Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2012

Rottenburg

„Lebendige Kirche in unruhiger Zeit –
Eine Ermutigung zum Leben und zum Glauben“

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte, liebe Gäste!

Das vergangene Jahr war stürmisch, aufregend und beunruhigend. Es hat sich, was die katholische Kirche betrifft, trotzdem gut verabschiedet. Denn vom Weihnachtsfest 2011, das wir erst vor wenigen Tagen festlich gefeiert haben, geht ein hoffnungsvolles Signal in das neue Jahr 2012 hinein. Das Signal der gut besuchten, festlichen Weihnachtsgottesdienste, die wir erlebt haben. Allein in den Rottenburger Dom St. Martin waren am Heiligabend und den beiden Feiertagen über 4600 Gläubige gekommen und in die Konkathedrale St. Eberhard in Stuttgart mehr als 5300. Nehmen wir hier in Rottenburg noch St. Moriz und die Wallfahrtskirche im Weggental dazu, so waren es nochmals 3000.[1] Hinter diesen beeindruckenden Zahlen der Besucher der Weihnachtsgottesdienste erkenne ich eine oft versteckte, aber doch vorhandene tiefe Sehnsucht von Menschen nach Heimat im Glauben und nach Geborgenheit. Ich selbst habe die großen Weihnachtsgottesdienste, die ich mit den Gläubigen feiern konnte, als tief bewegend und getragen von Andacht, von Frömmigkeit und von wirklicher weihnachtlicher Freude erlebt.

Ist die Freude der Gekommenen nicht Ausdruck ihrer Liebe zu diesem Fest der Menschwerdung Gottes?! Die Gekommenen wussten oder ahnten, dass ihnen die Liturgie des Weihnachtsfestes ein religiöses Erlebnis bescheren würde, von menschlicher, existentieller Tiefe, die kein profanes Fest vermitteln und erschließen kann. Die Gekommenen haben eine Beziehung zum Geheimnis des Weihnachtsfestes – eine Beziehung zu dem Ereignis, dass Gott einer von uns wird.

Selbst für den überzeugten Atheisten Jean-Paul Sartre wäre die Botschaft, dass Gott Mensch wird, Anlass zur Freude. Er schreibt: „Wenn ein Gott für mich Mensch würde, für mich, dann würde ich ihn lieben – ihn ganz allein. Dann wären Bande zwischen ihm und mir, und für das Danken reichten alle Wege meines Lebens nicht. Ein Gott, der Mensch würde, gebildet aus unserem liebenswert elenden Fleisch – ein Gott, der erfahren wollte, wie der Salzgeschmack auf unserer Zunge schmeckt, wenn alles uns verlassen hat, ein Gott, der das Leid auf sich nähme, das ich heute leide – wenn Gott für mich ein Mensch würde, dann würde ich ihn lieben.“[2]

Liebe Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,

den Menschen, die zu den festlichen Weihnachtsgottesdiensten gekommen waren, war wohl geschenkt, dass sie eine Ahnung hatten, dass Gott für sie Mensch geworden ist. Dass ER ihr Leben teilen will, hineinkommen will in ihr Leid, hineinkommen will auch in die Freude – die uns leben lässt. Die leise Ahnung oder ein fester Glaube an die Botschaft des Weihnachtsfestes: dass Gott wirklich Mensch wird, nicht allgemein und deshalb ganz konkret für mich, dass ER gebildet wird aus unserem liebenswert elenden Fleisch, dass Gott unsere Verlorenheiten physisch „schmeckt“, dass ER uns Heil schenkt und Rettung, weil ER unser Leid auf sich nimmt, das wir heute und morgen tragen müssen.

Das Lied „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ist geboren: Freue, freue dich, o Christenheit“ haben die zum Weihnachtsgottesdienst Gekommenen voll innerer Freude erfüllt gesungen – obwohl sie es nicht alle ablesen konnten! Auch wer nur selten zum Gottesdienst kommt das Jahr über, hat dieses Lied mitgesungen: „Welt ging verloren, Christ ist geboren!“ und „Christ der Retter ist da“! Meine sehr geehrten Damen und Herren, von Verlorenheit wird hier gesungen und von Rettung. Nach einem Jahr der Konstruktion gigantischer Rettungsschirme fiskalischer Art spüren die Menschen, dass Verlorengehen und Verlorensein, dass Rettung Erfahren und Gerettetwerden für Menschen eine tiefere und existentiellere Dimension hat, als durch Finanzaktionen unser Geld zu sichern.

