Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2011

Stuttgart

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Lassen Sie mich ohne Umschweife beginnen:
Das Jahr 2010 war für die katholische Kirche alles andere als ein einfaches Jahr. Meine diesjährige Rede hat deshalb - mehr als sonst - auf den ersten Blick eher innerkirchlichen Charakter. Aber der innere Zustand der Kirche und die binnenkirchliche Atmosphäre ist für die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihre Wirkung nach außen von großer Bedeutung. Deshalb sind in der momentanen Situation Überlegungen zur innerkichlichen Situation von erheblicher Relevanz auch für die Gesellschaft!

Welches Bild wir als Kirche nach außen abgeben, hängt unmittelbar mit dem inneren Zustand unserer Kirche zusammen. Glaubwürdigkeit erlangt man nicht durch PR-Maßnahmen, sondern durch glaubwürdiges Sein und Handeln. Menschen schauen sich die Kirche genau an und fragen: Ist in der Kirche drin, was draufsteht? Je nachdem, werden sie sie beachten, ignorieren oder ablehnen. Ein Erneuerungsprozess muss daher von innen kommen!

Eine kritische Darstellung dessen, was in der Kirche 2010 war und welche Lehren und Konsequenzen wir als Kirche daraus ziehen müssen, ist deshalb auch eine Botschaft an die Öffentlichkeit, die ich zu diesem Neujahrs-Empfang ja auch mit einlade und erreichen möchte.

Und so möchte ich diesem Erneuerungsprozess von innen einige Überlegungen widmen - dies wird den großen, mittleren Block meiner Rede ausmachen, im zweiten und dritten Teil, nachdem ich mit der Jugend und den Räten unserer Diözese, im ersten Teil, beginnen werde. Ich werde schließen mit einem auch aktuell schmerzhaften Aspekt, der Situation der Christen unter Verfolgung, dem vierten Teil.

I. Die Jugend und die Räte unserer Diözese

Die Jugend in unserer Kirche

Ich möchte mich zunächst eher etwas erzählend meinem Thema „Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit der Kirche“ annähren, indem ich einiges aus dem Jahr 2010 Revue passieren lasse:

Trotz des schwierigen Jahres gab es auch sehr erfreuliche Ereignisse. Ein herausragendes Ereignis war im Juli 2010 die internationale Ministrantenwallfahrt nach Rom: 45.000 Ministrantinnen und Ministranten waren aus Deutschland mit dabei: 5.300 junge Menschen allein aus unserer Diözese. Mit ihnen habe ich in St. Paul vor den Mauern eine uns alle begeisternde Eucharistiefeier feiern dürfen. Ministranten, wir haben 35 Tausend in der Diözese Rottenburg-Stuttgart - das sind Kinder und Jugendliche, die bei der Eucharistiefeier, im Herzen der liturgischen Dimension unserer Kirche, im Zentrum des Glaubens, ihren Dienst tun: regelmäßig und mit großem Eifer! Seit Jahren ist diese Zahl stabil, ja sogar im Steigen begriffen. Diese Erfahrung hat mir wieder einmal gezeigt, dass junge Menschen Freude haben an der Feier des Glaubens, am Glaubensfest der Kirche, dass sie im Herzen der christlichen Religion gerne mitwirken.

Die Räte unserer Ortskirche

2010 war oft zu hören, die Verantwortlichen der Katholischen Kirche würden den Christen-Menschen zu wenig zuhören, sie würden das Volk Gottes zu wenig ernst nehmen und sich zu wenig raten und beraten lassen. In der Tat, Rat und Beratung sind für uns als Kirche von großer Bedeutung. Ich möchte deshalb hierzu - insbesondere zur Bedeutung der Räte - einiges ausführen, geht es doch um die kirchenrechtlich vorgeschriebene und ortskirchlich geregelte Mitwirkung und Mitverantwortung der Laien in der Kirche.
Rat und Beratung erhält und erwartet der Bischof und die Diözesanleitung in Rottenburg-Stuttgart in qualifizierter Weise vom Diözesanrat, der sich unter Leitung des Präsidiums regelmäßig trifft. Er besteht aus ca. 120 aus dem Gottesvolk gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Diözese und berät in Sachen der Pastoral sowie des kirchlichen und politischen Handelns der Diözese. Und er hat in unserer Diözese - einzigartig in der Universalkirche! - als Kirchensteuervertretung die Finanzhoheit und beschließt den Haushalt.
So haben wir z.B. die Pastoralen Prioritäten - das heißt das, was die Seelsorge und das kirchliche Handeln leiten soll und für die Pastoral diözesanweit vom Bischof in Kraft gesetzt wird - mit großem Erfolg in den Jahren 2002 und 2003 gemeinsam erarbeitet. Sie sind bis heute hochaktuell und in Geltung. Die sehr weitreichenden Beschlüsse zur Haushaltskonsolidierung (Sparprozess) konnte die Diözesanleitung zusammen mit dem Diözesanrat fassen und ohne Entlassungen und ohne größere Konflikte realisieren. So haben wir - und ich bin stolz darauf - dank des Zusammenwirkens von Diözesanleitung und Diözesanrat einen schuldenfreien Doppelhaushalt 2011/ 2012 verabschieden können.

