Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt bei der Fußwallfahrt nach Flüe

Stetten

Schrifttexte: Sir 44,1.10-15; Mt 13,16f

Liebe Schwestern und Brüder aus Nah und Fern, liebe Wallfahrtsgemeinde auf dem Weg nach Flüe, liebe Gemeinde hier in Stetten!

‚Ihr aber seid selig, denn eure Augen sehen und eure Ohren hören!‘

Die Jünger werden von Jesus selig gepriesen, weil sie sehen und hören. Neben den bekannten Seligpreisungen aus der Bergpredigt ist das eine etwas unbekanntere Stelle, die wir uns deshalb etwas genauer ansehen wollen.

Natürlich können wir zunächst rückfragen, was die Jünger wahrnehmen, wenn sie Augen und Ohren offen halten. Sie sehen Jesus von Nazareth, erleben seine heilsame Nähe unter den Menschen, sein Handeln und seine Taten, seine Art, auf Menschen, die am Rand stehen, zuzugehen, die Kleinen und Ausgegrenzten in die Mitte zu stellen, die Benachteiligten durch Zuwendung mit der Würde auszustatten, die ihnen zukommt. Und sie hören seine Gleichnisse, seine Frohe Botschaft vom Reich Gottes, seine guten, liebevollen Worte für Menschen, auch wieder gerade für die, die ein gutes Wort so bitter nötig haben wie ein Stück Brot. Die Jünger hören aus Jesu Mund die Frohe Botschaft und sie sehen als Zeugen seines Lebens, wie er dieses Reich Gottes bereits anbrechen läßt, ja wie er dieses Reich Gottes als Mensch darstellt. Leibhaftigen Umgang mit Jesus gehabt zu haben, kann es für Menschen ein größeres Lebensglück geben? Wer von uns, liebe Schwestern und Brüder, wollte bestreiten, dass solche Seligpreisung mit gutem Grund erfolgt.

Und doch heißt es genauer hinzuschauen, denn Jesus sagt an dieser Stelle zunächst nicht, was denn die Jünger sehen oder hören. Nein, er stellt nur absolut fest: ‚Selig seid ihr, denn eure Augen sehen und eure Ohren hören.‘ Das heißt doch im Umkehrschluß: Ihr seid nicht blind und taub, ihr seid aufnahmebereit und offen für das, was wichtig ist. Jeder von uns kennt aus eigener Erfahrung genügend Situationen, in denen gerade so etwas von uns nicht gesagt werden kann: Das Ehepaar, das schon so lange Jahre zusammenlebt und mit der Zeit verlernt hat, füreinander hellsichtig, sensibel und aufmerksam zu sein. Da lebt man liebelos nebeneinander her und ist blind für das, was dem anderen fehlt. Oder die quengelnde Großmutter, die aus ihrem Platz im Pflegeheim anruft und schon wieder etwas will: Wie sehr geht sie uns und unserer Ruhe auf die Nerven, und wie taub sind wir für den Hilfeschrei nach Nähe, den sie uns eigentlich zurufen möchte.

Oder die alleinerziehende Mutter, die in der Wohnung nebenan ihre Kinder anschreit, weil sie mit ihrer Kraft einfach am Ende ist: Obwohl die Wände doch so dünn sind, hören wir nicht ihren Notruf, ihr doch unter die Arme zu greifen und ihr in ihrem schwierigen Alltag beizustehen. Oder der Rollstuhlfahrer, der am Gleis des Bahnhofs steht und nicht in den Zug kommt: Obwohl es doch so augenfällig ist, hetzen wir blind zum nächstwichtigen Gesprächstermin und denken, das da schon jemand anderes helfen wird.

Und da sagt Jesus: ‚Selig seid ihr, denn eure Augen sehen und eure Ohren hören.‘ Die Jünger sind deswegen selig, weil sie in die jesuanische Schule gehen konnten, weil sie an seiner Seite lernen konnten, wie ein Mensch für die anderen Menschen leben kann, wie ein Mensch ganz für die anderen da sein kann, wie ein Mensch bedingungslos lieben kann. Und Jesus kann feststellen, dass die Jünger, so schwer es ihnen vielleicht anfangs fiel, durchaus gelernt haben, dass ihre Augen und Ohren nun offen sind, das Entscheidende, das Heilende, das für das Leben Notwendige wahrzunehmen.

Liebe Schwestern und Brüder, sie kennen vielleicht den Satz des französischen Dichters Antoine de Saint-Exupery: ‚Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.‘ Dieser Satz liest sich wie eine Übersetzung der Stelle aus dem Evangelium: Wer in die jesuanische Schule des Sehens und Hörens gegangen ist, der hat wirklich offene Augen und Ohren für die Nöte und Bedürfnisse der anderen, der öffnet die Augen und Ohren des Herzens.

Machen wir uns noch einen Augenblick klar, was denn die Jünger so auszeichnet, dass Jesus gerade sie so besonders anredet. Als Jesus diesen Satz zu ihnen sagt, liegt schon ein gewisser gemeinsamer Weg hinter ihnen. Dieser Weg aber war nur möglich, weil die Jünger auf den Ruf Jesu hin aufgebrochen sind. Sie haben ihren bisherigen Alltag verlassen und sind ihm nachgefolgt. Sie waren bereit, all ihre Sicherheiten aufzugeben und mit ihm zu gehen. Durch diesen Aufbruch und den gemeinsamen Weg erst konnten sie sich verändern. Menschen, die sich in die Nachfolge Jesu begeben, geben viele Sicherheiten auf. Sie vertrauen auf seinen Ruf und seine Zusage und gewinnen einen unendlichen Schatz hinzu: ‚Selig seid ihr, denn eure Augen sehen und eure Ohren hören.‘

Liebe Schwestern und Brüder, auch wir stehen heute Abend am Beginn eines gemeinsamen Weges, brechen aus unseren verschiedenen Alltagen auf, um wenigstens ein paar Tage lang zur Besinnung zu kommen, offen zu sein für das, was Jesus heute von uns will, unsere Augen und Ohren zu öffnen für das, was wesentlich ist. "Wallfahren heißt mit den Füßen beten". Wir sind gekommen, um gemeinsam zu singen und zu beten, wir nehmen einen weiten und beschwerlichen Weg auf uns.

Es erfordert Mühe und Einsatz. Wer sich zu einer Wallfahrt aufmacht, der ist bereit, Vertrautes und Altes hinter sich zu lassen, der ist bereit, sein Herz und seinen Sinn aufzumachen und zu öffnen. Wer sich auf den Weg macht, ist bereit, Neues in den Blick zu nehmen und scheut nicht die Mühe, sich Schritt für Schritt dafür einzusetzen. Eine Wallfahrt ist so in gewisser Weise die Einübung ins christliche Leben überhaupt, die Besinnung darauf, was Nachfolge Jesu in unserer Zeit heißen kann. Lassen Sie uns miteinander ihm nachfolgen, weil er mit uns ist auf unseren Wegen. Wer sich im Namen Jesu Christi auf den Weg macht, der vertraut darauf, dass Gott mit ihm ist und ihn mit seinem Segen begleitet. So wie Jesus es zusagt:

‚Selig seid ihr, denn eure Augen sehen und eure Ohren hören.‘

 

Amen.

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