Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt am Ostersonntag 2005

Rottenburg, Dom St. Martin

Liebe Schwestern und Brüder!

Wer gegenwärtig mit Menschen zusammenkommt, sie anhört und mit ihnen spricht, der bekommt den Eindruck, dass sie ein Ungenügen spüren und dass in vielen zugleich ein neues Bedürfnis wächst. Sie möchten über das Oberflächliche unseres alltäglichen Hin und Her hinaus, Glanz im Leben entdeckten, die Tiefe im eigenen Leben finden, die erst wirklich leben lässt. Was trägt uns, was hat Bestand im Rad des Wechsels? Wir wollen nicht nur dem Flüchtigen und Nichtigen ausgeliefert sein, dem Vergänglichen. Viele suchen wieder nach dem Gültigen, nicht nur nach dem Vorläufigen: sie wollen Leben im Leben finden.

Die Bibel kennt diese unruhige Suche. Das Neue Testament nennt dieses ersehnte Leben im Leben ewiges Leben. Die Bibel meint damit nicht nur das Leben nach dem Tod, sondern schon den Glanz im Leben heute, seine wahre Tiefe, die uns vor dem bloß Nichtigen und Flüchtigen bewahrt.

Dieses Wort vom Leben durchzieht das Osterfest wie ein roter Faden. Das Wort vom Leben leitet uns zum Sinn des Festes. Das erste Gebet in der Ostermesse beginnt mit dem überraschenden Satz: "Am heutigen Tag hast du, Gott, uns den Zugang zum ewigen Leben erschlossen." (Tagesgebet) – Was Bestand hat im Leben, verlässlich, sinnvoll und gut ist, was unserem Leben Glanz gibt, das müssen wir nicht selber machen. Gott hat uns den Zugang dazu freigemacht.

Zum Glück bin nicht ich der Macher meines Lebens und auch nicht der Lebens-Designer Anderer. Der Zugang zum wahren Leben ist mir eröffnet, ein Geschenk, uns erschlossen am Ostertag. Darin liegt das Geheimnis des Osterfestes, dass uns die Auferstehung Jesu den Zugang zum unvergänglichen Leben zeigt, zum Gelingen des menschlichen Lebens in seiner Würde, in letzter Hinsicht und als Ganzes im Zeitlichen und Ewigen. Das kommt uns vom auferstandenen Christus. Schon in meine Gegenwart reicht sie herein: die Wirklichkeit "ewiges Leben".

Paulus hilft uns da weiter, wenn er von Jesus bekennt, dass Gott in ihm mit seiner ganzen Fülle wohnen wollte (Kol 1,19). Gott mit seiner ganzen Fülle ist schon da in Jesus: das Ewige, der Ewige erscheint schon in diesem Menschen. In Jesus lebt das göttliche Leben, das Leben in Fülle und in ihm, in seinem Leben für uns ist es offenbar geworden. Der Tod am Kreuz hat dies nicht zerstören können.

Die Auferweckung Jesu vom Tod zum Leben durch Gott ist die endgültige Bestätigung, dass in diesem Jesus von Nazareth das wahre Leben gegenwärtig war und unter uns als Mensch gelebt und gewirkt und gelitten hat. Und in der Auferweckung ist dies ewige Leben, das Jesus uns gegeben hat, zum Durchbruch gekommen. Und das hat für uns nach Leben dürstende Menschen Bedeutung.

In ihren ersten Schriften nennen die Christen Christus den "Anführer zum Leben" (Apg 3,15), ja, den "Urheber des Lebens". Und Paulus schreibt einmal: "Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und uns das Licht des unver-gänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium" (2 Thess, 1,10b), das wir verkünden. Fragen wir deshalb zurück: Wer war dieser Jesus, dass er uns das Leben im Leben, das unvergängliche Leben gebracht hat?

Jesus wendet sich den Hilfsbedürftigen, den Kranken, den Sündern und Verachteten zu, spricht sie an, legt ihnen die Hände auf und schenkt ihnen Hoffnung und neue Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. Leben im Leben. Jesus lebt selbst aus tiefster Beziehung zu Gott und lässt sich von Menschen bis zum letzten in Anspruch nehmen. So wird er für Menschen zum Urheber eines neuen Lebens.

In Jesus Christus sind die Mächte des unvergänglichen Lebens am Werk, in denen die "Güte und Menschenliebe Gottes" (Tit 3,4) gegenwärtig wird: Leben im Leben. Als auf Christus Getaufte haben wir Anteil an diesem Leben in Christus. Bei der Weihe des Taufwassers in der Osternacht haben wir gesungen: "Alle, die mit Christus begraben sind in seinem Tod, werden durch die Taufe mit Christus auferstehen zum ewigen Leben."

Das ist die Tiefe unserer Existenz: das Unvergängliche das wahre, ganze Leben. Wer sich diesem Leben ganz in Wort und Tat, mit Haut und Haar verschreibt, verfehlt sein Leben nicht, der bleibt, wird nicht zuschanden, geht nicht verloren, er gewinnt den Glanz des Lebens, findet das Leben im Leben.

Dies nicht zu vergessen mahnt uns Paulus heute im Kolosserbrief: "Brüder und Schwestern, ihr seid mit Christus auferweckt" (Kol 3,1), das ruft er uns Getauften heute zu. Getaufte Christen als mit Christus auferweckte haben Anteil am Geschehen der Auferstehung: sie sind hineingenommen in die Dynamik des Lebens.

Die Großen in der Geschichte des Christentums haben das gewusst: Blaise Pascal, der selbst das Leben im Leben, wahres Leben, leidenschaftlich finden wollte, schreibt als sein geistliches Testament: "Das ist aber das ewige Leben, dass die Menschen dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum erkennen." (W. Dirks, Wette, S. 13)

Uns ist das Leben im Leben gegeben und wir dürfen hoffen auf seine Vollendung bei Gott. So können wir dem Leben trauen, erlöst von verbissener Daseinssorge, befreit, uns dem Anderen zuzuwenden. Sich geliebt zu wissen und lieben, einander bergen und die Angst nehmen, versöhnen und vergeben, befrieden: das sind Mächte des wahren Lebens. Wo sie walten, da kommt in einem glücklichen Augenblick ewiges Leben im Leben zum Vorschein als Unterpfand der künftigen Herrlichkeit.

Christen sind nicht die gestressten und verzweifelten Lebensmacher, Christen im Glauben an die Auferstehung sind österliche Menschen, sind immer jugendliche Menschen, weil sie – ob alt oder jung – in der Erfahrung des Ewigen im Leben doch noch die ganze Zukunft noch vor sich haben: Leben in Fülle bei Gott, der alles ist in Allem.

Österliche Menschen, liebe Schwestern und Brüder, sind ein Segen für unser Land. Ein Segen für Andere, ein Segen für das Zusammenleben, für unsere Ge-sellschaft heute. Sie stiften dem Leben neues Leben ein. Wie niemand sonst können Christen als österliche Menschen Erneuerer des Lebens, Erneuerer der Welt sein. Denn wir sind schon mit Christus auferweckt zum ewigen Leben.

Amen.

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