Weil diese Räte so wichtig sind und erfolgreich, effektiv und effizient arbeiten, rufe ich ihre Bedeutung für unsere Ortskirche immer wieder in Erinnerung. Und ich kann dieses Modell, das wir das ‚Rottenburger Modell’ nennen, nur über die Diözesangrenzen hinaus empfehlen. Es bewährt sich im konstruktiven Miteinander, gerade in so schwierigen Situationen wie im Augenblick in unserer Kirche.

Am 11. September 2010 konnten wir das 40jährige Bestehen dieses Diözesanrates feiern. Der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Alois Glück, hat seinem Festvortrag den Überschrift gegeben: „Warum wir uns ändern müssen. Kirche auf dem Weg in die Zukunft.“ Bei diesem Anlass habe ich das Wirken der Räte erneut und nachdrücklich begründet und gezeigt, wie wichtig mir in der Ortskirche Rottenburg-Stuttgart die aus frei gewählten, getauften Christinnen und Christen bestehenden Räte auf der Kirchengemeindeebene, der Dekanatsebene und Diözesanebene sind und welch wichtige Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte sie haben.
Wir können dankbar dafür sein, dass mit der Einrichtung der verschiedenen Räte der Laien wichtige institutionelle, personelle und vor allem inhaltliche Schritte zu synodalen Strukturen der Kirche im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils getan werden konnten.

In aller Öffentlichkeit möchte ich deshalb meinen Dank aussprechen für die Arbeit der Räte, insbesondere meinen Dank richten an den achten Diözesanrat, dessen Amtszeit seit März 2007 besteht und im März 2011 zu Ende geht. Ich danke dem Präsidium und Herrn Dr. Warmbrunn, dem Sprecher des Diözesanrats, für die vertrauensvolle und konstruktive und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit. Inzwischen haben Neuwahlen stattgefunden. So möchte ich auch all denjenigen danken, die sich für den 9. Diözesanrat zur Wahl gestellt haben, und all denen meine Gratulation aussprechen, die gewählt worden sind. Als Bischof bin ich zusammen mit der Leitung der Diözese sehr dankbar für die große Bereitschaft an der Zukunftsfähigkeit der Kirche konstruktiv mitzuwirken.

Im März vergangenen Jahres hat auch die Neuwahl der Kirchengemeinderäte - auf dem Höhepunkt der durch den Missbrauchsskandal erzeugten Kirchenkrise - stattgefunden. Die Wahlbeteiligung und die Bereitschaft von Kandidaten, sich aufstellen zu lassen, haben Gott sei Dank darunter nicht gelitten. So konnten - wie in den Wahlen zuvor - wieder ca. 10.000 Ehrenamtliche in die Kirchengemeinderäte gewählt werden! Auch hierfür möchte ich sehr herzlich Dank sagen.

