Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2013

Stuttgart

Kirche in Erneuerung – Erneuerung durch Kirche

„Die Kirche geht immer den Weg der Erneuerung“
Zweites Vatikanisches Konzil

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Kirche in Erneuerung, Erneuerung durch Kirche? So habe ich meine Ansprache zum Neuen Jahr überschrieben. Denn die Kirche, unsere Kirche, lebt nur aus ständiger Erneuerung. Kirche wird erst lebendig, wenn sie sich inspirieren lässt von der innovativen Kraft des Gottesgeistes. Ihm wollen wir uns in der Diözese Rottenburg-Stuttgart 2013 neu öffnen. Von einer erneuerten Kirche gehen geistreiche Impulse aus für das Zusammenleben von Menschen. Diese Inspiration haben auch die modernen Gesellschaften in Europa bitter nötig.

Von beiden Dimensionen möchte ich zu Ihnen sprechen: Von einer Kirche in Erneuerung und von einer Erneuerung durch Kirche.

I. Zeitansage

Bei all den Jahresrückblicken 2012 haben wir vieles gelesen, gehört und gesehen. Ein kleines, aber doch vielsagendes Ereignis am Rande möchte ich noch hinzulegen. Im Mai 2012 wurde das Gemälde „Der Schrei“, von Eduard Munch bei Sotheby’s in London versteigert. Noch nie hat ein Gemälde bei einer Auktion so viel Geld eingebracht: 120 Millionen Dollar. Sie kennen das Bild. Auf einer Brücke mitten in einer grauen Landschaft stößt ein totenkopfähnliches Gesicht einen erschütternden Schrei aus: den Schrei eines in Einsamkeit und Angst untergehenden Menschen mitten in einer gottverlassenen Umwelt, die keinen Trost anzubieten hat.

Munchs Schrei erscheint mir wie ein Kultbild für unsere Zeit. Ein Bild für den Verlust an tragenden Beziehungen, für wachsende Verunsicherung und Zukunftsängste. Ein Bild für Erfahrungen von Sinnlosigkeit und schmerzvoller Zerrissenheiten von Menschen. Ein Bild des Scheiterns der Selbst-Sinn-Gebung! Ja, ein Bild für die Untergangsstimmungen, die im Jahr 2012 unfröhliche Urständ feierten.

Irgendwie passt die Sensation des Jahres 2012, dass laut Mayakalender am 21. Dezember 2012, zur Sonnenwende, die Welt untergehen werde, zu diesem Kultbild. Es hat mich überrascht, wie viele Menschen sich haben davon infizieren lassen. Und selbst seriöse Medien zelebrierten in apokalyptischen Dokus Weltuntergänge. Währenddessen feierten Christen Advent 2012 und bereiteten sich auf etwas ganz anderes vor. Nicht auf Untergänge, sondern auf die Ankunft Gottes auf der Erde. Und dann feierten wir Weihnachten 2012: das wirkliche Kommen Gottes auf die Erde zu uns Menschen in der Geburt Jesu, dem Hoffnungsträger schlechthin. Jesus von Nazareth: Menschensohn und Gottessohn.

Der christliche Glaube ist die Alternative zu bedrängenden Untergangsfantasien! Statt Maya-Kalender feiern Christen die Feste des Kirchenjahrs. Statt die in sich greifenden Räder gnadenlos kreisender Wiederholung feiern Christen in der Weihnachtszeit den Anfang mit Zukunft – das Kind in der Krippe. Und Christen feiern als erstes großes Fest des neuen Jahres 2013 das Fest der Erscheinung des Herrn, an dem Jesus Christus, der Retter der Welt den Weisen dieser Welt, den Magiern aus dem Orient sichtbar und gegenwärtig geworden ist. Christen feiern Feste der Hoffnung und der festen Zuversicht aus dem geschenkten Glauben.

Der Jahreswechsel 2012 auf 2013 ist im Glauben der Christen umfangen von den Hoffnungs-Festen des Kirchenjahres – von Advent und Weihnachten mit dem Dreikönigsfest. Die Zeitenwende ist im glaubenden Leben von Christen eingebettet in die Botschaft der Erneuerung der Welt im Zeichen Jesu Christi.

