Bischof Dr. Gebhard Fürst: Neujahrsansprache 2018

Eine neue Religion ohne Gott wird durch die Computerwelten erschaffen. Das neue Paradigma vergöttlicht sich selbst, greift nach dem Status der Religion und verlangt Unterwerfung. ... Das neue Paradigma wird zur Religion ohne transzendenten Gott. Der Mensch vereinnahmt das Religiöse für sein eigenes Projekt und geht selbst darin unter. Das ist kein Segen.

Stuttgart

Eingriff in die Zukunft

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das Jahr fängt gut an. Die Sternsinger sind unterwegs. 600 Kinder und Jugendliche durfte ich vor einigen Tagen in Bad Buchau aussenden. Die versammelten Sternsinger grüßen Sie freudig und wünschen Gottes Segen. Das Jahr fängt gut an. Es beginnt mit Segen. Den Segen bringen Sternsinger zu uns, in die Häuser, zu den Menschen. Sie verkünden das zentrale Festgeheimnis von Epiphanie, vom Fest der Heiligen Drei Könige: Gott ist unter uns erschienen in Jesus Christus. Gott ist mit uns, ER geht mit uns. Das ist ein Segen.

Das Jahr 2018 steht von heute aus unter einem guten Stern. Das christliche Fest „Epiphanie“ bringt Segen und Freude. „Segen bringen. Segen sein!“ – So lautet das Motto der Sternsinger für die diesjährige Aktion. Segen bringen. Segen sein: Das möchte ich über das neue Jahr und die Zeit, die vor uns liegt, über unsere Zukunft schreiben. Und wir haben ihn nötig: den Segen Gottes. Wir brauchen Kraft und Orientierung, um unser aller Zukunft gut zu gestalten.

Meine Damen und Herren, noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten, in die Zukunft einzugreifen. Aber nicht über allem, in das Menschen eingreifen, liegt ein Segen. Nicht alles, was Menschen tun, wirkt sich segensreich aus. Meine Neujahrsansprache habe ich deshalb „Eingriff in die Zukunft“ genannt.

Das gewaltige Eingriffspotential, das Menschen zur Verfügung steht, wird besonders in den Biotechnologien und in der Digitalisierung manifest. Wir verändern beispielsweise durch Biotechnologien das Verhalten der Menschen im Bereich der Fortpflanzung. Durch den Eingriff der digitalen Technologien werden wir selbst – wenn wir nicht aufpassen – zu einem integralen Element der sich entwickelnden digitalen Welt und drohen darin aufzugehen.

Ich möchte Ihnen zu dieser höchst komplexen Materie einige Überlegungen anbieten, um konstruktive Nachdenklichkeit und mutiges Handeln zu bewirken. Das brauchen wir, damit wir es schaffen, eine gute Zukunft zu gestalten und die unantastbare Würde des Menschen zu bewahren.

Mein Neujahrsimpuls ist in zwei große Teile gegliedert: In einem ersten Teil mit der Überschrift „Eingriff in die Zukunft“, werde ich zu den neuen Biotechnologien und der globalen Digitalisierung einiges beispielhaft ausführen und Kontexte, Chancen und Risiken vorstellen.

In einem zweiten Teil, der aus christlichem Geist Mitwirkungs-Angebote vorstellt, werde ich die Einladung aussprechen, an einer menschenfreundlichen Welt und einem menschenwürdigen Leben mitzuarbeiten. Mit einigen Impulsen möchte ich zeigen, welchen Beitrag wir als Christen, als Kirche, leisten können.

1. Eingriff in die Keimbahn durch Biotechnologien und Rreproduktionsmedizin

Die neueste der Eingriffsmöglichkeiten hat es in sich. Die mit dem Begriff „CRISPR/Cas9“ bezeichnete Technologie ermöglicht den Eingriff in die Keimbahn des Menschen. Das heißt in seine chromosomengestützte, konstitutive Konstruktionsarchitektur des Gesamtorganismus des Menschen. CRISPR/Cas ist ein Instrument der Selbsttransformation. Die Genomsequenz kann theoretisch an jeder gewünschten Stelle verändert werden, was bedeutet, dass Erbanlagen stillgelegt, repariert oder optimiert werden.

CRISPR/Cas wirkt wie eine Präzisionsschere. Die genetische Veränderung von Embryonen durch CRISPR/Cas ermöglicht es, jede beliebige Erbanlage auf viele Generationen hinaus zu optimieren – auch solche, die nicht auf einer der mehrere tausend Gene umfassenden Liste der schweren Erbkrankheiten stehen: die ‚Intelligenzgene‘‚ oder die ‚Schönheitsgene‘.