Die weihnachtliche Eucharistiefeier, mit der uns in Jesus von Nazareth erschienenen Liebe Gottes zu den Menschen; die Krippenfeiern mit der Suche nach Herbergen für Menschen unterwegs, für heimatlos Gewordene, Vertriebene und Flüchtlinge, die Asyl brauchen, das Paar Maria und Josef mit der Geburt des Kindes: Das alles erweckt eine persönliche Identifikation, eine innere Anteilnahme und Sympathie für die oft schweren Situationen menschlichen Lebens und für das Leid, das Vielen zugemutet wird. Schließlich die Botschaft, dass die wirklichen Orte für das Heil bringende Ankommen Gottes unser oft armes Leben ist – gerade auch im übertragenen Sinn – dass die Orte der Ankunft Gottes unsere Schwächen sind, die Provisorien des Lebens, seine Brüchigkeiten und unsere Ohnmachtserfahrungen.

Dies alles, was unsere conditio humana ausmacht, erleben wir an Weihnachten im religiösen Ereignis der festlichen Weihnachtsliturgie mit unseren Sinnen, mit Augen und Ohren, mit Herz und Gemüt. Menschen haben ein Gespür für die menschliche Wahrheit dieses Ereignisses! Liebe Damen und Herren, sonst würden sie wohl nicht kommen!

Tiefe Sehnsucht nach Heimat – im Glauben erfüllt

Die aus der zerbrechlichen menschlichen Existenz herrührenden Sehnsüchte sind auch heute im Menschen nicht erloschen, sondern lebendig. So verstehe ich den Satz des nüchternen Philosophen Wittgenstein, der sagt: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“[3] Nämlich das innere Verlangen der Menschen nach Barmherzigkeit in einer oft erbarmungslosen Zeit, Sehnsucht nach Gnade in einer gnadenlosen Welt, dies alles ist lebendig in der Feier der Liturgie unter Menschen, die sich dem Geheimnis Gottes aussetzen! Deshalb findet diese Sehnsucht nach Heimat eine Resonanz in der christlichen Religion, die nicht vertröstet, sondern heil macht, Heimat gibt, einen Ort, den wir bewohnen können, uns mit Freude erfüllt und uns einen Horizont aufreißt, der weiter nicht sein könnte. Der so zahlreiche Kirchenbesuch zur Weihnachtszeit legt eine innere Beziehung zur Tiefe der christlichen Botschaft offen, die auch in manch kirchenfernen und kirchenlosen Christen lebt.

Heimatlos Gewordenen Beheimatung ermöglichen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern, liebe Brüder! Alle Dialoge und Erneuerungsprozesse haben im Letzten das Ziel, eine Kirche lebendig zu gestalten, die für heimatlos gewordene, suchende Menschen bewohnbar ist: ganzheitlich, intellektuell, ethisch und ästhetisch. Das Ziel, heimatlos gewordenen Sinnsuchern Beheimatung zu ermöglichen in der Gemeinschaft von Glaubenden in einer lebendigen Verkündigung, das ist der Auftrag der Kirche. Unter Glaubens-Verkündigung verstehe ich hier die ganzheitliche Erschließung eines Lebenssinnes in gegenwärtiger
Erfahrung hier und jetzt im Glauben und über den Tag und die irdische Zeit hinaus.

Menschen auf der Suche – nach Sinn und Erfüllung

In diesem aufgezeigten Sinne sind die Menschen wie selten in der Geschichte auf der Suche nach Sinn, nach Sinnerfüllung. „Ein Wandel von der Flucht in die Sinne zu einer Suche nach Sinn!“[4], so stellt es ein zeitgenössischer Forscher besonders bei Jugendlichen fest. Es muss im Leben mehr als alles geben, nämlich Sinn im transzendenten Sinne zu erleben. Menschen sind heute mehr Suchende denn je: Menschen auf ihrer Lebensreise. Hoffnung stellt sich ein als Weggefühl, wo sich Heimat erschließt, Herberge am Rand des Weges sich auftut. Und die Erfüllung beginnt, wenn dieses Suchen zu einem Finden wird.