Warum sage ich Ihnen das in der Neujahrsansprache 2011? Wenn wir heute, und das ist eine Herausforderung in dieser Zeit der Krise an uns als Kirche, christliche Gemeinden als Orte verstehen und gestalten wollen, in denen die christliche Botschaft gegenwärtig ist und lebendig erfahren und erlebt werden kann, dann wird deutlich, wie wichtig in der Pastoral und für sie die Mit-Wirkung und Mitverantwortung der getauften und gefirmten Christen vor Ort ist. Eine Kirchengemeinde soll eine für die Menschen in ihren Sorgen und Nöten „bewohnbare“ Gemeinschaft sein, in der für die zerrissenen Seelen unserer Zeit etwas erfahrbar wird vom Heil und der Heilung durch die christliche Botschaft. Es geht um die Verwirklichung der Kirchengemeinde und der Seelsorgeeinheit als Orte, als geistlich lebendige Räume, an denen die frohe Botschaft des Christentums, das heilsame Evangelium Jesu Christi erlebbar wird und wo Menschen in dieser oft heil- und gnadenlosen Welt Halt finden und die schützende und rettende Kraft des Glaubens erfahren können. Dies in der Pastoral zu erreichen ist leichter gesagt als getan – aber als Ziel unseres Lebens, Zusammenlebens und Handelns. Als zur Verwirklichung anstehende Vision muss uns dies immer vor Augen stehen.

Unsere Pastoral muss derart gestaltet sein, dass es uns wenigstens in Anfängen gelingt, dass der Gott, der sich uns in Jesus Christus gezeigt hat, der unter uns erschienen ist, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften lebendig und erfahrbar wird. Unsere Pastoral muss so stattfinden, dass der Gott des Lebens in der Art des Zusammenlebens seiner Jüngerinnen und Jünger als der barmherzige Gott lebendig ist, der in das Scheitern der Menschen gnadenvoll gegenwärtig wird und in ihre gebrochenen Biographien und in ihre seelische Obdachlosigkeit mit dem Licht seiner Liebe gegenwärtig werden kann.

Selbstkritisch müssen wir uns fragen: Sind unsere Gemeinden in dieser Weise Biotope der Hoffnung? Geben wir als Kirche ein solches Bild nach außen ab? Nehmen uns Menschen so wahr? Erleben wir selbst die Kirchengemeinde im Miteinander so? Bilden wir Räume, in denen wir versöhnt zusammenleben, in denen Menschen in Würde leben können? Wo gegenseitiger Respekt, Freude aneinander, Wertschätzung, geheiltes Dasein, erlöstes Dasein in all unseren Zerrissenheiten gelebt und erfahrbar wird? Können wir in unseren Gemeinden etwas davon spüren und erfahren lassen, dass wir erlöste, aus unseren Verlorenheiten gerettete Menschen sind?

In diesem Sinne lebendiger Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten sind das A und O für eine lebendige Kirche. Deshalb wollen wir von der Leitung der Diözese her alles tun, um die Gemeinden strukturell und personell so auszustatten, dass die möglich ist. Gemeindeerneuerung in diesem Sinne ist Erneuerung unserer Kirche.

Die Gaben und Begabungen der Christen sind also von großer Bedeutung für unser Kirchesein. Dass sie in die Seelsorge, in die Pastoral vor Ort im Ehrenamt oder im persönlichen Engagement auch eingebracht werden können, ist lebensnotwendig für eine lebendige Kirche. Und als lebendige Gemeinden können wir nur leben durch das Engagement von Christen vor Ort.

II. Läuterung und Erneuerung der Kirche

Am 3. Februar des letzten Jahres kam ich voll tiefer Erfahrungen und Eindrücke kirchlich-christlichen Lebens und Handelns von einer dreiwöchigen Pastoralreise nach Indien zurück. Schon am ersten Tag - und in den folgenden Tagen mit wachsendem Maße - brachen Nachrichten über sexuellen Missbrauch durch Ordensleute und Priester der katholischen Kirche wie ein gewaltiger Tsunami über die katholische Kirche herein. Dies wuchs sich zu einem bisher nicht gekannten öffentlichen Skandal für die Kirche aus. Er führte schließlich zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche und ihres Seelsorgepersonals. Die katholische Kirche geriet in die größte Vertrauenskrise hinein, seit ich denken kann. Wir müssen in aller Demut um Vergebung bitten.

