Stuttgart, Konkathedrale St. Eberhard
Schrifttexte: Apg 10,34-43; Joh 20,1-9
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir feiern das Osterfest. Doch in diesem Jahr ist manches anders als sonst. Wir glauben, dass Jesus Christus auferstanden ist. Er ist durch Leiden und Tod hindurch von Gott zum neuen Leben erweckt. In diesen Tagen bekommt die Botschaft einen anderen Klang als sonst. Denn es hat sich ein schwarzer Schatten auf unsere Kirche gelegt. In den letzten Wochen hörten wir von Missbrauchsfällen in unserer Kirche, in der Gesellschaft, in Familien, Einrichtungen und Schulen. Meist vor Jahrzehnten geschehen, wirken sie so zerstörerisch, wie wenn sie heute geschehen wären. Wie wollen wir, als aus dem Auferstehungsglauben lebende Menschen, in dieser Situation Zeugnis geben von unserer Hoffnung?
Ein Satz des Apostels Paulus – der selbst einmal seine Gemeinde in Korinth (vgl. 1 Kor 6,9f und 1 Tim. 1,9f) scharf zurechtgewiesen hat, weil dort Knabenschänder geduldet werden – ist mir wichtig geworden. Paulus schreibt im Philipperbrief: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden“ (Phil 3,10). „Christus will ich erkennen!“ – Paulus drückt mit diesem Wort sein Verlangen aus, auf den auferstandenen Christus so zu hören, dass er ihn als sein eigenes Lebensprogramm annimmt und in die lebendige Christusgemeinschaft eintritt. Von der Erkenntnis Christi, nach der Paulus sich ausstreckt, will er seine gesamte Existenz und sein Handeln beanspruchen und prägen lassen. Diesen Entschluss zu fassen sind auch wir immer wieder neue aufgerufen.
Aber was hat dies für Folgen für unsere Lebensführung? Bei allem, was Paulus an Erschreckendem erfährt, lebt er aus dieser Erkenntnis Jesu Christi. Mitten in bedrohlichen Situationen baut er auf „die Macht der Auferstehung Christi“. Aus der Kraft der Auferstehung Jesu, in die er mit seinem Leben eintaucht, wird für ihn die „Teilhabe an der Auferstehung bereits in diesem Leben.“ (Joachim Gnilka) So ist sich Paulus gewiss, dass wie in der Auferstehung Christi die Mächte des Todes überwunden wurden, die zerstörerischen Kräfte auch in seiner Zeit überwunden werden. Und der Missbrauch von Kindern ist eine zerstörerische, tödliche Macht. Manche Opfer sagen, der „Missbrauch hat meine Seele zerstört!“.
Österliche Menschen, vom Auferstehungsglauben her lebende Menschen, sehen ganz in der Spur des von Gott in der Auferweckung bestätigten Jesus auf die am meisten Erniedrigten und Gedemütigten. Wir können nicht wegschauen, wir wollen sehen und hören, die wir bisher übersehen und überhört haben und ihnen Gerechtigkeit zukommen lassen. Solches Handeln ist eine österliche Lebensführung von Christen, die aus dem Glauben an die Auferstehung leben.
Das Aufstehen für das Leben, so ist ein Schwerpunkt der Pastoral der Seelsorge unserer Diözese überschrieben, hat durch die Missbrauchsfälle eine neue, bis dato nicht sichtbare Dimension erhalten. Wir hatten hier bisher einen blinden Fleck. Nun sind uns die Augen geöffnet worden! Auferstehen mit Jesus Christus aus der Lähmung und Aufstehen für das Leben von Menschen, die uns in diesen Tagen als Opfer vor Augen treten, das ist österliches Handeln! In solchem Handeln werden wir selbst umgewandelt in die Gestalt Jesu und seine Art, für Menschen heilend zu leben.
Wenn wir einen Sinn finden können in der schweren Heimsuchung, die über unsere Kirche gekommen ist, dann den, dass wir als österliche Kirche, als österliche Menschen, noch nachdrücklicher Aufstehen für das Leben, für das unversehrte Leben der Kinder, für die Heilung verletzter Menschen, die wir bisher übersehen haben. Wenn wir einen Sinn finden können in der schweren Heimsuchung, dann den, dass wir eine neue christliche Kultur der Achtsamkeit in unserer Kirche pflegen und in unserer Gesellschaft entwickeln helfen.
In der Spur des Lebens und Sterbens Jesu lautet die Auferstehungsbotschaft des Osterfestes 2010: Als mit Christus zum neuen Leben Auferstandene stehen wir auf für das Leben, handeln wir lebensfreundlich und menschendienlich an den Opfern der bösen Geschichten, die geschehen sind.
Noch einer Dimension sollten wir uns am Fest der Auferstehung in dieser bleiernen Zeit wieder bewusst werden. Christen, die die Mächte der Zerstörung und des Todes von der Kraft der Auferstehung her sehen, werden diese bösen Mächte zurückdrängen in unserer Kirche und an allen Orten der ganzen Gesellschaft. Wir brauchen dazu ein neues ehrliches Gespräch, mit allen Bereichen und Verantwortlichen unserer Gesellschaft, um eine menschendienliche, lebensfreundliche und zukunftsfähige Kultur der Sexualität zu finden und zu leben, zu der wir die Kinder und Jugendlichen heranbilden können. In dieses Gespräch müssen wir Christen unsere christlichen Grundüberzeugungen einbringen.
Unser christliches Bild vom Menschen weiß, Sexualität des Menschen gehört zur guten Schöpfung Gottes. Sie ist große Gabe und zugleich große Aufgabe, sie ist eine Beziehungsgabe, die intensivste, aber auch verletzlichste Beziehungskraft zwischen Menschen. Sie gilt es zu bilden, zu hüten und zu pflegen.
Christen blicken vom Ostermorgen her, auf die menschlichen Lebenszusammenhänge. Sie leben von der Auferstehung her und von der Kraft, die sie im Leben entfaltet. Das Ja zum Leben, besonders zum Leben der am meisten Erniedrigten, der Einsatz für sie, die Liebe gerade zu denen, die sie besonders brauchen, das stammt aus der Auferstehungserfahrung des Ostermorgens. Christus ist auferstanden! Er, der geliebt hat bis zum Ende, der uns so viel Gutes getan hat. Weil er von Gott auferweckt wurde, wissen wir, wie Gott uns Menschen haben will: nämlich als liebende, uns besonders an die hingebende Menschen, die Heilung ihrer zerstörten Seele suchen, deren Leben neu erstehen soll.
Christus ist auferstanden! So sehen Christen die Welt, den Menschen, sein Leid und seine Schwäche in einem neuen, alle Dunkelheiten und Nächte des Lebens, erleuchtenden Licht. „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung soll mich prägen.“
Amen