welt. In absoluten Zahlen klingt dieser Befund nicht weniger dramatisch: Von den weltweit rund 2,2 Milliarden Christen leiden im Jahr 2008 ca. 230 Millionen wegen ihres Glaubens unter Diskriminierungen, schwerwiegenden Benachteiligungen und zum Teil heftigen Anfeindungen bis hin zu wirklicher Verfolgung.

Wir können uns in unserem Alltag auch nicht annähernd vorstellen, wie die tägliche Lebenswirklichkeit von Millionen Christen weltweit aussieht. Max Klingberg von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) stellt fest: „Nimmt man internationale Rechtsstandards als Maßstab, so ist die Lage dieser Christen oft eine einzige Katastrophe. Ein Desaster, an das sich alle Beteiligten gewöhnt haben und das von unserer säkularen Gesellschaft – wenn überhaupt – nur dann ansatzweise zur Kenntnis genommen wird, wenn außergewöhnlich starke Erschütterungen Flüchtlingsströme über die Welt spülen.“ (So Max Klingberg, Referent der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), zit. nach: Bonner Querschnitte Presseinformationen, 17.10.2007.)

Die Liste der Staaten, in denen Christen diskriminiert oder verfolgt werden, ist bedrückend lang. Trotz internationaler Gremien, die sich für Glaubens- und Gewissensfreiheit einsetzen, ist das Ausmaß der Christenverfolgung im 21. Jahrhundert gewachsen. Alle Kontinente und Regionen sind betroffen, wobei man natürlich nach Grad der Verfolgung und Unterdrückung differenzieren muss. Deutliche Schwerpunkte sind in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in verschiedenen arabischen und nordafrikanischen Staaten sowie in der Volksrepublik China und angrenzenden Ländern zu erkennen.

Ich bin überzeugt, dass dieses Problem der Christenverfolgung in unserer globalisierten Welt von so hoher Bedeutung ist, dass ich es in meiner Neujahrsansprache ausdrücklich benennen und ins Licht der Öffentlichkeit rücken möchte. Das überkonfessionelle Hilfswerk Open Doors gibt an, dass weltweit etwa 200 Millionen Christen in 25 Ländern wegen ihres Glaubens von Misshandlungen, Gefängnis oder Tod bedroht sind. Open Doors gibt einen jährlich aktualisierten Weltverfolgungsindex heraus, der für jedes Land das Maß der Christenverfolgung angibt. Wer sich näher dafür interessiert, kann das nachlesen im Jahrbuch 2008 zur Christenverfolgung heute.

Die Untersuchungen über die weltweite Verfolgung von Christen lässt einen Rückschluss auf die öffentliche Rolle von Christentum und Kirche in Gesellschaft und Staat zu. Zum Christentum gehört die öffentliche Dimension. Diese auszuüben, wird den Christen allzu oft aktiv oder passiv verwehrt. Auch hier bei uns in Deutschland darf der Glaube nicht als Privatsache behandelt werden.
Noch ein zweiter Befund ist unübersehbar: Bei der Mehrheit der Länder, in denen Christen um ihres Glaubens willen leiden, handelt es sich um islamisch geprägte Staaten. Beim ebenso notwendigen wie wünschenswerten Dialog mit dem Islam muss dies angesprochen werden.

Und damit komme ich zu meiner anfänglichen Überlegung in diesem Abschnitt zurück, dass Missachtung der Religionsfreiheit in der Regel in jenen Staaten zu beobachten ist, in denen allgemein die Grundrechte und Freiheitsrechte missachtet werden. Umgekehrt lässt sich dann sagen, dass die Achtung der Religionsfreiheit als Grundrecht eines jeden Menschen der beste Garant dafür ist, dass auch Freiheit und Menschenwürde geachtet werden. Das Christentum muss der beste Verbündete sein und ist es fast ausnahmslos, wenn es darum geht, in einer Gesellschaft die Grundrechte und Menschenwürde zu wahren und zu schützen.