Die katholischen Christen von Rottenburg-Stuttgart vertrauen in ihrem pastoralen Handeln auf diese Inspiration aus dem Glauben und auf die in ihm grundgelegte Hoffnung.

II. Dialog- und Erneuerungsprozess - Stand und Perspektiven

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

In meiner Neujahrsansprache am 6. Januar 2011 habe ich von dieser Stelle aus den Dialog- und Erneuerungsprozess in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit folgenden Worten angekündigt. "Wir werden in der Ortskirche Rottenburg-Stuttgart einen dialogisch angelegten Erneuerungsprozess unverzüglich beginnen. Dabei wollen wir auch die Fragen besprechen, die viele Christen bedrücken und vielen am Herzen liegen: Wie geht es mit den Fragen der Geschiedenen und Wiederverheirateten weiter? Wie geht es mit den konfessionsverbindenden Ehen weiter? Wie steht es um die Stellung der Frau in der katholischen Kirche?" Bei zahlreichen Anlässen habe ich seither einen barmherzigeren und zeitgemäßen Umgang mit den angezeigten Fragen angemahnt und selbst versprochen, mich dafür einzusetzen. Ich komme auf meine Ankündigung vor zwei Jahren zurück, damit Sie selbst sehen können, dass ich sie diesbezüglich eingelöst habe und die von mir in Aussicht gestellten Perspektiven realistisch sind! Es geht mir dabei um Glaubwürdigkeit.

Der diözesane Dialogprozess war von Anfang an dezentral angelegt. "Zeit zu hören", das sollte die Haltung ausdrücken, die den Dialogprozess prägt. Alle Themen, die auf den Nägeln brennen, sollten ohne Vorbehalte angesprochen werden können.

Aufgrund der Offenheit des Prozesses hat sich eine Dynamik während der "Zeit zu hören" entwickelt. Zu Beginn erreichten mich viele Briefe von Einzelnen oder kleinen Gruppen. Im weiteren Verlauf des Dialogprozesses fanden dann Gespräche in den Gemeinden, Seelsorgeeinheiten und Dekanaten statt. Häufig waren die Prozesse vor Ort verbunden mit einer Einladung an mich, direkt mit den Gläubigen in Dialog zu treten. Von Anfang an gehörte es zu einer meiner Prioritäten, für solche Gespräche in ganz verschiedenen Kreisen zur Verfügung zu stehen. Ich habe dabei die Sorgen der Menschen gehört und vieles gelernt. Ich habe aber auch Stellung bezogen. Vor allem aber war mir wichtig die "Stimmung vor Ort", aufzunehmen. An manchen Orten gründeten sich Initiativgruppen. Was erarbeitet wurde, was in Gesprächen mit mir angesprochen wurde, aber auch das, was seine Wirkung in den Gemeinden entfaltete, all das macht wesentliche Elemente des Dialogprozesses aus. Er ist damit zu einem Dialog an der Basis der Diözese geworden. Eine wissenschaftlich ausgewertete Zwischenbilanz im Dialogprozess ist in der Sonderbeilage zum Katholischen Sonntagsblatt vorgestellt.

Das Thema Wiederverheiratete Geschiedene steht inzwischen auf der Agenda der Deutschen Bischofskonferenz. Auch hier habe ich mein Versprechen eingelöst. Wir Bischöfe haben bereits mehrmals darüber beraten. So beim Ständigen Rat im August und bei der Vollversammlung im Herbst in Fulda im September 2012. Wir haben inzwischen eine aus Bischöfen zusammengesetzte Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich dieser großen pastoralen Herausforderung stellen wird. Die Deutsche Bischofskonferenz wird im Februar 2013 bei ihrer Frühjahrs-Vollversammlung einen Studientag durchführen mit dem Thema "Das Zusammenwirken von Frauen und Männern im Leben und Dienst der Kirche".

Wie geht es nun in unserer Ortskirche weiter?