Das Besondere an CRISPR/Cas ist, dass durch diese Technologie in die Architektur des Gesamtorganismus Mensch auf eine Weise eingegriffen werden kann, dass diese Eingriffe irreversibel sind und sich quasi ewig weitervererben in der Varianz der Vereinigung des Genoms von Ei- und Samenzelle. Die Auswirkungen von entsprechenden Eingriffen sind nicht abschätzbar.

Nach neuestem Stand der Forschung und der daraus generierten Technik könnte bereits ein manipulierter Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt werden.  Ein so verändertes Baby könnte auf die Welt kommen. Seinerseits würde es die manipulierten Gene an alle zukünftigen Generationen weitergeben.

Damit stellen sich die ethisch brisanten Fragen: Was wollen wir über Genmanipulation bzw. Keimbahnintervention an krankheitsgenerierender Beschädigung verhindern und was über das ,gesunde Normalmaß‘ hinaus befördern? Wie steht es um erbanlagebedingte Behinderungen? Wie steht es um Verbesserung und Leistungssteigerung bei Gesunden? Was bedeutet es für das Selbstverständnis eines Menschen, wenn er sich mit biotechnischen Mitteln in letzter Konsequenz sogar selbst entwirft? Soll dies ein Segen sein?

Die Möglichkeit der Genschere ist ein Anlass zur Vergewisserung, ob, wie, wo und mit welchen Konsequenzen für den konkreten Menschen und seine Nachkommenschaft wir mit dieser biotechnologischen Methode umgehen wollen. Der Eingriff in die Keimbahntherapie ist augenblicklich in Deutschland verboten. Aber in der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestags steht ein Reproduktionsgesetz auf der Tagesordnung, das diese Frage regeln muss. Der Regelungsbedarf bezieht sich noch auf ein ganzes Umfeld dieser Biotechnologie mit brisanten ethischen Implikationen. Darauf kann ich jetzt nicht eingehen.

Als Christen, als Kirche, fühlen wir uns verpflichtet in die ethischen und technologischen Debatten einzugreifen. Unser Selbstverständnis, eine lebensfreundliche Kirche sein zu wollen, verpflichtet uns im Interesse des Lebensschutzes den uns möglichen Einfluss zu nehmen. Im Vorfeld des wohl kommenden Reproduktionsgesetzes steht viel an aktuellen Themen des Lebensschutzes an.

2. Eingriff in alle Lebensbereiche durch umfassende Digitalisierung

Ich komme zu einem zweiten Bereich, in den Technologien immer intensiver in alle Lebensbereiche des Menschen eingreifen. Die Technologie der Digitalisierung stellt einen Eingriff in die Kommunikation und in das menschliche Schaffen, seine Arbeit, sein Produzieren dar, wie das bisher unvorstellbar schien.

‚Digitalisierung‘ meint in seiner umfassenden Bedeutung die Umwandlung von Informationen aller Art in ein digitales Format, die massenhafte Speicherung und Verarbeitung von Daten und die weltweite Vernetzung. Dabei wird die Gesamtheit aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Neuerungen und Veränderungen auf der Basis von Informations- und Kommunikationstechnologien digitalisiert.  Dies birgt viele Chancen.

Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche: Internet und künstliche Intelligenz fangen gerade erst an, ihre ganze Macht zu entfalten. Viele zukünftige Entwicklungen sind heute noch nicht abschätzbar. Es kommt daher in ganz besonderer Weise darauf an, dass wir aufmerksam den Prozess der Digitalisierung in unserer gesamten Gesellschaft verfolgen und mitgestalten.

Namhafte Persönlichkeiten in vielen Bereichen beklagen: „Wir reden in Deutschland viel darüber, wie die Digitalisierung die Wirtschaft verändern wird. Wir reden aber zu wenig darüber, wie sie unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben verändern wird.“ Der Megatrend Digitalisierung birgt große Herausforderungen in sich. Lässt sich die Informationsflut beherrschen? Wie sichern wir Teilhabe für die bisher digital Abgehängten? Müssen Algorithmen und Big Data gezähmt werden?