 

I. Dialog und Erneuerung in der Kirche

Aber: Wir erleben gegenwärtig eine Phase in der katholischen Kirche, in der sich ihr Glaubenszeugnis verdunkelt hat. Sie wurde ausgelöst durch den sexuellen Missbrauch, auch in der Kirche. Dies hat eine wirkliche Vertrauenskrise bewirkt. So kamen Themen wieder hoch, die schon lange in der Kirche umstritten sind. Die Aufgabe, an der glaubwürdigen Gestalt und am überzeugenden Verhalten der Kirche in all ihren Gliedern zu arbeiten, stellt sich derzeit besonders drängend. Wie kann sich glaubwürdige Glaubensverkündigung ereignen, dass die Menschen nicht bloß hören, sondern die Lebenshaltigkeit dieser Botschaft bei sich selbst spüren?

„Zeit der Läuterung“

Ein erster Schritt zur Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit ist die „Aufarbeitung“ dessen, was an Schlimmem geschehen ist. Wir haben von der Diözesanleitung her versucht, uns offen und transparent der Verantwortung zu stellen. Inzwischen sind Präventions-Konzepte für alle verschiedenen Bereiche der Ortskirche erarbeitet und entsprechende Maßnahmen in Kraft gesetzt, um ein Maximum an Schutz für Kinder und Jugendliche vor Missbrauch zu gewährleisten. Wir haben alle uns bekannten Opfer angeschrieben und sie eingeladen, die finanzielle Zuwendung und gegebenenfalls auch Therapiekosten zur Anerkennung erlittenen Leids anzunehmen. Die Täter wurden – sofern noch am Leben – zur Rechenschaft gezogen, aus der pastoralen Arbeit abgezogen und auch entsprechend bestraft.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir verstehen uns, als Kirche, als Anwalt aller Menschen, die wo auch immer – irgendwie oder ganz konkret – Opfer geworden sind. Und unsere Gesellschaft muss insgesamt mehr Aufmerksamkeit für die Opfer aufbringen, die mitten unter uns in erschütternd großer Zahl leben. Es ist unser aller Pflicht, sich diesen schweren menschlichen Dramen noch intensiver und offensiver zu stellen – und nicht uns in Schlagzeilen zu ergehen.

Stand des Dialog- und Erneuerungsprozesses

Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass wir nach intensiver Vorbereitung mit entsprechenden Gremien des Diözesanrates seit März 2011 in unserer Diözese einen Dialog- und Erneuerungsprozess durchführen. Wir führen ihn, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und die Pastoral vor Ort – was ganz intensiv mit dem eingangs Gesagten in Zusammenhang steht – zu qualifizieren.

„Zeit zu Hören“

Wir haben uns eine „Zeit zum Hören“ vorgenommen und den Gemeinden und Einrichtungen Unterlagen zur Gestaltung des Dialogs zukommen lassen. Nun sind manche skeptisch und sagen: „Dieser Dialog wird doch nichts bringen.“ Ich bitte Sie, sofern Sie auf irgendeine Weise mit beteiligt sein können, diesem Dialog doch eine Chance zu geben! In den letzten Monaten dieses letzten Jahres habe ich schon zahllose Veranstaltungen besucht: Dekanatstage, Treffen mit Vertretern von Berufsgruppen. Ich habe mit vielen anderen Gruppierungen gesprochen, die Erwartungen der Menschen gehört und mit ihnen Dialoge geführt. Ich weiß auch, dass der Sprecher unseres Diözesanrates in vielfacher Weise solche Gespräche geführt hat. Angesprochene Inhalte und Themen werden an die eingerichtete Koordinierungsgruppe weitergeleitet und dort bearbeitet, damit wir uns weiter damit befassen und Konsequenzen ziehen können. Dabei, meine Damen und Herren, hat schon das offene Gespräch miteinander seinen Eigenwert. In unserer Kirche gibt es zur Pastoral, zu der Gestalt und Gestaltung der Dienste und Ämter, zur Erneuerung der Kirche Jesu Christi viele, oft auch sehr unterschiedliche Stimmen und auch gegensätzliche Positionen. Sie miteinander ins Gespräch zu bringen, damit Respekt und Verständnis füreinander wachsen, ist eine gute Sache, auch eine herausfordernde Aufgabe für uns alle. In der Vielfalt der Positionen die Einheit im Glauben der Kirche zu leben und in der Eucharistie zu feiern, ist ein großes Gut, das wir nicht verspielen sollten.