Die Diözese ist keine Insel. Sie hat ihren Ort innerhalb der katholischen Weltkirche. Die meisten Fragen sind komplex und nicht mit einem Federstrich oder einem einfachen Entscheid des Bischofs zu lösen. Auf vier Regionalforen, die im Frühjahr stattfinden, werden die Themen des Dialogprozesses aus der "Zeit zu hören" inhaltlich vertieft, bereits auf den Weg gebrachte Neuerungen vorgestellt, weiterführende Optionen zur Sprache kommen und mögliche Wege in die Zukunft beleuchtet. Gleichzeitig werden erste Ergebnisse und Ideen aus dem bereits angelaufenen pastoralen "Projekt Gemeinde" präsentiert. Gerade hier bestehen drängende Fragen nach der Zukunft von Kirche vor Ort, die durchaus auf der Ebene der Diözese gelöst werden können. Insofern liegt da ein Schwerpunkt bei den Regionalforen.

Im Juni 2013 wird dann der seit März 2011 laufende Dialogprozess mit einer öffentlichen Sitzung des Diözesanrates in Rottenburg abgeschlossen. Dieses Datum markiert einen "Schluss-Doppelpunkt". Der Dialog in der Diözese wird nicht enden, aber die Anstöße aus dem Dialogprozess müssen aufgenommen und in Schritte umgesetzt werden, die vor Ort zu tun sind.

Was in der Bischofskonferenz angegangen wird (s. o.), werde ich im Sinne meiner Positionierungen mitgestalten. Was wir selbst tun können in der Ortskirche Rottenburg-Stuttgart, das haben wir schon angepackt und werden wir beherzt weiterentwickeln. Die Erneuerungsphase hat schon begonnen und erste Früchte getragen.

Ein besonders wichtiges Feld der geistlichen Erneuerung ist die Erneuerung der Pastoral vor Ort. Sie wird von allen Seiten besonders hervorgehoben und eingefordert. Der Erneuerungsprozess muss immer wieder übergehen "in die konkrete Verwirklichung der christlichen Lebensart innerhalb der Familien, Gemeinschaften und Gemeinden" (Alfons Auer). Dazu habe ich bereits bei meiner Neujahrsansprache 2011 festgestellt: "Eine Kirchengemeinde soll eine für die Menschen in ihren Sorgen und Nöten 'bewohnbare' Gemeinschaft sein, in der für die zerrissenen Seelen unserer Zeit etwas erfahrbar wird vom Heil und von der Heilung durch die christliche Botschaft. Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten sollen als geistlich lebendige Räume erlebbar sein, wo die frohe Botschaft des Christentums, das heilsame Evangelium Jesu Christi seinen Ort hat und wo Menschen sich wie aus einer oft sinnlosen, heil- und gnadenlosen Welt Gerettete fühlen können. ... In diesem Sinne lebendige Kirchengemeinden und Seelsorgeeinheiten sind das A und O für eine lebendige, erneuerte Kirche. Deshalb wollen wir von der Leitung der Diözese her alles tun, um die Gemeinden strukturell und personell so auszustatten, dass dies wirklich werden kann. Die Erneuerung der Seelsorgeeinheiten und Kirchengemeinden in diesem Sinne ist Erneuerung unserer Kirche."

Um das noch überzeugender zu verwirklichen und neuen Anforderungen entsprechen zu können, sind zahlreiche Anstrengungen bereits unternommen und ein "Projekt Gemeinde" von der Diözesanleitung initiiert worden, das schon weit fortgeschritten ist.

Inzwischen sind neben dem "Projekt Gemeinde" auf Diözesanebene weitere verschiedene Projekte zur Erneuerung eingerichtet worden. An ihrer Verwirklichung wird mit großem Engagement gearbeitet. So das "Projekt Aufbrechen" im Stadtdekanat Stuttgart und Projekte in anderen Dekanaten wie zum Beispiel Aalen, Ehingen-Ulm und Ludwigsburg.

Für die Erneuerung der Pastoral vor Ort ist das Mitwirken der getauften und gefirmten Christen, also das Ehrenamt, von großer Bedeutung. Ehrenamtlich tätig zu sein bedeutet, die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen zur verwirklichen. Eine mit dem Diözesanrat erarbeitete Schrift zum Ehrenamt steht kurz vor der endgültigen Inkraftsetzung.