Aufgrund der unschätzbaren Folgen der Digitalisierung kommt es daher darauf an, dass wir wach bleiben. Und die Reflexion über ethische Fragen nicht vergessen. Dieses Wachbleiben ist unabdingbar. Nur so können wir mithelfen, den gesamtgesellschaftlichen Lernprozess im Interesse des Menschen voranzubringen und als Kirche mitzugestalten. Denn ungeachtet aller Chancen der Digitalisierung stehen fundamentale Dimensionen des Menschseins und unseres demokratischen Zusammenwirkens auf dem Spiel.

Die Digitalisierung greift revolutionär in unser Menschsein ein. Die Kommunikation, die bisher eine digital gestützte Kommunikation zwischen menschlichen Subjekten war, wird ergänzt und zunehmend dominiert von einer menschenunabhängigen, sich entpersonalisierenden, umfassend digitalisierten Kommunikation von Computerwelten. Sie steuern sich autonom und nach nicht mehr durchschaubaren komplexen Prozessen selbst. Dies bewirkt eine schleichende unsichtbare und universale technologische Selbstorganisation durch digitale Netze und Computersysteme. Hier bleibt der kommunizierende Mensch außen vor und wird doch von der digitalisierten, den Menschen als Subjekt und Akteur exkludierenden ‚Kommunikation in Big Data etc.‘ massiv bestimmt, beeinflusst, ja entmündigt. Das ist kein Segen.

Die umfassende Digitalisierung versetzt den Menschen also in eine prekäre Lage. Ich lehne die Digitalisierung keineswegs ab, meine Damen und Herren. Ich möchte ihre Chancen sehen, sie aufnehmen und nach meinen Möglichkeiten mitwirken an ihrer humanen Gestaltung. Aber einem Digitalisierungswahn zu verfallen, hilft schließlich niemandem und schadet letztlich allen. Wenn das Menschsein des Menschen in der durchdigitalisierten Welt dekonstruiert wird, hätte das nicht auszudenkende katastrophale Folgen. Digitalisierung ohne kritische Begleitung und verantwortete Gestaltung hat fatale Konsequenzen. Kritisches Innehalten, um kompetent mitgestalten zu können tut Not, um der Menschen willen, um unserer Zivilisation willen.

Deshalb sollten wir kritische Stimmen , und die gibt es viele, nicht arrogant abtun. Der Philosoph Günther Anders hat einmal gesagt: Wenn die Maschinen perfekter würden als der Mensch, werde die Technik vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Dann könne der Mensch die Macht der Geräte nicht mehr erkennen und Sachzwänge emotional und kognitiv nicht mehr bewältigen.  Dieses Diktum kann auf die Digitalisierung hin umformuliert werden, ohne im Geringsten seinen Gehalt zu verändern: Wenn die Technologien perfekter werden als die Menschen, dann wird die Technik vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Dann kann der Mensch die Macht der technischen Instrumentarien, wie zum Beispiel die Mikro-, Meso-, und Makrotechnologien des digitalen Paradigmas, nicht mehr erkennen – und Sachzwänge emotional und kognitiv nicht mehr bewältigen. Darauf liegt kein Segen.

Worauf das hinausläuft ist leicht zu sehen: die Urteilsfähigkeit des Menschen wird geschwächt. Durch Fakten, die die Digitalisierung schafft, kommt es zur schleichenden Entmündigung des Menschen. Er durchschaut nicht mehr, was geschieht. Die totale Unübersichtlichkeit des Netzes wird zur objektiven Überforderung des Menschen. Die Gründe für die Überforderung liegen außerhalb seiner selbst in den ihm vorgegebenen und ihn beherrschenden umfassend digital gewordenen Bedingungen des außer Kontrolle geratenden, sich verselbständigenden digitalen Paradigmas. Die Freiheit des Menschen wird im Digitalen verspielt.

Beim Zweiten Katholischen Medienkongress der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn zog der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof im Blick auf die Digitalisierung sein Fazit: „Technik ist nur gut, soweit sie Freiheit garantiert und schafft, ansonsten muss man dagegen kämpfen.“  Das sei nicht nur ein Appell, sondern der Handlungsauftrag an die Kirchen, sich für Schwache angesichts der neuen Bedingungen einzusetzen. Die durch die Digitalisierung verursachten negativen Folgen für das Menschsein des Menschen beginnen schon einzutreten und könnten das Menschsein des Menschen dekonstruieren. Die Würde des Menschen nimmt erheblichen Schaden.