Seit dem ersten Tag ihres Bekanntwerdens sind wir als Kirche dabei, uns diesen furchtbaren Geschehnissen sexuellen Missbrauchs zu stellen. Dabei wurde in der Öffentlichkeit meist übersehen, dass in unserer Ortskirche Rottenburg-Stuttgart bereits seit 2002, als Reaktion auf schon damals bekannt gewordene Fälle in den USA, eine unabhängige Kommission von mir eingesetzt wurde, die nach einer der Öffentlichkeit bekannten, transparenten Verfahrensweisen mit Anzeigen von Missbrauch umgeht. Eine Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft erschien uns in den allermeisten Fällen als angemessen und selbstverständlich. Die Täter wurden und werden zur Rechenschaft gezogen und aus ihrem Dienst abgezogen. Die Opfer werden angehört und ihnen muss Gerechtigkeit widerfahren. Mit mehr als zehn Männern und Frauen, die Opfer geworden waren, habe ich persönlich gesprochen und mich bei ihnen entschuldigt. Wir sind dabei, uns dem, diesen Menschen zugefügten, sehr großen Leid und Unrecht zu stellen – rechtlich und seelsorglich. Und ich möchte bei dieser Gelegenheit den Mitgliedern der Kommission sexueller Missbrauch und ihrem Vorsitzenden, Herrn Dr. Antretter, für ihre verantwortungs- und mühevolle Arbeit herzlich danken.

Nach dem Bekanntwerden von Vorkommnissen seit Februar 2010 - Anzeigen, Gerüchte und Fälle, die allermeist weit zurückgehen, teilweise bis 1950 und früher - haben wir die Opfer noch mehr in die Mitte unserer Achtsamkeit und Sorge gestellt. Zusammen mit 150 Priestern habe ich im Dom zu Rottenburg eine öffentliche Eucharistiefeier gefeiert und in einem ausdrücklichen Schuldbekenntnis Gott und die Menschen um Vergebung gebeten für das, was geschehen ist. In mehreren Publikationen habe ich meine Stellungnahmen, Predigten und Gottesdienste veröffentlicht und einem größeren Kreis zugänglich gemacht. In Vorträgen und Bildungsveranstaltungen haben auch mit der Situation vertraute Verantwortliche Rede und Antwort gestanden.

Meine Damen und Herren, Sie können davon ausgehen, dass jeder Anzeige, jedem Vorfall, jedem Verdachtsfall, ja jedem Gerücht oder neu bekannt gewordenem Missbrauch in der unabhängigen Kommission sorgfältigst nachgegangen wird und entsprechend den von der Bischofskonferenz erarbeiteten und von mir weiterentwickelten Vorgehensweisen vorgegangen wird. Die Auswirkungen des Skandals spüren wir in der katholischen Kirche bis heute und wir tragen schwer daran. Wir werden uns der Verantwortung in keiner Weise entziehen. Es gibt an dem, was geschehen ist, nichts zu beschönigen.

Ich möchte jedoch sagen dürfen, dass - nach dem heutigen, aufrichtigen Wissensstand - 99% des Klerus der Diözese Rottenburg-Stuttgart frei ist von diesem Makel und dieser schweren menschlichen Schuld. Ich möchte auch fragen dürfen – wenngleich manche dies unter der Perspektive von political correctness für nicht für angemessen halten: Wer ist öffentlicher Anwalt der Opfer, deren Missbrauch auch außerhalb der Kirche geschehen ist? Wer sorgt sich mit Nachdruck um sie? Und ich frage auch, warum es in der öffentlichen Diskussion fast wie ein Tabu behandelt wird, dass der weit-aus größere Teil der Opfer mitten in der Gesellschaft zu Opfern sexuellen Missbrauchs werden? Die Zahlen, hier unter uns in Deutschland, bewegen sich im Zeitraum von 2006 bis 2010 zwischen 13.000 und 18.000 angezeigten Fällen. In 2006 zum Beispiel: 12.765. Die Aufklärungsquote: 81,9 %.

Entsetzt bin ich über die Vorkommnisse an der Odenwaldschule und, so die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 2. Januar, zur Einschätzung von Gesprächen zwischen der Odenwaldschule und eines von Opfern beauftragten Psychologen, der die dortige pädagogische Praxis der Vorzeigeschule der Reformpädagogik bereits vor dem Jahr 2010 als „Kindesmissbrauch als Kulturprogramm“ bezeichnete. Im Fall der Odenwaldschule waren Persönlichkeiten involviert und an der Vertuschung beteiligt, die bisher bei mir und uns allen höchsten Respekt genossen haben.

Ziel des Umgangs mit dem Thema Missbrauch in der Kirche muss sein, mit den furchtbaren Vergehen einiger so umzugehen, dass wir glaubwürdig - nicht als Ablenkung von eigener Schuld - für die Opfer in den anderen Bereichen unserer Gesellschaft eintreten können! Wer nimmt sich dieser trau-matisierten Menschen an?