III. Jahr des Glaubens - Erneuerung von innen

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Anlässlich der Zusendung der Sonderbeilage des Katholischen Sonntagsblatts zum Dialogprozess schrieb mir eine Frau: "Mehr als viele Themen beschäftigt mich die Erneuerung von innen, in der Grundhaltung zum Mitmenschen als Bruder, als Schwester". Ich kann ihr nur zustimmen! Ein Prozess der Erneuerung muss "von innen" kommen.

Gerade deshalb ist auch der Dialog- und Erneuerungsprozess mit dem Wort aus dem Epheserbrief überschrieben: "Erneuert euren Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an" (Eph 4,23). Die vom christlichen Geist geprägte Pastoral lebt vom "christlich durchformten Leben einzelner Glaubender" (Alfons Auer). Hier setzt das Jahr des Glaubens an. Wir begehen es von Oktober 2012 bis November 2013.

Wir gestalten es im Geist der rettenden und erlösenden Botschaft wie sie uns in der Feier des Weihnachtsfestkreises des Kirchenjahres verkündet und vermittelt wird. Ich habe diesen Hoffnungs-Horizont eingangs aufgezeigt. Papst Benedikt lädt die katholischen Christen ein, "den Weg des Glaubens wiederzuentdecken, um die Freude und die erneuerte Begeisterung der Begegnung mit Christus immer deutlicher zutage treten zu lassen" und in das Leben der Gemeinschaft mit Gott zu führen. Suchenden Menschen gilt es, den Weg des christlichen Glauben neu anzubieten. Wie erreichen wir diese Sinnsucher, wie gehen wir mit dieser Glaubenssehnsucht um? Sie ist ja auch bei uns selbst da. Wie kann es gelingen, den Weg des Glaubens wiederzuentdecken und zu vertiefen?

Ich bin überzeugt, dass wir den Weg des Glaubens heute besonders durch die Begegnung mit Zeugen des Glaubens erschließen können. Denn "der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Lehrer. Wenn er auf Gelehrte hört, dann, weil sie Zeugen sind" - ein Wort von Papst Paul VI.. Das Jahr des Glaubens ist deshalb bei uns überschrieben "Von Glaubenszeugen Glauben lernen". Besonders hervorheben wollen wir die Erinnerung an die großen und kleinen Glaubenszeugen der Diözese. Zu den großen gehören der aus Stuttgart stammende und im Dom zu Rottenburg zum Priester geweihte Selige Rupert Mayer, der sich dem Nationalsozialismus widersetzende Bekennerbischof Joannes Baptista Sproll, der besonders im Raum Ellwangen als Volksmissionar verehrte Pater Philipp Jeningen und ebenso der von den Nationalsozialisten hingerichtete aus Rottenburg am Neckar stammende württembergische Staatspräsident Eugen Bolz.

Auch die weltberühmte Madonna von Matthias Grünewald, die nach der Restaurierung Ende 2012 wieder an ihren fränkischen Ort in Stuppach zurückgekehrt ist, kann als Glaubenszeugnis besonderer Art bei der Erschließung des Glaubens helfen. Überraschend umfangreich war die positive Berichterstattung in den Medien. Darin zeigt sich die große Faszination, die dieses Bild des Glaubens auf Menschen ausübt.

Der Heilige Martin, Patron und Leitfigur der Pastoral der Diözese, spielt im Jahr des Glaubens ebenfalls eine herausragende Rolle. Martinus, der zwischen 316 und 397 in Europa auftritt, ist ein "in Geist und Sinn" erneuerter, ein wirklich neuer Mensch. Er lebte am Beginn des christlichen Europa - einer der sich vom römischen Heidentum abwendete und sich auf Christus hat taufen lassen. Er hat für sich den Appell realisiert: "Erneuert euren Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an" (Eph 4,23). Er ist ein Täter des Wortes der Liebe und hat Christus in den Armen und Schwachen erkannt und hat IHN so auch den Menschen verkündet. Diesen in Christus erneuerten Menschen und seine Spiritualität kennenzulernen und sich selbst aus seinem Geist erneuern zu lassen, das wäre eine große Frucht des Jahres des Glaubens.

