Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt beim Festgottesdienst anlässlich des Diözesanjubiläums 2003

Rottenbugr, Dom St. Martin

Schrifttext: 1 Joh 3,18-24; Offbg 21,1-5; Joh 15,1-8

Liebe Schwestern und Brüder!

„Seht, das Zelt Gottes unter den Menschen.“ So ruft uns Johannes, der Seher von Patmos, in der Lesung aus der Offenbarung uns zu.

Und wir haben uns unter einem Zelt versammelt. Das Zeltdach überwölbt uns, vermittelt irgendwie Geborgenheit, stiftet Gemeinschaft. Es hält uns so zusammen, dass wir uns doch frei fühlen. Das Zelt, unter dessen Schutz und Schirm wir feiern, kann in dieser Stunde zu einem vielsagenden Bild für uns werden. Zu einer eigenen Erfahrung. Ein schützendes Dach über sich zu haben, das unser Leben wohl behütet: wer wünscht sich das nicht.

Aber viele in unserer atomisierten Gesellschaft haben solch einen Schutz und Schirm, ein solches Obdach verloren. Wie viele sind vereinsamt, dem Druck von Leistung und der Angst vor Versagen schutzlos ausgesetzt. Wie viele sind preisgegeben den oft brutalen Mechanismen unserer Gesellschaft. Wie viele sind an den Rand gedrängt, gar vergessen. Die „seelische Obdachlosigkeit“ (Zulehner) der Menschen unserer Zeit ist groß. Und schauen wir nicht nur auf andere, sondern auch auf uns selbst, wo wir uns schutzlos und preisgegeben erfahren. 600 verschiedene Arten von Neurosen, Furcht und Zittern, plagen und quälen die Menschen, weiß eine seriöse Untersuchung. Von den anderen Schutzlosigkeiten erst gar nicht zu sprechen.

Sie alle, die obdachlosen Seelen unserer Zeit, suchen bergende Räume, menschliche Beziehungen, die zusammenführen, Halt geben und doch Freiheit zur Entfaltung lassen. Das Zelt, unter dem wir heute feiern, wird uns zum Symbol für „ein Obdach für unsere aufgescheuchten Seelen“.

Das Zelt war schon beim Gottesvolk Israel ein sprechendes Symbol. Das Zelt wurde in der Glaubensgeschichte Israels zum Zeichen für die Orientierung gebende, schützende und heilsame Gegenwart Gottes. Zeichen der Gegenwart Gottes, die zusammenführt, die Geborgenheit vermittelt, die gerade so zusammenhält, dass wir uns befreit erfahren. „Er beschirmt mich im Schutz seines Zeltes“ (Ps 27,5) bezeugt uns der Beter im Psalm 27. Ja, die ganze prophetische Tradition des Alten Testaments bezeugt uns das Wohnen Gottes unter den Menschen, besonders bei den „Zerschlagenen und Bedrückten“ (Jes 57,15b). Gott hat seinem Volk immer wieder die Zusage eingeschärft: „Ich schlage meine Wohnstätte in eurer Mitte auf. Ich gehe in eure Mitte; ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk.“ (Lev 26,11f) Die Menschen aus biblischen Zeiten haben dies für uns als Zeugnis ihrer Gotteserfahrung aufgeschrieben, weil sie darin keine leeren Versprechungen Gottes, sondern die wirkungsvolle Wahrheit seiner Zusage erfahren haben.

Auf diese Erfahrungen gottgläubiger Menschen in ihrer bewegten Geschichte dürfen auch wir vertrauensvoll bauen. Diese Erfahrung von Menschen mit ihrem Gott im Sturm der Zeiten haben wir als Schubkraft im Rücken.

Gott wohnt in der Geschichte der Menschen: mitten unter ihnen. Auf allen ihren Wegen erfahren sie: „Gott ist da und er ist treu“. Gott ist verbunden mit Menschen, er schenkt Geborgenheit und Schutz und Schirm. Er nimmt von sich aus Beziehung auf zum Menschen. Er stiftet Beziehungen und Zusammenhalt unter den Menschen.

Dies, liebe Schwestern und Brüder, ist die zentrale Erfahrung und die in Jahrhunderten gewachsene Gewissheit des Volkes Israel: Gott hat sich mit uns verbündet. ‚Der transzendente Gott hat sich aus freien Stücken zu uns nieder geneigt und durch uns die Menschheit in ein Gemeinschaftsverhältnis mit ihm hineingenommen. So ist die Geschichte Heilsgeschichte. Unser aller Geschichte ist ausgerichtet auf den „Schalom“, d.h. auf die dem Menschen von Gott zugedachte Lebensfülle im Mitsein mit Gott.’ (vgl. MySal Bd 2)

Aber war das nur damals zu erfahren? Zehren wir nur vom Zeugnis der Menschen vor uns? Hält uns nur die Erinnerung lebendig? Gibt es nicht auch in unserer Gegenwart Erfahrungen des Wirkens Gottes an uns und unter uns Menschen?

Liebe Schwestern und Brüder, wer mit den Augen des Glaubens unsere Diözesangeschichte anschaut, der stößt auf viele Zeugnisse des Wirkens Gottes unter uns bis auf den heutigen Tag.

