Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt am Karfreitag 2002

Stuttgart, Konkathedrale St. Eberhard

Liebe Schwestern und Brüder,

Seht, da ist der Mensch!

Dieser Ausruf des Pilatus faßt den Schrifttext des heutigen Tages wie kein anderer zusammen: Einen Text, bei dem wir uns zutiefst sträuben, ihn als Frohbotschaft zu bezeichnen. Ein Text, der heute wie damals das Scheitern alles dessen erzählt, auf das Menschen ihr Leben, all ihre Hoffnung gesetzt hatten. Der Lebensweg Jesu, der mit seinem Handeln und Reden, mit seinen heilsamen Begegnungen und mitreißenden Erzählungen Menschen begeistert hat, dieser Lebensweg kommt an sein dramatisches Ende. Doch der Blick wird uns nicht erspart, es gilt hinzuschauen, weil sich an diesem Tag alles entscheidet. Seht, da ist der Mensch!

Wie sehr wünschen wir uns, Leiden und Sterben zu verdrängen, nicht hinzusehen, nicht davon zu reden, damit uns die Freude am Leben nicht vergeht. Aber genau das mutet uns das Evangelium, der heutige Karfreitag zu, den bitteren Weg bis zum Ende mitzugehen, die grausame Wahrheit vom Ende des Jesus von Nazareth nicht wegzuschieben, sondern auszuhalten. Sehen wir hin, lernen wir am heutigen Tag, was Menschsein heißt. Denn der Ausruf ‚Seht da ist der Mensch‘ ist auch eine letzte, tiefste Einladung, die Lebensgeschichte anzusehen und anzunehmen. Das, was weh tut, nicht wegzuschieben. Die Lebens-, Leidens- und Sterbegeschichte Jesu kann zur Schlüsselbegegnung der eigenen Lebensgeschichte werden. Ich greife drei Sätze heraus.

Eine erste Begegnung: SIE SCHLAGEN JESUS INS GESICHT. Jesus fragt zurück: "Warum schlägst Du mich?" - Warum werde ich geschlagen? - das fragt nicht nur Jesus. In seiner Frage klingt unsere mit: warum werde ich geschlagen? Aber: In meiner eigenen Frage meldet sich Jesus zu Wort und fragt mit mir: Warum schlägst du, Mensch? –

Liebe Schwestern und Brüder! Es ist immer das alte Lied: Menschen schlagen Menschen. Und sie treffen nicht nur ihren Leib, sie treffen ihre Würde.

Eine zweite Begegnung: Pilatus stellt Jesus der Menge vor und sagt: "SEHT DA DEN MENSCHEN!" - Und da steht er: nicht gekrönt vom Erfolg, sondern mit der Spottkrone aus Dornen. Zur Schau gestellt, ausgelacht, schutzlos preisgegeben. Und wieder treffen wir auf eine uns gut bekannte Erfahrung: durch Schadenfreude anderer; durch heuchlerisches "Mitgefühl" ... Es ist immer das alte Lied! Menschen treiben ihren Spott mit den Schwachen, grenzen aus, stellen bloß, machen lächerlich, liefern aus.

Und schließlich die dritte Begegnung: "DORT KREUZIGTEN SIE IHN." - Am Ende kommt alles zusammen, was ein Leben schrecklich macht: Jesus wird tödlich verwundet. Aber nicht erst der Todesstoß verwundet ihn tödlich, zu Tode verwundet hat ihn schon, dass er verraten wurde - zu Tode verwundet hat ihn schon, dass ihn alle verlassen - zu Tode verwundet hat ihn das Unrecht, das ihm zugefügt wird. Auch hier das alte Lied, das Lied vom Tod: Menschen vermögen einander tödlich zu treffen.

Seht, da ist der Mensch, wir schauen hin, wir hören die Geschichte des heutigen Tages, wir lernen, wie der Mensch ist – aber wir lernen zugleich unendlich mehr. Wir lernen den Menschen Jesus kennen, so richtig kennen, in seinen letzten Stunden, die alles entscheiden. Sehen wir genau hin, hören wir aufmerksam das alte Lied vom Menschen – und vernehmen wir Töne einer neuen, ganz anderen Melodie:

Da wird einer geschlagen .... und schlägt nicht zurück: So lebt Jesus neues Leben! Da lässt einer sich lieber dem Spott ausliefern und zur Schau stellen, statt selbst-gerecht mit den Fingern auf andere zu zeigen: So lebt Jesus neues Leben! Da wird einer verraten und zu Tode verwundet - und beginnt doch nicht zu hassen, ganz im Gegenteil: er bleibt den Menschen treu bis zum Letzten: So lebt Jesus neues Leben!

Der Ausruf ‚Seht, da ist der Mensch‘ wird so in der Tat zur zentralen Aussage der Todesgeschichte Jesu, weil sich in ihr seine Frohbotschaft eines neuen Lebens bewahrheitet.

Das ist nicht das alte Lied, wahrlich nicht: Um dieses neue Leben zu leben, um uns das Lied vom wirklichen Leben zu singen, geht Jesus seinen Weg zu Ende.

Selbst der Tod kann dieses neue Leben nicht besiegen. Selbst die Todesstunde widerlegt Jesu Botschaft nicht, sein augenfälliges Scheitern bewahrheitet ihn ein letztes Mal – und ein für allemal.

 

Amen

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