Keine Fragen sollen von vornherein ausgeschlossen werden – auch wenn jeder weiß, dass es in der Kirche verbindliche Positionen gibt, die nicht einfach zur Disposition gestellt werden können. Wir sind ja hineingestellt in den großen Zusammenhang der lebendigen Überlieferung des Glaubens in der katholischen Kirche. Dass wir vom offenen Dialog miteinander auch zur wirklichen Erneuerung der Kirche kommen müssen, das ist für mich keine Frage. Die Erneuerung der
Pastoral, ihrer Strukturen und Schwerpunkte wird derzeit in verschiedenen Projekten vorangebracht. Ich werde gleich noch einiges dazu sagen. Vieles kann von uns mutig entschieden werden, in Vielem können wir als Ortskirche vorausgehen. Vieles können wir angehen. Andere Fragen, die Vielen am Herzen liegen, können hier in einer Ortskirche allein nicht entschieden werden – das wissen Sie. Ich werde sie aber in die Beratungen der Bischofskonferenz einbringen. Wir sollten dort pastorale Regelungen finden, die beispielsweise bei den wiederverheiratet Geschiedenen und bei den konfessionsverschiedenen Ehen von größerer Barmherzigkeit geprägt sind als bisher.

„Zeit des Handelns“

Jugendforumhochdrei

Neben der „Zeit des Hörens“ hat auch schon die Zeit des Handelns begonnen. Schon im Jahr 2010 hat in unserer Diözese das [jugendforum]³ stattgefunden. Aus dem Dialog der Jugend mit der Diözesanleitung sind Empfehlungen für die künftige Gestaltung der Jugendpastoral hervorgegangen. Nur auf einige Empfehlungen, die schon in der Verwirklichung stehen, möchte ich hinweisen:
So werden die Berufsperspektiven für Jugendreferentinnen und Jugendreferenten, die in den Dekanaten die Jugendarbeit unterstützen, durch die Möglichkeit eines Überstiegs in den Beruf der Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten verbessert. Auf Empfehlung des Jugendforums arbeiten die Jugendreferate in den Dekanaten an profilierten regionalen Jugendpastoralkonzepten. Das [jugendforum]³ hat auch angestoßen, der zunehmenden Bedeutung digitaler Medien für die Jugend mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu muss zum einen die Medienkompetenz der hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöht werden, zum anderen sind spezielle Jugend-Seelsorgekonzepte im Internet zu entwickeln. Ein weiteres Projekt ist die Kooperation im Bereich von „Jugendarbeit und Schulen“ sowie von „Jugendarbeit und Firmkatechese“. Die Strukturen der Jugendarbeit – ein weiterer Schwerpunkt – sollen überprüft werden um zu schauen, dass sie besser zur Lebenssituation junger Menschen passen. Ein großes Anliegen sind den Jugendlichen regionale Spirituelle Zentren für junge Menschen und das Projekt der Jugendkirchen.

Projekt Gemeindepastoral

Meine Damen und Herren, zusammen mit dem Priesterrat und Diözesanrat haben wir im November bei seiner letzten Sitzung des Jahres 2011 das Projekt „Gemeindepastoral“ auf den Weg gebracht. Es ist das erste große Projekt im Dialog- und Erneuerungsprozess. Dieses Projekt besitzt Höchstpriorität, der Diözesanrat hat sie in seiner Sitzung zum Dialog- und Erneuerungsprozess vom 21. Mai 2011 ausgesprochen. Es steht damit an erster Stelle der Maßnahmen im Kontext des Dialog- und Erneuerungsprozesses.

In der Gestalt der Pastoral unserer Ortskirche kann Vieles neu gestaltet werden. Im kommenden Jahr werden wir im Rahmen dieses beschlossenen Projekts von der Diözesanebene aus pastorale Erfahrungen vor Ort anhören und sie dann in Überlegungen einbringen, die Impulse setzen, um die Pastoral und ihre Strukturen weiterzuentwickeln. Wir werden auf die stärkere Beteiligung von Laien an der Mitverantwortung in der Leitung der Gemeinden setzen. Dabei ist schon Vieles gewachsen, das weiterentwickelt werden kann. Kirchengemeinden, die ohne Pfarrerwohnsitz sind, werden vermehrt ein
„Gesicht“ oder einen „Ansprechpartner“ erhalten. Das bedeutet, dass die bereits vorhandene Zahl der Ansprechpartner bzw. Ansprechpartnerinnen – zurzeit circa 25 – sukzessive vermehrt wird. Wir werden 30 neue geeignete Personen anstellen, die die Erziehungszeit der ca. 30 Gemeindereferentinnen, die derzeit aus gegebenen Anlässen nicht zur Verfügung stehen – das ist immer ein ungefähr gleicher Prozentsatz – so ausgleichen können. Die sukzessiven Anstellungen führen in 30 Seelsorgeeinheiten zur Besetzung unbesetzter, aber im Stellenplan vorhandener Stellen. Dies führt zu einer erheblichen Verbesserung der Personalsituation.