Ist Gottes Wirken nicht spürbar im Erstehen einer lebendigen Kirche der Diözese Rottenburg nach dem Chaos der Säkularisation? Dass da in unserer Zeit eine ebenso vielgestaltige wie vitale Diözese, eine Gemeinschaft von Glaubenden entstanden ist? Spüren wir da nicht Gottes Wirken?

Ist Gottes Wirken nicht spürbar darin, dass nur wenige Jahrzehnte nach Aufhebung der Klöster, der Vertreibung der Mönche und Nonnen, der Zerstörung kirchlicher, geistlicher Kultur wieder lebendige Klöster entstehen, die bis heute attraktive geistliche Zentren bilden?

Ist Gottes Wirken nicht spürbar im Widerstand von Bischof Johannes Baptista Sproll gegen das Naziregime und in seiner bejubelten Rückkehr in die Bischofsstadt? Gottes Wirken hat wahrlich „geführt durch allen Streit“.

Ist Gottes Wirken nicht spürbar, als nach Krieg und Vertreibung so viele Vertriebene, ihrer Heimat beraubter Menschen hier wieder Heimat und mehr gefunden haben und unsere Diözese zusammen mit ihnen die Kraft hatte, in kurzer Zeit über 450 neue Kirchen zu bauen? Konnte mancher trotz all der furchtbaren Erfahrungen nicht schließlich sagen: „Hat er nicht zu aller Zeit uns bisher getragen?“

Ist Gottes Wirken nicht spürbar darin, dass wir 1985 eine Diözesansynode hier in Rottenburg abgehalten haben und dass im Zusammenwirken der Mitglieder der Synode und des Bischofs Texte entstanden und verabschiedet wurden, die bis auf den Tag noch voller Leben und richtungsweisend sind? „Sollten wir verzagen?“

Ist Gottes Wirken nicht gegenwärtig spürbar, wenn wir in diesem Jahr wieder 40 Männer und Frauen – von Gott berufene, hervorragend ausgebildete und höchst motivierte junge Menschen! - in die pastoralen Dienste und Ämter aufnehmen und als Priester, Diakone, Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen in unsere Gemeinden senden können? Schauen wir doch dankbar auf das, was uns gegeben ist!

Ist Gottes Wirken nicht spürbar, wenn seit vielen Jahren – nur um ein weiteres Beispiel zu nennen - jedes Jahr nahezu 200 Religionslehrerinnen und -lehrer ihrer kirchliche Sendung erhalten und im Religionsunterricht an der Weitergabe des Glaubens an Kindern, an jungen Menschen mitwirken?

Nicht zu vergessen die nahezu 200 000 ehrenamtlich tätigen, getauften und gefirmten katholischen Christen, die in ihren vielfältigen Diensten Gottes Nähe zu den Menschen leibhaftig erfahrbar machen? Etwa, wenn sie Kranke besuchen, wenn sie Sterbende begleiten, wenn sie Kindern und Jugendlichen den Gottesglauben erschließen, wenn sie für das Leben aufstehen und einstehen, wo es bedroht ist und der Verschonung bedarf.

Was alles und wen alles müsste ich noch nennen: die Ökumene, Orte, Personen, Aktivitäten, einfache Menschen im Verborgenen, durch die und in denen Gottes lebendiger Geist gegenwärtig und wirksam ist und durch Menschen Gottes Nähe in unseren Tagen erfahren lässt. Ja: seine Schar verlässt er nicht!

Solch beglückende Erfahrungen, die uns heute in unserer Kirche geschenkt sind, werden für uns zu Zeichen, dass Gott unter uns wirkt und wirken wird.

Aber wir leben nicht nur aus der Erinnerung und aus der gegenwärtigen Erfahrung. Wir stehen sogar alle unter der prophetischen Verheißung, von der unsere Kirche der Zukunft leben wird: ‚Seht, das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er Gott wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen’: So sieht unsere Zukunft aus.

Was war und ist, wird auch weiter geschehen! Unser Glaube an Gottes wirksame Gegenwart unter uns ist wie ein Zelt, das die obdachlosen, aufgescheuchten Seelen beschirmt, ihnen Geborgenheit, Heimat schenkt.

So bildet unser Glaube eine Kirche aus Menschen als Zelt Gottes unter den Menschen: den aufgescheuchten Seelen ein Obdach, für Vereinsamte und Vergessene bergende Räume. Ein Ort der Ruhe für die dem Druck von Leistung und der Angst vor Versagen schutzlos Preisgegebenen. Eben eine Kirche aus Menschen - als Zelt Gottes unter den Menschen - voller tätiger Liebe zu denen, die niemand sonst liebt.

So eine Kirche wollen wir sein. Und immer mehr werden eine Kirche solidarischer Zuversicht aus dem Vertrauen auf den in unseren Geschichten anwesenden, wirkenden Gott:

Ich singe gerne die Liedstrophe in unserem Gotteslob: „hat ER nicht zu aller Zeit uns bisher getragen, und geführt durch allen Streit, sollten wir verzagen seine Schar verlässt er nicht und in dieser Zuversicht, woll’n wir’s fröhlich wagen!“ (GL 268,3)

Für dieses Wagnis aus dem Glauben möge Gott uns segnen! Heute und in der Zukunft unserer Diözese.

Amen.

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