Es ist unsere Pflicht, am Schicksal der Opfer Anteil zu nehmen und uns für sie einzusetzen. Hierzu gehören individuelle Unterstützungen ebenso wie politisch-gesellschaftliche Lobbyarbeit. Vor allem aber bedarf es unserer Aufmerksamkeit und unserer engagierten Sensibilität und solidarischen Intervention für bedrängte, bedrohte oder gar verfolgte Christen in verschiedensten Ländern unserer Erde.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In Zeiten einer weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, in der bereits für viele Menschen materielle Werte vernichtet wurden, und in denen der materielle Wohlstand seine deutlichen Grenzen erfährt, ja bei uns dabei ist abzunehmen und in vielen Ländern neue Armut hervorbringt, droht Instabilität; auch für unserer Demokratie, wenn sie nur auf die Mehrung materiellen Wohlstands, auf Fortschritt und technologische Innovationen aufgebaut sein sollte.

Ich darf in diesem Zusammenhang an die Worte der Pastoralkostitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnern: „Alles, was die Menschen zur Errichtung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, ist wertvoller als der technische Fortschritt“ (Nr. 35). Die Bedeutung dieser Aussage sollten wir angesichts der gegenwärtigen weltweiten Entwicklungen und Krisen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern nach besten Kräften danach handeln.

Würden unsere westlichen Kulturen und Gesellschaften atheistisch, verlören Religionen den Kopf und nähmen dämonische Züge an wie das ja zum Teil im Fundamentalismus und Terrorismus geschieht, geschähe dies, dann wüsste ich nicht, wie wir bei uns und weltweit weiterhin human zusammenleben könnten.
Unsere demokratische Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann: das sind ethische Grundorientierungen der Menschen und des Ganzen, das ist ein dem guten Zusammenleben dienliches Menschen- und Gottesbild, und das sind von einem humanen Ethos bestimmte verantwortungsvoll, moralisch integer handelnde Führungskräfte in allen Bereichen. Die Moralität der Personen ganz besonders der Verantwortungsträger, die ethische Grundorientierung im Zusammenleben und die religiöse Fundierung unseres Gemeinwesens sind von entscheidender Bedeutung.

Diese von Staat und Gesellschaft mit ihren Subsystemen wie z.B. Finanzen und Wirtschaft, nicht einfach selbst herstellbaren Voraussetzungen brauchen beide - wie das Land das Wasser braucht zur Fruchtbarkeit. – Ist dies richtig, und ich bin überzeugt, dass es richtig ist, dann muss der Staat gewährleisten, dass diese Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, sich entfalten und wirksam werden können. Er darf die Quellen nicht verstopfen, die das Wasser liefern, ohne das die Gesellschaft nicht human, produktiv und innovativ ist.

Meine Damen und Herren, in der Katholischen Kirche in Deutschland ist in den Tagen zwischen Neujahr und dem Fest der Heiligen Drei Könige, das wir heute feiern, Sternsingerzeit. Die Sternsinger gehen in die Wohnungen der Menschen. Sie singen ihnen vom Weg der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem und wie sie das göttliche Kind anbeten. Die Sternsinger segnen die Häuser mit großer Freude und bitten um Gaben, damit etwas gegen Gewalt, Streit und Feindschaft getan werden und Friede bei den Menschen einkehren kann. In diesen Tagen gehen in unserer Diözese und in der Erzdiözese Freiburg, also im Land Baden-Württemberg, wieder ca. 50.000 Sternsinger mit dieser Botschaft zu den Menschen. 500.000 sind es deutschlandweit. Die Sternsinger sind die größte Friedensbewegung, die ich kenne! Kinder und Jugendliche setzten sich ein für Frieden aus dem Geist der Frohen Botschaft des Festes der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, indem das ewige Wort Gottes Mensch geworden ist. Die Weisen dieser Welt beten Gott an im göttlichen Kind und werden dadurch auf andere Wege des Lebens und Wirkens gebracht. So sind die Sternsinger auf ihre Weise Zeugen einer missionarischen Kirche, die in diesen Tagen bei uns Millionen von Menschen erreicht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen sie die Botschaft dieser Sternsingerzeit mit in das kommende Jahr. Es geht ein Trost aus von dieser Bewegung und von ihrer Botschaft. Und es geht Zuversicht und Hoffnung von ihr aus. Beides brauchen wir ganz besonders bei all den schlimmen Nachrichten, die uns in diesen Tagen erreichen.

Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Jahr 2009!

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