Auf Dekanatsebene soll für Jugendreferentinnen und Jugendreferenten eine bessere Zukunft des Berufes ermöglicht werden, so dass sie länger als bisher im kirchlichen Dienstverhältnis bleiben – ein gemeinsames Projekt mit dem vorhin angesprochenen Jugendforum. Eventuell kann eine Weiterbildung auf Gemeindereferentin und Gemeindereferent hin geschehen.

Ich möchte noch einmal betonen, dass viele dieser Maßnahmen aus der Zielsetzung des Dialogprozesses, der Diözesanratssitzungen und des Jugendforums aus dem Jahre 2010 hervorgegangen sind. Wir sind in der Realisierung dieser Dimensionen. Und so kann das Jahr 2012 zu einem Jahr der Chance für die pastoralen Räume und die Pastoral für die Menschen in unserer Diözese werden, damit für sie Gottes Wort, die Feier der Liturgie und das Leben aus dem Glauben deutlicher spürbar wird und ihnen nahe sein kann.

Frauen in Führungspositionen

Des Weiteren werden wir mit einem Projekt „Frauen in Führungsverantwortung“ noch mehr Frauen für hohe und höhere Führungspositionen gewinnen. Die in unserer Diözese schon lange arbeitende Frauenkommission und die Gleichstellungsbeauftragte werden hier mitwirken.

„Geistliche Zeit“ – Die Spiritualität des Prozesses

Der Dialog- und Erneuerungsprozess kann nur ein von einer geistlichen Dimension geprägter Prozess sein. Schon der Apostel Paulus ruft die Gemeinden in Ephesus dazu auf: „Erneuert euren Geist und Sinn. Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist!“ (Eph 4,23b-24a).[5] Der Dialog- und Erneuerungsprozess bezieht seine Kraft aus der Orientierung an Jesus Christus, dem neuen Menschen, der Weg und Wahrheit und Leben ist. Seinen Geist sollen wir in uns lebendig werden lassen – und aus ihm heraus dann handeln. Dabei wollen wir uns als Glieder am Leib Christi, als Mitglieder im einen weltweiten Volk Gottes verstehen, von denen es – in einer Präfation, die wir in den Gottesdiensten beten – heißt: „Einst hast du Israel, dein Volk, mit starker Hand durch die weglose Wüste geleitet. Heute führst du deine pilgernde Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes.“[6] So brauchen wir alle – neben der Zeit des Hörens, des Entscheidens und des Handelns – auch die „geistliche Zeit“ zum Gebet, aus der die Zeit aufeinander zu hören, auf Gott, auf die Kirche als weltweites Gottesvolk erst herauswachsen kann.

 

II. Vom christlichen Glauben her glaubwürdig Zeugnis geben und sich kompetent einmischen in die Gestaltung von Gesellschaft und Kultur

Meine Damen und Herren, ich komme zu meinem zweiten Teil. Wir dürfen bei all der innerkirchlichen Erneuerung unsere Verantwortung als Katholische Kirche gegenüber der Mitgestaltung der zeitgenössischen Gesellschaft in Deutschland, in Europa und weltweit nicht vernachlässigen. Sich in die Gesellschafts- und Kulturgestaltung mit einzumischen und einzubringen, ist von entscheidender Bedeutung – da der Dialog „nach außen“ nur gelingen kann, wenn er auch im Inneren stattfindet und gelingt.

Ausgangspunkt für den Dialog mit der Gesellschaft:
Der kommunikative Ort der Religion in der Gesellschaft

Der konstruktive Dialog der Kirche mit der Gesellschaft fordert eine Standortbestimmung des kommunikativen Ortes der Religion in unserer Zivilgesellschaft und Kultur. Jürgen Habermas, ein hochangesehener Philosoph unserer Zeit, mahnt seit Jahren den notwendigen Dialog zwischen der säkularen Welt und der Religion an. Habermas wendet sich gegen[7] „einen unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit“ – also: gegen die oft versuchte Privatisierung des Religiösen. Ein solcher Ausschluss würde „die Gesellschaft von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden.“ Auch die säkulare Seite müsse sich in diesem Dialog, so Habermas, „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprache“[8] bewahren. Als Kirche müssen wir diese philosophische Verhältnisbestimmung noch viel weiter und viel stärker aufnehmen und im Dialog real verwirklichen.

