Konkathedrale St. Eberhard Stuttgart
Schrifttexte: L.: Zef 3, 14-17; Phil 4, 4-7; Ev.: (Lk 15,1-7); Lk 3, 10-18
Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Die Heilige Schrift ist der Spiegel, der uns zeigt, wie sich die Barmherzigkeit Gottes konkret im Leben in all ihrer Konkretheit ausdrückt. So schildert uns der Evangelist Lukas heute folgende Begebenheit: Menschen kommen zu Johannes dem Täufer in die Wüste. Sie fragen ihn: „Was sollen wir tun? Um ein gottgefälliges Leben zu führen“ (vgl. Lk 3,10)
Zunächst für unsere und sicherlich auch für damalige Ohren ebenso ungewöhnlich fällt die Erwiderung Johannes‘ des Täufers aus. Der, den die Menschen als den Wegbereiter Jesu erkennen, fordert nicht zuerst besondere Übungen der Frömmigkeit, nicht zuerst Steigerung im Gebetsleben, nicht zuerst tiefere Kontemplation. – An erster Stelle nennt Johannes der Täufer die vielmehr Nächstenliebe, die Caritas: „Teilt eure Kleidung und euer Essen. Nehmt von niemandem mehr, als euch zusteht. Unterdrückt niemanden.“ (V. 11f.)
Johannes der Täufer sieht und weiß: Bei den Menschen, die zu ihm kommen in die Einsamkeit der Wüste, darf er voraussetzen, dass es Menschen sind, die Gott in ihrem Leben gerecht werden wollen. Vor ihn sind Menschen getreten, die sich bereits für die Beziehung zu Gott und ein Leben mit ihm entschieden haben. Dennoch sind es Menschen, die sich danach sehnen, aus dem Glauben heraus noch wirksamer in dieser Welt zu leben. Und so geht es dem Evangelisten Lukas weniger um eine gefühlsmäßige Dimension von Barmherzigkeit. Barmherzigkeit zeigt sich in ihren spürbaren und sichtbaren konkreten Ausdrucksformen.
Denn „Gottes Barmherzigkeit ist keine abstrakte Idee (…). – Sie ist das pulsierende Herz des Evangeliums“, schreibt Franziskus in seiner päpstlichen Verkündigungsschreiben „Misericordiae vultus“ – „Glanz der Barmherzigkeit“ zum außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit: „Gottes Barmherzigkeit ist eine konkrete Wirklichkeit, durch die Er seine Liebe als die Liebe eines Vaters und einer Mutter offenbart, denen ihr Kind zutiefst am Herzen liegt“, so Franziskus.
Barmherzigkeit ist nichts Abgehobenes, Abstraktes oder Unerreichbares. Sie hat einen Namen und ein Gesicht, Augen und Ohren, Stimmen und Hände. In Jesus von Nazareth, dem Gottes- und Menschensohn zeigt sie sich ganz. Papst Franziskus schreibt weiter: „Jesus von Nazareth ist es, der durch seine Worte und Taten, Werke, und durch sein ganzes Dasein die Barmherzigkeit Gottes offenbart.“ (MV) Sein menschliches Gesicht ist das göttliche Antlitz des Vaters. In Jesus Christus wird uns Menschen die hingebende Liebe Gottes zuteil. Und solange sich immer wieder Menschen anstecken lassen, von der Liebe Gottes und im Alltagsleben Zeugnis ablegen wird dieser große Strom der Barmherzigkeit niemals versiegen.
Immer wieder werden der Kirche Menschen geschenkt, die durch ihr Leben und Wirken Zeugnis ablegen von der Barmherzigkeit Gottes. Es genügt einen Augenblick innezuhalten, um zu verstehen, dass sie gegenüber dem Nächsten barmherzig geworden sind, weil sie sich selbst von der unendlichen Liebe Gottes durchdringen ließen, ja, sich von der göttlichen Barmherzigkeit umfangen wussten. Wie auch Johannes der Täufer sagt: „Teilt eure Kleider und euer Essen.“
Einer von ihnen ist Martin von Tours – unser Diözesanpatron. Deshalb fügt es sich besonders gut, dass das große Jubiläum seines 1700. Geburtstags, das wir als Martinsdiözese feiern, in das Heilige Jahr der Barmherzigkeit fällt. Der Heilige Martin teilt mit dem Bettler den Mantel, sein Kleid. Und so mündet seine Begegnung mit dem Notleidenden für Martin direkt in die Begegnung mit Jesus. Im notleidenden Bettler begegnet er Jesus Christus selbst.