Werden die genannten möglichen Gefährdungen real, kommt es zur Verletzung des Artikels 1 der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Entsprechend der Verpflichtung auf die Verfassung müssen wir wachsam sein und dem entschieden wehren, wo die unantastbare Würde des Menschen angetastet, beschädigt oder gar zerstört wird. Deshalb ist es zentraler Handlungsauftrag an die Kirchen, sich für Schwache angesichts der neuen Bedingungen einzusetzen.

In der Katholischen Soziallehre haben wir im Übrigen ein hervorragendes Instrumentarium, um mit einem klaren Bild vom Menschen und den zentralen Prinzipien ‚Personalität – Sozialität – Subsidiarität – Solidarität‘ für den Mensch und seine Gemeinschaft kompetent in den öffentlichen Diskurs einzutreten.

3. Interdependenz von Biotechnologie und Digitalisierung

Meine Damen und Herren, die beiden Großtechnologien, auf die ich eingegangen bin, agieren nicht selbständig und unabhängig voneinander. Die wachsende Vernetzung und das Zusammenwachsen zu einem globalen Ganzen im Zeichen der digitalen Technologien zeigt dieses Bild [Vektor Illustration von liuzishan]. Zwischen Biotechnologien und der Digitalisierung ereignet sich gegenwärtig aus der Interdependenz ein integratives Ganzes. Biotechnologien und Digitalisierungstechnologie wachsen zu einem einzigen Großparadigma zusammen. Die Machbarkeit durch Technologien beherrscht und durchherrscht alles und wird so zur säkularen Religion der Machbarkeit, in der sich der Mensch selbst aufzugeben droht und sich dahinein auflöst.

Mit den Fortschritten der Digitalisierungstechnologie und der Biotechnologie geht meines Erachtens ein erheblicher Bewusstseinswandel einher. Die Selbstwahrnehmung der Menschen verändert sich. Es entstehen neue Menschenbilder. Daraus entsteht ein neues Paradigma, das das alte ablöst: Das Paradigma einer technologisch globalisierten Welt und Lebenswelt des Menschen in allen vorstellbaren Bereichen. Paradigma meint die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden und ihr Verhalten und Handeln unbewusst steuert. Dieses neue Paradigma wird von der Trias Machbarkeit – Technologie – Weltverbesserung bestimmt.

Der Paradigmenwechsel zeichnet sich dadurch aus, dass technologische Machbarkeit im Hinblick auf die Weltverbesserung, bzw. auf die „Rettung der Welt“ Ethos und Ethik, religiöse Grundüberzeugungen und Grundhaltungen ablöst. Das neue Paradigma traut der Dimension eines an Werten und Haltungen orientierten verantwortlichen Handeln nicht mehr zu, Leben und Welt angemessen zu gestalten. Computer können das kraft ihrer gigantischen Rechnerleistung und ihres umfassenden gespeicherten und sich weiter generierenden Wissens besser. Das neue Paradigma heißt dann: Alles, was gemacht werden kann, muss auch gemacht werden. Alles ist machbar. Die Technologien verbessern unsere Welt in Richtung Paradies auf Erden.

Dies ist nicht meine eigene Beurteilung, sondern wird von wichtigen Akteuren der Digitalisierung mehr oder weniger so formuliert. In seinem bekannten Buch Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen schreibt der Verfasser Yuval Harari: „Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen. … Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern sowie durch und durch virtuelle Welten zu erschaffen.“

Eine neue Religion ohne Gott wird durch die Computerwelten erschaffen. Das neue Paradigma vergöttlicht sich selbst, greift nach dem Status der Religion und verlangt Unterwerfung. Meine Damen und Herren, damit ist ein entscheidender Punkt erreicht. Das neue Paradigma wird zur Religion ohne transzendenten Gott. Der Mensch vereinnahmt das Religiöse für sein eigenes Projekt und geht selbst darin unter. Das ist kein Segen.

Dass das keine Fiktion ist, davon weiß Michael Moorstedt über Entwicklungen im Silicon Valley in den USA zu berichten. Dort wolle „eine Religion die künstliche Intelligenz anbeten“ . Dann beschreibt er die Kennzeichen dieser Religion ohne transzendenten Gott. Der führende Prophet der Robotik, berichtet Moorstedt, hat eine ganze Religion gegründet. Way of the Future, lautet der Name seiner Kirche. Er will sich der Erschaffung und Anbetung einer Gottheit in Form einer künstlichen Intelligenz widmen. Seine Workshops heißen Gottesdienst. Sein Handbuch nennt er eine heilige Schrift. Die Fürsprecher der Technologien heißen in Kalifornien ‚Evangelist‘. Und der neue Gott ist ein freundlicher Avatar. Neue Technologien schaffen neue Gottheiten.