Die Diözesanwallfahrt geht im Frühjahr 2013 ins ungarische Szombathely, den Geburtsort von Martin. Die Menschen dort freuen sich schon sehr auf uns. Sie freuen sich, dass welche aus dem Westen Europas zu ihnen in den Osten Europas kommen, sie würdigen und sich den großen Sohn ihrer Stadt zu ihrem Vorbild nehmen wollen! Ungarn ist übrigens seit Mai 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union. Ich möchte einladen, auf diese Wallfahrt mitzugehen.

Im Jahr 2005 rief der Europarat das Projekt "Via Sancti Martini", den Martinsweg durch Europa als europäischen Kulturweg aus! Seit 2009 arbeiten wir am "Projekt Martinsweg" in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der im Jahr 2011 in der Diözese eröffnete, nun 1200 Kilometer lange und gut ausgeschilderte Martinsweg, ermöglicht Pilgerinnen und Pilgern von diesem Heiligen viel zu erfahren und zu lernen, was missionarisches Christsein heißt. Wandernd kann man sich diesen großen europäischen Christen in seinem Leben aus dem Glauben für die Menschen in ihren Sorgen und Nöten vergegenwärtigen. Der Martinsweg geht seit 2012 auch durch Stuttgart. Der Weg ist auf der Stadtkarte eingezeichnet.

Die Klosteranlage in Weingarten mit ihrer Martinsbasilika wird der Ort eines von der Akademie im Oktober veranstalteten internationalen Martinus-Kongresses sein. Sein Titel: "Martin von Tours, der große Heilige an der Schwelle des christlichen Europa und Leitfigur der Neuevangelisierung". Wir laden dazu Delegationen deutscher Martinsbistümer, der französischen Bistümer Tour, Blois und Reims, sowie anderer Martinsbistümer in Österreich und Italien ein.

Martin, die große europäischen Gestalt und sein eindrucksvolles Wirken in der Zeit des Entstehens Europas aus dem Geist des Christentums, kann eine Art der spirituellen Inspiration sein, die Europa heute wieder besonders braucht. Martin von Tour hat Europa eine Seele gegeben. Er steht für die – gegenwärtig bedrohte – soziale Dimension der Gesellschaften Europas. Für Martin ist der Gottesglaube Quelle des Einsatzes für die Menschen, Quelle des sozial-caritativen Handelns einer diakonischen Kirche. Für ihn war der Vorrang des Geistig-Geistlichen vor dem Materiellen in allem leitend. Wer sich mit Martin von Tour auseinandersetzt, geht nicht in die Provinz, sondern ist auf dem Weg der notwendigen Erneuerung Europas in seiner umfassenden Gestalt.

IV. Geistliche Erneuerung Europas

Meine Damen und Herren!

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf dieses Europa und die politischen Turbulenzen in der Europäischen Union des Jahres 2012. Da war die Krise um die Verschuldung und die Fiskalprobleme vieler europäischer Staaten. Da waren die damit zusammenhängenden Erschütterungen der Wirtschaft. Da waren die sozialen Unruhen in betroffenen Gesellschaften und die immer wieder aufgespannten finanziellen Rettungsschirme. Vieles gibt Anlass zur Sorge. Vieles steht auf dem Spiel. Wo sind die spirituellen Rettungsschirme?

Mitten in der Krise wurde die Europäische Union am 10. Dezember 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die EU habe, so lautet die Begründung, "über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen". Und weiter heißt es: "Die EU erlebt derzeit ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten und beachtliche soziale Unruhen. Das norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens."

Mit dieser Preisverleihung an die Europäische Union wird eines der größten Friedensprojekte der Geschichte gewürdigt. Aber der Nobelpreis mit dieser Begründung ist zugleich ein Auftrag an uns alle, europäische Zukunft zu gestalten. Die schweren Turbulenzen der europäischen Gesellschaften werden nur vorübergehen, wenn die EU von innen und die europäischen Menschen und Politiker selbst mit einem neuen Geist erfüllt werden, mit einem neuen Geist, der mehr und auch anders ist als der derzeit sichtbare und alles beherrschende Krämergeist mit dem fast exklusiven Starren auf die Finanz- und Haushaltsprobleme. Die fiskalischen Rettungsschirme werden nicht ausreichen, Frieden und Versöhnung, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschenrechte in die Zukunft zu retten. Eine neue Inspiration muss die Europäer ergreifen.