Gesellschaftliches Engagement verstärken:
Die Kraft zur Mitgestaltung

In unserer von Krisen geschüttelten Zeit gilt es, das auf Gesellschaft und Kultur ausgerichtete Engagement der Kirche insgesamt zu verstärken und die Kraft zur Mitgestaltung zu steigern. Deshalb haben wir Bischöfe im Ständigen Rat am 22. November 2011 beschlossen, uns im Rahmen des Dialog- bzw. Gesprächsprozesses 2012 mit dem Jahresthema „Diakonia der Kirche – Unsere Verantwortung in der freien Gesellschaft“ zu befassen. Die Jahresveranstaltung des überdiözesanen Gesprächsprozesses wird im September unter diesem Thema stattfinden.

Schöpfungs- und lebensfreundliche Kirche

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zwei Beispiele für die Wahrnehmung der Verantwortung der Kirche in der freien
Gesellschaft möchte ich etwas ausführen – obgleich ich nicht alle diesbezüglichen Bereiche nennen kann: Neben der Eurokrise stellt die weltweite ökologische Krise die größte Herausforderung dar, in der wir als Christen ganz besondere Verantwortung tragen. Wir verstehen nach biblischer Überlieferung Welt und Mensch als Schöpfung Gottes. Sie ist uns anvertraut. Wir sind nur bei der Sache der christlichen Religion, wenn wir – im umfassenden Sinn – als Kirche schöpfungsfreundlich handeln.

Schöpfungsfreundliche Kirche: „ökologisch“
Diözesane Klima-Initiative: erfolgreich seit 5 Jahren

Wenn wir als Kirche schöpfungsfreundlich handeln, dann tun wir das nicht aus Zeitgeist-Gründen, sondern weil wir von der Botschaft des Christentums dazu aufgerufen sind, schöpfungsfreundliche Kirche zu sein, und uns für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.

Wir haben in unserer Diözese vor fünf Jahren eine interdisziplinäre Klima-Initiative ins Leben gerufen. Beträchtliche Finanzmittel in zweistelliger Millionenhöhe wurden und werden noch investiert. Die bevorstehende Fünfjahresbilanz kann beachtliche Wirkungen vorweisen. So ist bislang allein durch die in den Kirchengemeinden geförderten Maßnahmen der
Ausstoß von Kohlendioxid um über 12000 Tonnen im Jahr verringert worden. Dieses Programm einer schöpfungsfreundlichen Kirche ist nicht erst als eine Reaktion auf Fukushima und die eingeleitete Energiewende der Bundesregierung entstanden, sondern ausdrücklich seit dem Jahr 2007 ins Werk gesetzt, nachdem Jahre vorher schon von unserem Umweltbeauftragten viele Einzelaktivitäten in Sachen Ökologie durchgeführt wurden, die dann gebündelt werden konnten.

Schöpfungsfreundliche Kirche: Schutz des Lebens

Das Handeln einer schöpfungsfreundlichen Kirche fordert zugleich auch einen Blick auf den Menschen. Denn der Mensch selbst ist Geschöpf, Geschöpf Gottes. Deshalb impliziert die Ökologie der Schöpfung auch eine „Ökologie des Menschen“[9] – so hat es Papst Benedikt bei seiner Bundestagsrede formuliert. Entwicklungen im Bereich der Biotechnologien fordern dringend eine Verstärkung des unbedingten Schutzes des Lebens des Menschen, von Anfang an.