Die Frage, warum es in einem Großteil der Medien - ganz besonders in den ersten Monaten - fast nur zu einer Debatte über die Verfehlungen in der katholischen Kirche gekommen ist, beschäftigt mich sehr. Ich möchte hier keine Vorschnellen Diagnosen und Einschätzungen abgeben. Ich habe sehr viel fairen Journalismus erlebt. Aber auch viel Häme, ja Hass und Feindschaft. Ich hatte eigentlich gedacht, dass solche Aktionen und Reaktionen in unserer gegenwärtigen Kultur überwunden wären. Ich spüre darin teilweise auch kirchenfeindliche Ressentiments aus früheren Zeiten, die ich in unserer informierten und toleranten Zeit für ausgestanden hielt.

Dieses schmerzhafte Thema traf natürlich unsere Hauptamtlichen in der Pastoral besonders. Sie haben im Jahr 2010 viel Enttäuschung und Selbstzweifel erlebt und sich auch viel Unschönes anhören müssen. Ich bin deshalb für den Weihnachtsbrief des Diözesanrates an die Priester, Diakone und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr dankbar. Das Präsidium hat im Zusammenhang des Endes der Wahlperiode des 8. Diözesanrats eigens an die Priester und Hauptamtlichen in der Pastoral gedacht und ihnen für ihre Arbeit gedankt. An die Priester gerichtet schreibt das Präsidium: „Unser erster Gedanke gilt heute den Priestern in unserer Diözese. Wir sind froh, dass wir unsere Priester haben und schätzen in hohem Maße ihre Fähigkeit und ihren unermüdlichen Dienst. Das schreckliche Versagen einiger weniger hat den Priesterberuf und die Kirche im Ganzen in eine Vertrauenskrise geführt. Die Priester gerieten insgesamt unter Generalverdacht. Die Sinnhaftigkeit und Kostbarkeit der zölibatären Lebensweise, die uns wichtig ist, wird vielfach nicht gesehen. In der Aufarbeitung der Probleme stehen unsere Priester nicht allein. Der Diözesanrat steht in großer Geschlossenheit an ihrer Seite. Unser gemeinsamer Auftrag ist es, all das im zurückliegenden Jahr zutage getretene Schmerzliche zu bewältigen. Da allein die Missbrauchsfälle nicht die Vertrauenskrise begründen, dürfen wir uns mit vordergründigen Erklärungsmustern nicht zufrieden geben. Ein gemeinsames Anliegen ist unvermindert, den Priesterberuf insgesamt zu beleben und ihm zu neuer Geltung zu verhelfen.“

Meine Damen und Herren, die Vertrauenskrise der Kirche wurde ausgelöst durch die bekanntgewordenen Missbrauchsfälle, aber sie gründet letztlich in Fragen und Sorgen, die sich schon seit Jahren in der katholischen Kirche stellen. Papst Benedikt schrieb im März des Jahres 2010 in seinem Brief an die Katholische Kirche in Irland: „Für die Bewältigung der gegenwärtigen Krise sind Maßnahmen, die gerecht mit individuellem Unrecht umgehen, unerlässlich, aber allein für sich sind sie nicht ausreichend: wir brauchen eine neue Vision, um zukünftige Generationen zu inspirieren, das Geschenk unseres gemeinsamen Glaubens zu schätzen.“ Bereits zwei Monate vorher hatte er Mitte Januar 2010 formuliert: „Ein Blick in die Geschichte der Kirche zeigt uns, dass Kirche immer wieder der Reform bedarf“ - dass sie ihr Gesicht verändern müsse und vermutlich eine neue Gestalt annehmen werde! Im jüngst erschienen Interviewbuch des Papstes ist von ihm die Aussage zu lesen: „Das Christentum nimmt vielleicht ein anderes Gesicht, auch eine andere kulturelle Gestalt an. Es hat nicht den Kommandoplatz in der Weltmeinung inne, da regieren andere. Aber es ist die Lebenskraft, ohne die auch die anderen Dinge nicht weiterbestehen würden.“ Von der notwendigen Läuterung der Kirche müssen wir weiter schreiten zur geistlichen und strukturellen Erneuerung der Ortskirche!