Bis heute ist uns Martin ein lebendiges Vorbild und ein Ansporn darin, nicht nachzulassen in dem Bemühen, für die Armen und Notleidenden da zu sein, zu teilen, was uns gegeben ist. Und so im Geist und Sinne Jesu Christi zu leben und so Jesus Christus selbst, ja, Gott darin zu begegnen. Martin lebte und wirkte die leiblichen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde und Obdachlose aufnehmen und beherbergen. Kranke pflegen, Gefangene besuchen und die Toten würdig begraben. Eben sich barmherzig gegen die zeigen, die in Not und Elend leben. Wie aktuell sind doch diese Werke der Barmherzigkeit, eines besonders in diesen unseren Tagen: Fremde und Obdachlose aufnehmen und sie beherbergen.
All diese Werke der Barmherzigkeit gehören zum Prozess der menschlichen Solidarität. Ihren speziellen Charakter erhalten sie aber durch das Jesus-Wort in der Weltgerichtsrede im Matthäusevangelium, das Jesus selbst den Werken der Barmherzigkeit hinzufügt: „Das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).Denn Jesus selbst hat sich mit denen identifiziert, die hungern, dürsten, arm und ohne Obdach sind, die krank sind und frieren – innerlich wie äußerlich. Zugleich fordert Jesus, dass wir verzeihen. Dass wir die anderen achten, dass wir uns ihnen zuwenden und ihnen in Liebe begegnen. Ganz in diesem Sinne wollen wir im Martinsjubiläumsjahr auf den Wegen pilgern – uns die Werke der Barmherzigkeit vergegenwärtigen: Nackte bekleiden (Kleiderkammer), Hungrige speisen (Tafelläden), Kranke pflegen (Hospiz).
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
über dem Eingang alter Klöster steht manchmal der Satz: „Porta patet – cor magis“ – „Die Tür steht offen – noch mehr das Herz“. In diesem Spruch ist alles zusammengefasst: Aufnahme, Annahme, Gastfreundschaft, Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit. Die Pforte der Barmherzigkeit, die wir soeben hier in der Konkathedrale und in vielen anderen Orten der Diözese geöffnet haben, soll allen sagen: „Hier seid Ihr willkommen. Hier gehört Ihr dazu.“ Die offenen Türen sollen uns allen zeigen: Hier können die Menschen, die Gläubigen Trost und Zuversicht gewinnen. Hier können sie sich als geliebte Töchter und als geliebte Söhne des barmherzigen Vaters angenommen wissen. (Vgl. Lk 15, 11-32)
In diesem Heiligen Jahr können wir die Erfahrung machen, wie es ist, wenn wir unsere Augen, Ohren, Hände und Herzen öffnen für alle. Papst Franziskus schreibt: „Öffnen wir unsere Augen, um das Elend dieser Welt zu sehen“, er bittet uns deshalb eindringlich, „die Wunden so vieler Brüder und Schwestern, die ihrer Würde beraubt sind zu heilen. Fühlen wir uns herausgefordert ihren Hilfeschrei zu hören.“ (MV) Liebe Schwestern und Brüder, öffnen wir die Türen zu unseren Herzen. Geben wir die Barmherzigkeit weiter, die wir bereits in Jesus Christus und durch andere erfahren durften, auch die, die Schuld auf sich geladen haben. – Ja, wir brauchen Barmherzigkeit, Vergebung und Versöhnung.
Keiner kann Gott aus ganzem Herzen lieben, wenn er nicht zugleich versucht, auch die Menschen zu lieben aus ganzem Herzen. Durch seine Menschwerdung hat er uns gezeigt: Unser Leben kann in jene größere Liebe hinein münden aus der heraus es geboren wurde. „Der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Jesus Christus bewahren“, sagt der Apostel Paulus der Gemeinde von Philippi zu (Phil 4, 7). Das ist der Glaube, an dem die Kirche von Anfang an festgehalten hat. Dazu gilt, woran wir immer wieder erinnert werden müssen: „Liebe – Caritas wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft.“ Öffnen wir unsere Türen und noch mehr unser Herz!
Amen!