Anfang 2012 gab Jaques Delors in "Christ und Welt" ein Interview (Christ und Welt 1/12). Von 1985 bis 1994 war er Präsident der EG-Kommission. Der erfahrene Europapolitiker vertritt darin die These: Wir müssen Europa eine Seele geben, das heißt, Europa brauche einen neuen spirituellen Elan! Er ist überzeugt, dass – wie er es formuliert – die Religion aus der Krise helfen kann. Schon zu seiner Zeit als Präsident schrieb Jaques Delors in seinem Weißbuch für den Europäischen Rat: "Achten Sie darauf, dass Sie ... Ihre Probleme nicht bloß untereinander regeln. Denken sie auch an die kommenden Generationen. Verschuldung entsteht durch laxe Politik, aber sie bezeugt auch einen Mangel an Solidarität zwischen den Generationen, die an der Macht sind ..., und denen, die ihnen folgen." Delors sieht die tieferen Gründe für die momentanen Verwerfungen "in einem extrem starken Individualismus" und erkennt "zwischen dem zunehmenden Individualismus und dem Rückgang der Religionen ... einen Zusammenhang". Auf die Frage, ob es gegen den starken Individualismus mehr Religion brauche, antwortet Delors: "Ich denke schon. In Europa lässt die religiöse Praxis nach. .... Ich denke, dass der Niedergang der Religion zu einem Verlust an Lebenssinn und relativer Autonomie geführt hat. Das Band zu den anderen, die Tatsache, dass wir eine Gemeinschaft bilden, dass wir miteinander verbunden sind, das haben die christlichen Konfessionen gelehrt." Auf die Frage der Interviewer, ob für ihn christliche Transzendenz und Solidarität als politische Rettung gelten, antwortet er: "Wenn man nur an sich selbst denkt, wenn man nur der einzige Richter seiner selbst ist, zeitigt das keine guten Ergebnisse, weder für sich noch für andere. Wesentliche Elemente der Identität, der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften und Gesellschaften bewirken, dass es sinnvoll ist, sich nicht als Richter seines Handelns zu betrachten." – Frage: Sensibilisiert der Glaube für die politische Arbeit? – Delors: "Zum Kampf gegen Ungerechtigkeit hat die Tatsache, dass ich gläubig war, viel beigetragen." Als Glaubender habe ich "immer die Hoffnung, dass man etwas machen kann. Deshalb mache ich weiter." – Frage: Hat ihnen der Glaube geholfen, diese Hoffnung aufrechtzuerhalten? Und Delors wieder: "Ja, .... der Glaube macht das möglich. .... Der Glaube lässt sie wieder neu anfangen." – Frage: Woher kommt ihre Idee, Europa eine Seele zu geben? Antwort Delors: "Ich erkannte die Entwicklungen unserer Gesellschaften zum Egoismus, zu einem übertriebenen Individualismus. Der Enthusiasmus des Anfangs, als der Gemeinsame Mark etabliert war, war gefährdet. Wenn dieses Projekt nicht von spirituellem Schwung getragen wird, wird es nicht weit kommen. So habe ich das Wort 'Europa eine Seele geben' geprägt ... Es ging darum, einen spirituellen Elan zu finden." – Frage: Und muss jetzt die Seele Europas reanimiert werden? Darauf Delors: "Voilá. Und man muss Politiker finden, die den Mut haben, die Schwierigkeiten oder Widerstände zu überwinden, um weiterzugehen." Soweit Jaques Delors.

In wenigen Tagen, am 22.01.2013 jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung des Elysée-Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im Januar 1963. Mit dem Elysee-Vertrag wurde die Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich auf eine vertragliche Grundlage gestellt, die drei Ziele verfolgt: die symbolische Besiegelung der deutsch-französischen Aussöhnung, die Begründung einer Freundschaft zwischen den beiden Völkern sowie die Förderung des Aufbaus eines vereinten Europas.