III. Dialogisch angelegter Erneuerungsprozess in unserer Diözese

Ganz in der Richtung dieser Grundeinschätzung brauchen wir in der katholischen Kirche in Deutschland einen Läuterungs- und einen Erneuerungsprozess unserer Kirche. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, hat einen strukturierten Dialog angemahnt, der von der Bischofskonferenz möglichst rasch wirklich begonnen werden sollte. Ein erstes sehr gelungenes eineinhalbtägiges Gespräch zwischen Bischofskonferenz und Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hat bereits stattgefunden und wird weitergeführt. Wir werden in der Ortskirche Rottenburg-Stuttgart einen dialogisch angelegten Erneuerungsprozess unverzüglich beginnen. Dabei wollen wir auch die Fragen besprechen, die viele Christen bedrücken und am Herzen liegen: Wie geht es mit den katholischen Mitchristen weiter, die geschieden sind und wieder geheiratet haben? Wie geht es mit den konfessionsverbindenden Ehen weiter?

Wir werden diesen Such- und Erneuerungsprozess in unserer Ortskirche ausdrücklich im Kontext des strukturierten Dialogs der Bischofskonferenz führen, wollen aber nicht abwarten, bis dieser beginnt! In ausgiebigen Gesprächen im Diözesanrat, im Bischöflichen Ordinariat und weiteren Gesprächskreisen sind die für die Durchführung des dialogisch angelegten Erneuerungsprozess notwendigen Vorüberlegungen nahezu abgeschlossen.

Dieser Erneuerungsprozess kann aber nicht einfach von oben „verordnet“ werden, er braucht die Mitarbeit und Mitwirkung der getauften und gefirmten Christen, wir als wirklich mitverantwortlich für das Sein und Handeln der Kirche anerkennen müssen.

Diese Sicht der christifideles laici, der christgläubigen Laien, der Getauften und Gefirmten, ist in unserer Diözese seit dem Konzil schon weit fortgeschritten, so dass der beginnende Erneuerungsprozess von möglichst vielen engagierten Christen mitgetragen werden kann.

Im Brief an die Priester, Diakone, pastoralen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen habe ich als Bischof zusammen mit dem Präsidium des Diözesanrats deshalb vor einigen Tagen geschrieben: „In unserer Diözese hat soeben der Dialogprozess begonnen, von dem wir hoffen, dass er gemeinsam mit Maßnahmen der Erneuerung gute und für Sie alle im positiven Sinne spürbare Ergebnisse bringen wird.“ Es muss gesagt werden: Der Dialogprozess in unserer Diözese hat schon intensiv begonnen! Und er wird intensiv fortgesetzt werden!

Ich rufe alle Menschen der Diözese Rottenburg-Stuttgart dazu auf, dass wir diesen Such-Prozess zur geistigen und realen Erneuerung mit Vertrauen und Augenmass weiter gehen. Seiner Kirche hat Gott zugesagt, dass Er mit ihr ist, dass sein Heiliger Geist, der in Jesus Christus gewirkt hat und im unter uns Auferstandenen gegenwärtig wirkt, uns stärkt, führt und leitet! Nicht umsonst versichert Jesus seinen Jüngern und Jüngerinnen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage, bis diese Zeit vollendet ist: bis zum Ende der Welt!“ (Mt 28,20b)

Der dialogisch angelegte Erneuerungsprozess in einer Ortskirche wird im katholischen Kirchenverständnis im Kontext der Kollegialität der Bischöfe und Ortskirchen und der Universalkirche geführt werden. Aber was die einzelne Ortskirche tun kann, sollte sie mutig anpacken und die notwendigen Schritte zur Erneuerung tun. Und da und dort auch im Hinblick auf einer Erneuerung der Kirche insgesamt mutig vorandrängen.

Dies ist keine einfache Aufgabe und wird allen Beteiligten viel abverlangen. Für mich ist das Leitgebet vor den Entscheidungen der kommenden Jahre: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Wo wir vom Gottesgeist geleitet vorangehen, wird die Kirchenkrise zum Kairos, zur geschenkten Chance, für eine wirkliche Erneuerung der Kirche aus der Kraft des Heiligen Geistes im Dienst und zum Heil der Menschen und mit missionarischer Wirkung. Darauf vertraue ich und von diesem Vertrauen lasse ich mich leiten.