In den Laboren von Google und Co. geschehe Unheimliches, ja gar Übernatürliches. Unsterblichkeitsversprechen wirkten plötzlich ganz konkret. So schließt Moorstedt seinen Bericht. Selbstbestimmung und Verwurzeltsein in einem größeren allumfassenden Ganzen, das das transzendente Heilige – Gott – umfasst und von uns klassisch religio, Religion, genannt wird, wird überholt durch technologische Selbstorganisation der Computer-Welten. Es folgt die Anbetung des Digitalen, die Sakralisierung, die Verzweckung des Heiligen und damit seine Zerstörung.

In diesen Kontext passt die Inszenierung der Firma Google. Der sakrale Raum mit dem Google-Altar, über dem das Google-Emblem aufgerichtet ist an dem Ort, wo sonst ein anderes Bild hängt oder ein anderes Zeichen gesetzt ist. Altar und Altarraum als Raum der globalen Technologie-Liturgie, architektonisch inszenierte Google-Theophanie. Ist hier die Frage nach dem aufgerichteten Götzenbild unberechtigt? Das Heilige, das in den Religionen zur Erscheinung kommt und Gestalt annimmt, ist jedenfalls abgelöst.

Ohne das Heilige aber wird alles für den Menschen verfügbar, ja durch das sich verselbständigte große Ganze des technologischen Paradigmas wird es denaturiert und ersetzt. In dieser Zukunft kommt der Mensch nicht mehr als Gestalter, sondern nur noch als Objekt im dynamischen digitalisierten Prozess vor. Seine ihm zukommende unverletzliche Menschenwürde, seine Sakralität, hat ausgedient. Der Mensch wird fremdbestimmt und ferngesteuert, im Datenmeer aufgelöst. Die Menschheitsgeschichte kennt formulierte Sätze, die dem Heiligen, der Menschenwürde, unbedingte Ehre erweisen. Es gehört zum weisheitlichen Wissen unserer Kulturen, dass dort „wo die Ehrfurcht vor dem Heiligen zerbrochen wird, in einer Gesellschaft Wesentliches zugrunde geht.“

4. Die Rettung des Heiligen

Mit meinem letzten Teil knüpfe ich an den vorausgehenden Abschnitt über die Rettung des Heiligen an. Ohne den Respekt vor dem Heiligen nimmt unser Menschsein und unser Zusammenleben Schaden. Wäre uns nichts mehr heilig, könnten wir keine gute Zukunft erwarten.
Darüber müssen wir nachdenken und lernen, was das bedeutet. Wir können unser Menschsein auch verspielen. Und es steht viel auf dem Spiel. Ich möchte deshalb jetzt Einladungen aussprechen zur Mitgestaltung einer lebensfreundlichen Zukunft mit einem menschenwürdigen Leben.

Der bekannte Sozialphilosoph Hans Joas hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben über die Heiligkeit der Person des Menschen. Joas glaubt nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte. Sie lassen sich nicht allein durch rein rationale Argumentation erzeugen. Sie verlangen das Erzählen von Geschichten jener Erfahrung, die den Werten und Rechten des Menschen zugrunde liegen.

Die zentrale Idee des Buches lautet: Die universale Menschenwürde sei das Ergebnis eines Sakralisierungsprozesses. Jedes menschliche Wesen wurde fortan als heilig angesehen. Im Recht sei dieses Verständnis der Sakralität der Personen institutionalisiert worden. Hans Joas wichtiges Buch zeigt auf wie die Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte aus einer sich wechselseitig inspirierenden Parallelaktion säkularen und religiösen Denkens, Interpretierens und Handelns entstehen konnte.

Die Heiligkeit des Menschen stammt letztlich aus der Überzeugung von seiner Gottebenbildlichkeit. Aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist in Begegnung mit der neuzeitlichen Vernunft das herausgewachsen, was Joas mit Sakralität, Heiligkeit der Person in der Moderne meint. Die Würde des Menschen ist unantastbar, unverletzlich: das ist die Heiligkeit des Menschen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ein neues Gefühl, ein neues Empfinden für Heiliges, Unantastbares, das unter keinen Umständen verletzt werden darf, sollte wieder stärker werden. Diese Würde, diese Heiligkeit – natürlich hier nicht im moralischen Sinne verstanden, sondern als vor aller Leistung im Dasein des Menschen begründet - sollten wir wieder bewusster vertreten. Dazu können wir beitragen. Insgesamt sollte unsere Kultur und Zivilisation eine stärkere Beziehung zur Heiligkeit, zum Heiligen entwickeln. Das christliche Bild vom Menschen bedeutet, dass er kein „Selfmademan“ ist. Er ist Geschöpf. Er ist nicht sein eigenes Produkt. Deshalb gilt besonders: Er ist ein Empfangender, ein im Leben Beschenkter und nicht ein Selbstproduzierter. Jeder Mensch ist verdankte Existenz.