Erfolge beim Schutz embryonaler Menschen

Meine Damen und Herren, seit über einem Jahrzehnt beschäftigen wir uns weltweit und in Deutschland mit dem Schutz des Lebens. Das heißt auch und besonders mit dem Schutz des embryonalen Menschen vor der Zerstörung zu Forschungszwecken im Interesse einer sogenannten „Ethik des Heilens“, die behauptet, um der Heilung kranker Menschen willen dürften Embryonen getötet werden. Die Heilsversprechen bezüglich der therapeutischen Möglichkeiten der embryonalen Stammzellen sind nicht wahr geworden. Aber es wurden unzählige embryonale Menschen zugunsten dieser Forschungen verbraucht. Auf europäischer Ebene ist nun, was den Schutz des embryonalen Menschen betrifft, einiges positiv in Gang gekommen. Im Zusammenhang der zu klärenden Frage der Patentierbarkeit therapeutischer Verfahren mit embryonalen Stammzellen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil[10] festgestellt, dass jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an ein menschlicher Embryo und damit Träger der Menschenwürde ist. Das war und das ist von jeher die Position der Katholischen Kirche, vieler Christinnen und Christen. Dieses Urteil hat diese Position, die heftig umstritten ist, bestätigt, und ist eine Sternstunde und ein Wendepunkt, jedenfalls ein entscheidender Schritt zum Schutz des menschlichen Lebens – und verstärkt den Schutz des Lebens nachdrücklich. Die Bemühung um die Schöpfung und um den Lebensschutz sind Elemente eines glaubwürdigen Handelns unserer Kirche.

 

III. Gottes Heilsangebot erfahrbar werden lassen

Suchenden eine Heimat geben

Ich komme zum letzten Teil: In den verschiedenen Bereichen eines Dialogs in der Kirche und mit der Gesellschaft geht es darum, Gottes Heilsangebot erfahrbar werden zu lassen. Denn nur eine glaubwürdige Kirche kann glaubwürdig ihre Stimme erheben und wird in dem, was sie feiert und wofür sie steht und wofür sie auftritt, von den suchenden Menschen als Ort der Beheimatung empfunden werden können.

Die Erwartung, Heimat zu finden in einer aufgeregten und wetterwendigen Zeit, die Sehnsucht im Menschen nach Beheimatung ist auch in diesen Zeiten großen Wohlstands und teilweise erreichter Gerechtigkeit und Freiheit nicht erloschen. Im Gegenteil: Die Suche der Menschen in ihren eigenen existentiellen Verlorenheiten und kulturellen Verwerfungen ist groß und wird noch größer werden.

Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang spielt das Erlebenkönnen der christlichen Religion, dass sie uns etwas „bringt“, eine große Rolle. Ich denke, in der Feier der Liturgie werden wir – wo sie gut und richtig gefeiert wird – diese Dimension der Zuwendung Gottes in seiner Liebe erfahren.

Ereignis und Erlebnis der christlichen Religion:
Liturgie als Feier des Glaubens

Ich möchte zum Schluss auf den Anfang zurückkommen. Die Anziehungskraft der jüngst gefeierten Weihnachtsgottesdienste zeigt, dass in dieser Frage der Beheimatung heimatlos gewordener Menschen der Liturgie eine große Bedeutung zukommt.

In der Liturgie der Kirche als Feier des Glaubens kann die menschenfreundliche Botschaft der christlichen Religion Ereignis und Erlebnis werden. Im Zusammenhang meiner Überlegungen zu der gut besuchten weihnachtlichen Liturgie habe ich das versucht auszuführen. Die Liturgie unserer Kirche mit ihren geprägten Zeiten, den Sonntagen und kirchlichen Festen ist voll sprechender Zeichen und Gesten, die wir mit vollziehen. In der Liturgie erfahren wir die Botschaften unseres Glaubens für unser Leben als Christen mit allen Sinnen. Wir bringen auch selbst in der Mitfeier der Liturgie den Glauben leiblich zum Ausdruck.

Die Feier der Liturgie, durch die wir in die Botschaft des Glaubens mit hineingenommen und von ihr ergriffen werden, ist ein hohes Gut, das der Kirche anvertraut ist. Denn wir feiern nicht uns selbst, sondern den Gottes-Glauben, der uns geschenkt ist. Schließlich loben wir Gott, der uns in Jesus Christus begegnet. Die Botschaft Gottes für uns und zu unserem Heil drückt sich in der Liturgie aus und findet darin ihre sprechende, sinnenhaft erfahrbare Form. Von der Liturgie lassen wir unser Herz bewegen und unsere Seele erheben. Weil dies alles ein solches Gut ist, tragen wir Verantwortung für die sorgsame Pflege dieses kostbaren Geschenks.