IV. Unterdrückung und Verfolgung von Christen

Ich möchte in dieser Stunde noch eine bedrückende Wirklichkeit ansprechen: Das Selbstmordattentat islamistischer Terroristen auf die Kirche der koptischen Christen in Alexandrien in der Neujahrsnacht, bei dem 21 koptische Christen starben, war eine weitere schreckliche Etappe der weltweit zunehmenden Verfolgung von Christen. Zuvor die furchtbaren Attentate auf Christen im Oktober im Irak mit 53 Toten, dann an Weihnachten in Nigeria mit mindestens 86 toten Christen, und viele andere Anschläge auf Christen weltweit, jetzt auch Drohungen gegen koptische Christen in Deutschland durch Internetbotschaften – dies alles zeigt eine bedrohliche Lage für viele Christen weltweit. Ich möchte den koptischen Christen in Ägypten, weltweit, aber besonders auch in Deutschland unsere Anteilnahme und unsere volle Solidarität aussprechen. Wir stehen an ihrer Seite. In ganz besonderer Weise möchte ich meine ganze Solidarität mit den koptisch-orthodoxen Christen der St.-Georgs-Gemeinde in Stuttgart-Degerloch bekunden. Die Stuttgarter Kirche ist das zentrale Gotteshaus der Koptisch-Orthodoxen Kirche Baden-Württemberg. Wir beten darum, dass sie ihr Weihnachtsfest, das sie heute und morgen feiern, ohne Zwischenfälle begehen können. Ich kann mich den Worten von Papst Benedikt XVI. nur anschließen und die religiös motivierte Gewalt aufs schärfste verurteilen und eindringlich für Frieden und Religionsfreiheit in allen Ländern dieser Welt eintreten. Wer sich für die Toleranz gegenüber Muslimen in unserer Gesellschaft einsetzt, der muss dies zugleich gegenüber anderen Ländern tun und Religionsfreiheit auch für Christen fordern, die in Ländern mit anderen religiösen Mehrheiten leben.

In dem am 8. Dezember verfassten Wort zum Weltfriedenstag 2011 schreibt der Papst: „Die Religionsfreiheit ist eine echte Waffe des Friedens mit einer geschichtlichen und prophetischen Mission. Sie bringt in der Tat die tiefsten Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen, die die Welt verändern und verbessern können, zur Geltung und macht sie fruchtbar.“ Benedikt XVI. bezeichnete bei seiner Neujahrsansprache am 1. Januar 2011 die Religionsfreiheit als „Königsweg zum Frieden“ und sieht in der Religionsfreiheit die Basis für eine „Hoffnung auf eine Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens“.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf einen Film aufmerksam machen, der zurzeit in unseren Kinos läuft: „Von Menschen und Göttern.“ Er spielt Mitte der 1990er Jahre in Algerien und zeigt, wie neun französische Trappistenmönche in einem kleinen Kloster ihr stilles Leben führen. Sie bestellen ihr Feld, teilen mit der islamischen Dorfbevölkerung deren Armut, feiern deren Feste mit, stehen ihnen mit Rat und Hilfe zur Seite oder kümmern sich um ihre Kranken.

Als der Terror durch islamistische Aufständische näher rückt, lehnen die Mönche es ab wegzugehen. Sie sehen ihrem gewaltsamen Tod entgegen. Sie bleiben ihrer Berufung treu und harren dort aus, wohin sie Gott gestellt hat. Kurz vor dem Osterfest werden sie nachts als Geiseln entführt. Wochen später findet man ihre Leichname.

Der Film spricht von der Menschwerdung Gottes im Menschen - immer neu. Er lässt erkennen, was das Jesuswort bedeutet: „Liebet eure Feinde, segnet die, die euch verfolgen.“ Der Abt, Bruder Christian, hinterlässt ein ‚spirituelles Testament’, in dem er das gewaltsame Ende vorausschauend deutet. Darin heißt es am Schluss: „Mein Tod wird natürlich denen scheinbar recht geben, die mich von vornherein als naiv und idealistisch abgetan haben, aber sie sollen wissen, dass ich endlich von meiner quälendsten Neugierde befreit sein werde. Und dass ich, wenn Gott es will, tief in die Augen des Vaters blicken werde, um mit ihm gemeinsam seine Kinder des Islam so zu betrachten, wie er sie sieht.“

Erlauben Sie mir noch ein Wort an die Muslime in unserem Land: Seit 5 Jahren lade ich regelmäßig die Repräsentanten der muslimischen Vereinigungen in Baden-Württemberg zum Gespräch ins Stuttgarter Bischhofshaus ‚Stella Maris’ ein. Und ich danke den Repräsentanten des Islam für die Teilnahme und die guten Gespräche. Wir führen sie im Interesse eines guten Miteinander und einer Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft.