Insbesondere sollte auch die Zivilgesellschaft in den deutsch-französischen Austausch eingebunden werden. Deshalb haben sich in Folge des Elysee-Vertrags zahlreiche binationale Institutionen und Partnerschaften gebildet.

In der Begründung zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU wird der deutsch-französischen Aussöhnung eine entscheidende Rolle zugewiesen.
Agence France Press (aj) meldete am 8. Juli 2012 aus der französischen Stadt Reims: "50 Jahre ist es her, dass der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer in Reims den Grundstein für die deutsch-französische Aussöhnung legten. Am 8. Juli 1962 – also ein halbes Jahr vor dem Elysèe-Vertrag – hatten die beiden Staatsmänner die Kathedrale von Reims mit einer 'Versöhnungsmesse' zum Symbol für die beginnende Aussöhnung und Kooperation der so lange verfeindeten Nationen gemacht. Dieser Schicksalsort deutsch-französischer Feindschaft, ... wurde auf diese Weise zum Sinnbild der deutsch-französischen Freundschaft. Mit diesem Treffen in Reims legten de Gaulle und Adenauer damals den Grundstein für den Elysée-Vertrag, der ein halbes Jahr später –1963 – unterzeichnet wurde und der bis heute die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich regelt." Soweit die Pressemeldung. Dass hier mit der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims auf die Kraft der Versöhnung aus dem christlichen Glauben gesetzt wurde, haben die meisten Zeitgenossen vergessen. Aus welcher Quelle kommt heute diese immer neu notwendige Kraft zur Versöhnung?

In der Gemeinsamen Erklärung der französischen und deutschen Bischöfe zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags im Januar 2003 betonen die Bischöfe beider Länder, dass mit diesem Vertrag der "Weg der Versöhnung" eingeschlagen werde. Das stärke "das Fundament für ein geeintes Europa, ... das im Innern friedlich und nach Außen friedensstiftend ist.“ Es gehe im Vertrag um „die Verbundenheit der Menschen". – "Alle Menschen, Institutionen und Verbände in unserer Gesellschaft müssen die bereits bestehenden Kontakte vertiefen und den Prozess gegenseitiger Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen fördern. Jede Generation muss verstehen, welch kostbares Gut diese wieder versöhnte Bruderbeziehung darstellt." Der Brief der französischen und deutschen Bischöfe von 2003 fährt fort: "Wir wissen auch, dass die Annahme des Evangeliums in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung eine gemeinsame Kultur begründet hat, die unsere Völker bis heute verbindet. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Anerkennung der Freiheit, der Wille, sich für Solidarität und Gerechtigkeit einzusetzen: diese Werte haben, so glauben wir, ihre Wurzeln darin, dass wir Geschöpfe Gottes sind, der sich uns in der Person Jesu Christi geoffenbart hat. Bis heute haben diese Werte das europäische Gesellschaftsmodell geprägt. ... Die europäische Union ist in der Tat vor allem eine Wertegemeinschaft. ... Für unsere Völker ist die Europäische Union ein Werk des Friedens. ... Auch als Vertreter der katholischen Kirche wollen wir unseren Beitrag zur Versöhnung und zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft für die Völker Europas leisten. Die katholische Kirche unterstützt seit langem vielfältige, enge Kontakte, etwa zwischen den Nachbarbistümern an unserer gemeinsamen Grenze, aber auch zwischen Diözesen anderer Landesteile. Dies wollen wir intensivieren..."

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Auch die Europäische Union "lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann" (Ernst Wolfgang Böckenförde). Diese Voraus-Setzungen gilt es zu verlebendigen. Das Zukunftspotential des Christentums für Europa zu erschließen und an der Weiterentwicklung der humanen Kultur der Europäischen Union mitzuarbeiten, dazu haben die Christen insgesamt ein Mandat der Geschichte. Die europäischen Verträge räumen den Kirchen einen großen Beteiligungsspielraum ein. Wir alle sollten diese Mitwirkungsmöglichkeiten stärker nützen.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes neues Jahr 2013.

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