Christliche Gemeinde als Heimat:
Durch die Erfahrung der Zugehörigkeit

Besonders sind auch die Kirchengemeinden Orte, wo Beheimatung möglich sein und erfahren werden sollte. In einer lebendig gestalteten und gelebten Gemeinde, die bei ihrer Sache des christlichen Glaubens ist, werden Menschen Zugehörigkeit, Heimat finden. Eine Kirchengemeinde soll eine für die Menschen in ihren Sorgen und Nöten „bewohnbare“ Gemeinschaft sein, in der für die zerrissenen Seelen unserer Zeit etwas erfahrbar wird vom Heil und der Heilung durch die christliche Botschaft. Es geht um die Verwirklichung der Kirchengemeinden und der Seelsorgeeinheiten als Orte, als geistlich lebendige Räume, an denen das heilsame Evangelium Jesu Christi erlebbar wird und wo Menschen in dieser oft heil- und gnadenlosen Welt Halt finden und die schützende und rettende Kraft des Glaubens erfahren können. Dann werden Menschen sich einladen lassen – und kommen. Dies in der Pastoral zu erreichen ist leichter gesagt als getan – aber es ist Ziel unseres Zusammenlebens und Handelns. Als zur Verwirklichung anstehende Vision muss uns dies immer vor Augen stehen: einladender Lebensraum und ausstrahlende Gemeinschaft zu sein, in der suchende Menschen Sinn finden. Der Dialogprozess muss auch für Liturgie und Gemeinde zu einem Erneuerungsprozess werden, damit suchende Menschen Orte finden, wo erfahrbar wird, was es heißt, „gerettet“ zu sein aus den „Verlorenheiten“ des Lebens.

Schluss

Liebe Damen und Herren, liebe Schwestern, liebe Brüder, ich wünsche Ihnen für das Neue Jahr, dass Sie in diesem neuen Jahr Gottes Segen erfahren, in Gesundheit, in Ihrer eigenen Lebensgeschichte – den treuen Gott mit uns. Ich wünsche Ihnen, uns allen für das neue Jahr, dass in unserer Kirche der Dialogprozess und Erneuerungsprozess Früchte tragen möge und die Gottesverkündigung, das Heilsangebot für uns Menschen erfahrbar werden kann. Ich wünsche Ihnen Gottes reichen Segen im Jahr 2012!

Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart
Dr. Gebhard Fürst

 

Anmerkungen

[1] Anhand vorgenommener Zählungen.

[2] Ausschnitt aus J.-P. Sartres Bühnenstück „Bariona oder der Donnersohn“, am Heiligabend 1940 in einem Gefangenenlager in der Nähe von Trier uraufgeführt und erstmalig in der deutschen Übertragung veröffentlicht in: Hasenhüttl, G., Gott ohne Gott. Ein Dialog mit Jean-Paul Sartre, Graz 1972, 263-336; vorliegend zitiert nach: Crumbach, K.-H., Wenn Gott Mensch würde…, in: Geist und Leben 47, 1974, 401-404.

[3] Wittgenstein, L., Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt/M., 61969, 52.

[4] Feststellung von H. Opaschowski, zitiert nach: Fürst, G., Grußwort beim Empfang der Kirchen auf der CMT 2009 zum Schwerpunktthema „Kirchliche Jugendreisen“, 22.01.2009 (unveröffentlichtes Manuskript).

[5] Vgl. Fürst, G., „Erneuert euren Geist und Sinn“. Hirtenbrief an die Gemeinden der Diözese Rottenburg-Stuttgart zur österlichen Bußzeit 2011.

[6] Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch (hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg), Hochgebet für Messen für besondere Anliegen II. Gott führt die Kirche, 23.

[7] Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2001.

[8] Rede, M./ Schmidt, J. (Hrsg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt/M., 2008, 47.
[9] Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 189. Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg vom 22.-25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, 37; vgl. Ansprache ebd., 30-38.

[10] Urteil des EuGH zur Ablehnung der Patentierbarkeit embryonaler Stammzellen im Hinblick auf therapeutische Verfahren vom 18.10.2011; vgl. Fürst, G., Eine Sternstunde für den Lebensschutz, in: Katholisches Sonntagsblatt der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 44/2011, 6; Presseerklärung: Eindeutiges Bekenntnis zur Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Bischof Fürst würdigt Urteil des EuGH zum Verbot der Patentierung von embryonaler Stammzellenforschung im Pressearchiv (19.10.2011); vgl. weiterführend: Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) über die Regelungen zur Samen- und Eizellspende vom 03. November 2011.

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