Zu den Bemühungen in diese Richtung zähle ich auch die Möglichkeit des muslimischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Alles ist eigentliche vorbereitet: Die Bereitschaft von Seiten des Staates, diesen Religionsunterricht für Muslime an öffentlichen Schulen einzurichten, die Unterstützung durch die beiden großen Kirchen, bestehende Pilotprojekte und die Errichtung eines Instituts für Islamwissenschaften an der Universität Tübingen zur Ausbildung der islamischen Religionslehrer. Die Voraussetzungen sind geschaffen. Jetzt höre ich, dass es da und dort an der Bereitschaft auf Seiten der Muslime fehlt, ihrerseits einen muslimischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu fordern. Im Interesse der Integration der Muslime in unsere Gesellschaft haben die Muslime in Deutschland hier eine Bringschuld, dieses Angebot des Staates anzunehmen. Ich möchte gerne bei meinen regelmäßigen Gesprächen mit allen Repräsentanten der Muslime in Baden-Württemberg dieses Problem ansprechen.

V. Ausblick

Ich komme zum Beginn meiner Ausführungen zurück und schließe damit ab: Am meisten Freude und Mut hat mir im zurückliegenden Jahr die Begegnung mit der Jugend gemacht.

Das von März bis Oktober durchgeführte „JugendforumhochDrei“ war für mich sehr beeindruckend und ein wahres Hoffnungszeichen. Besonders die Art, wie es durchgeführt wurde, sowie die Ergebnisse, die es gebracht hat, waren bereits ein Beginn des Erneuerungsprozesses in unserer Ortskirche, den die Jugend unserer Diözese angestoßen hat und an dem nahezu alle Mitglieder der Diözesanleitung teilgenommen haben.

Beim Abschlusstag in Wernau haben die Jugendlichen und die Leitung des bischöflichen Jugendamtes ihre Erwartung an die Kirche deutlich formuliert: Ihre Erwartung, als Jugend in der Kirche ihren eigenen, authentischen Platz haben zu dürfen. Ihre Erwartung an sinnstiftende Spiritualität und Religiosität und ihre wache Zeitgenossenschaft, z.B. im Gebrauch und im Einsatz der neuen Medien. Dies alles hat mich sehr begeistert. Die Jugendlichen haben mit ca. 60 Empfehlungen und Erwartungen die Diözesanleitung kräftig eingeheizt!
Ich werde an alle Gemeinden unserer Diözese einen Brief richten, dass die Jugend die Zukunft unserer Kirche ist und dass entsprechend mit ihr umgegangen werden muss! Ich habe den beim Jugendforum in Wernau anwesenden Jugendlichen zugesagt, dass wir uns, als Diözesanleitung und Bischof, ihnen in zwei Jahren stellen werden, um gerade zu stehen für das, was wir von ihren berechtigten Erwartungen und Empfehlungen zur Erneuerung der Jugendarbeit, und damit eines wesentlichen Teils unserer Pastoral, verwirklichen konnten.

Es ist unsere Pflicht als Kirche, sie, die Kinder und Jugendlichen, in unserer Kirche, um ihrer selbst willen anzunehmen, wertzuschätzen, aber auch um der Zukunft unserer Kirche willen! Heute und in der kommenden Generation sind sie die Kirche. Oder sie sind es nicht. Und dann sind wir als Kirche nicht mehr! In der Annahme der Kinder und Jugendlichen durch unsere Kirchengemeinden vermitteln wir ihnen die Annahme der Kinder und Jugendlichen durch Gott! Wir können ihnen keinen größeren Dienst tun. Und die jungen Menschen werden kritisch hinschauen, ob bei uns Kirche das „drin ist, was draufsteht“!

Ich danke Ihnen für ihr hier Sein, für ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen und uns allen ein von Gott gesegnetes Jahr 2011!

Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart
Dr. Gebhard Fürst

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