Im Anschluss an die Stärkung des Verständnisses für Heiliges und einer daraus wachsenden menschlichen Kultur, messe ich den Festen der Christen, den christlichen Feiertagen eine große Bedeutung zu für ein menschenwürdiges Leben und Zusammenleben der Menschen. Recht verstanden leisten die Feste der Christen für die Gesellschaft insgesamt einen wesentlichen Beitrag.

Es mag Sie überraschen, wenn ich darauf hinweise, dass die Feste der Christen Zentrales dazu beitragen, dass es Gegenwart und Zukunft gelingt, die Humanität des Menschen je neu zu stiften und zu bewahren und dass sie so auch der humanen Gestaltung der Zukunft dienen und sie immer neu hervorbringen. Die Bedeutung des Festkalenders, das Kirchenjahr, die Schönheit der Liturgie, diese feierliche Festlichkeit thematisiert die Grundfragen des Menschseins: Woher kommen wir, wohin gehen wir, was ist der Mensch? - Was darf ich hoffen?

Fest und Feier sind ein menschliches Urbedürfnis. Der Sinn des Festes ist die heilsame Erhebung über den Alltag. Gemeinsam mit den Kirchengebäuden als Erinnerungsorten bilden die christlichen Feiertage als Erinnerungszeiten somit Formen des kulturellen Gedächtnisses an Sinnbezüge, von denen sich nicht ausschließen lässt, dass sie über die aktuelle Bedeutung hinaus auch zu anderer Zeit an anderem Ort auf unvorhersehbare Weise Wirkungen zu entfalten vermögen.

Um dieses kulturellen Gedächtnisses willen bleibt der Schutz und die Bewahrung der christlichen Feiertage eine dringliche, auch gesellschaftspolitische Aufgabe. Denn die christlichen Feiertage haben ihre eigene Bedeutung als aktuelle wie potentielle Bezeugungsgestalten eines Sinnangebots für gelingendes Leben.

Wir feiern auch 2018 Ostern, Pfingsten, Weihnacht und heute zu Beginn des Jahres das Erscheinungsfest, dessen Botschaft die Sternsinger auf ihre Weise in die Welt und zu den Menschen tragen und damit ein Segen sind. Die christlichen Feste im Kirchenjahr halten das Bewusstsein und die Sache des Heiligen präsent und das Gottesbewusstsein wach: In der Liturgie der Gottesdienste, der Feier der Eucharistie und in den Sakramenten der Kirche kommen die großen Fragen der Menschen zur Sprache und das in ästhetischer, den Sinnen, dem Erlebnis, der Erfahrung offenstehenden Weise.

Die Feste der Christen feiern Gott und feiern deshalb den Menschen, der sein, Gottes, Abbild ist und der durch Gott „mit Herrlichkeit gekrönt ist“ (Psalm 8,6). Deshalb kommt ihm eine unverletzliche Menschenwürde zu. Die Feste halten die unter keinen Umständen zu verletzende Würde des Menschen fest, erinnern an sie, vergegenwärtigen sie festlich.

Liebe Damen und Herren, ich wünsche mir eine einladende, Lebenskultur und Lebensstil stiftende Kirche. Und ich arbeite daran mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wir wollen mit allen, die mitwirken möchten, in diesem Sinne eine den Menschen dienende Kirche – eine diakonische Kirche – bauen und sein. Eine Kirche, in der das Evangelium vom Heil für alle Menschen lebendig, spürbar, erfahrbar ist.

Wir wollen mit allen, die mitwirken möchten, eine bewohnbare, eine Heimat gebende Kirche sein und auch eine prophetische Kirche, die der Gerechtigkeit in allen Bereichen unseres Lebens und Zusammenlebens verpflichtet ist.

Ganz in diesem Sinne möchten wir als Kirche, als Christen, als Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Gesellschaft Segen bringen und ein Segen sein. So wünsche ich Ihnen von Herzen ein gesegnetes Jahr 2018.

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