Stuttgart, St. Eberhard
Schrifttext: Mt 5,1-12
Liebe Schwestern und Brüder!
Seit dem 11. September 2001 sehe ich Hochhäuser mit anderen Augen. Diese Symbole von Modernität, Wohlstand und Wirtschaftskraft wecken in meinem Gedächtnis jene monströsen Bilder des Attentats immer wieder auf, die sich mir mental eingeätzt haben: den rauchenden Turm, die in die Giganten aus Stahl einschlagenden Flugzeugbomben, die sich in die Tiefen stürzenden Menschen. Vielen, vielleicht uns allen geht es so.
Wir haben uns heute in doppelter Hinsicht zu keinem einfachen Gedenkgottesdienst zum 11. September versammelt:
Denn das Ausmaß der terroristischen Gewalt hat uns tief erschreckt und erschüttert. Dass Menschen einander quälen, foltern und töten - das kannten wir - leider! - als grausame Tatsache schon lange. Doch das Umfunktionieren von Zivilmaschinen in Waffen, von Menschenhand ins Ziel gelenkt, mit tausendfachem Tod, den eigenen eingeschlossen ... erschreckend neu! Unfassbar!
Viele der Opfer der Terrorschläge und viele ihrer Angehörigen leiden noch heute unter den Folgen der schrecklichen Tat. Der vielen Toten und ihrer Angehörigen wollen wir heute gedenken, ihnen durch unser Beten beistehen. Deshalb stand vor allen Worten, das Gedenken an die Frauen und Männer, an die Jungen und Mädchen, die durch die Terrorattentate Eltern, Geschwister, Kinder und Freunde, Mitmenschen verloren haben.
Aber aus einem zweiten Grund kann dies kein einfacher Gedenkgottesdienst sein: Am 11. September wurden wir Zeuge einer Bedrohung, die in unserer globalen Zivilisation verborgen schon da war, als noch niemand an sie dachte. Am 11.9.01 offenbarte sich eine unmenschlich-menschliche Terror- und Gewaltbereitschaft, die uns Angst und Schrecken einjagt. Ein wahrhaft apokalyptisches, die innere Gefährdetheit unserer Welt um uns aufdeckendes Geschehen.
Im infernalischen Kollaps der hochragenden Türme aus Stahl und Glas offenbarte sich die tödliche Zerstörungskraft, die jedem Fanatismus innewohnt, aber auch jedem Überlegenheitswahn droht. Wir alle haben in den Abgrund des Grauens geblickt, weil auch Religion - sonst sinnstiftend, orientierend, unser Leben schutzbringend in Gott bergend – instrumentalisiert und in ihr Gegenteil verdreht wurde. Und wir sind aufgescheucht, weil eine der großen monotheistischen Weltreligionen, der Islam, darin verwickelt ist.
In alldem hat uns alle unsere Welt das in ihr steckende Gewaltpotential ebenso wie ihre tiefe Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit sehen lassen. Wir haben gesehen, erfahren müssen, was alles gemacht werden kann – insofern sind wir heute erschreckend aufgeklärter als noch vor Jahresfrist. Die Terroranschläge fordern uns in ungeahnter Weise heraus! Fragen drängen sich uns, die nach Antworten schreien: Was ist, was geschieht? Was wird, was soll geschehen? Fragen, die uns auf heute konzentrieren, Fragen, die in die Zukunft weisen; Fragen, deren Antworten erst Zukunft für uns alle möglich machen. Der Radikalität dieser Fragen müssen wir uns stellen, andernfalls werden wir durch sie verschlungen.
Der 11. September stellt uns die Frage nach dem Menschen und zu was er noch alles fähig ist: Gedenke Mensch, wer du bist!
Der 11. September stellt uns die Frage nach unserer Wahrnehmung: Tagtäglich werden tausende von Menschen weltweit Opfer von Gewalt, auch Opfer von ungerechten, Gewalt erzeugenden Strukturen, ohne dass uns dies tief erschüttert.
Der 11. September stellt uns die Frage nach unserem Glauben an Gott den Schöpfer, den Bewahrer und Vollender unseres Lebens und Zusammenlebens. Unvergessen ist jener Schrei eines Feuerwehrmannes, der in Staub und Trümmern rief: "Wir haben keinen Beschützer mehr! Wo ist nun euer Gott?"
Und dann hören wir den Text des Evangeliums und merken, dass uns der 11. September noch eine weitere, wesentliche Frage stellt:
Die Frage, welche Bedeutung der Jesus der Bergpredigt für uns als Christen und für eine Verhaltensweise der Menschen hat, die leben läßt angesichts tödlicher Bedrohung durch Menschen. Wie gehen wir als Christen, die auch als Bürgerinnen und Bürger eines Staates in der Gesellschaft Verantwortung tragen, damit um?
Die Bergpredigt gilt als der Kern dessen, was Jesus geglaubt, gelehrt und gelebt hat! Hören wir nochmals einige Sätze:
"Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben." "Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden." "Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden." Und dann noch die Sätze: "Ihr habt gehört, dass euch gesagt wurde, Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln begegnen." (Üss, nach Sölle, Jesus) Paulus, der Apostel der Völker, greift diese jesuanische Radikalität in seinem Brief an die Römer auf, wenn er schreibt: "Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!" (Röm 12,21) – Besiege das Böse durch das Gute! – Welch eine Anweisung! Können wir sie hören?
Rufen wir nicht gleich, das sei naiv oder unklug im Politischen? Trotzdem bleibt dies der Maßstab für Christen. Entschiedene Nächsten- und Fernsten-, Bekannten- wie Fremdenliebe verlangt von uns, Maß zu nehmen an der Liebe, die Jesus aus Nazareth uns vorgelebt hat. Maß zu nehmen an einer Liebe, die bereit ist, bis zum Letzten zu gehen.
Jesus lebt uns beispielhaft einen Lebensstil vor, der aus Feinden Brüder und Schwestern macht. Diese seine Entfeindungsliebe verlangt von uns, anderem so zu begegnen, dass aus dem sogenannten Fremden der Mitmensch wird. Jesus bietet uns ein regelrechtes Programm intelligenter Feindesliebe an und lebt es vor: ein Verhalten, das eigene Interessen nicht über alles stellt, ja hintanstellt, und nach dem fragt, was Frieden unter den Menschen stiftet und welche Bedingungen für den Frieden lebensnotwendig sind. Es ist uns nicht verboten, uns vor Gewalttat zu schützen und dem Terror zu wehren, aber ‚vor allem müssen wir den gerechten Frieden fördern.‘
Demagogie, Rache und Vergeltung von Gleichem mit Gleichem bringen nichts Gutes. Wir überwinden das Böse nicht durch das Böse, sondern durch das Gute! Was aber ist das Gute? Gewiss vor allem, die Würde jedes anderen zu achten, ihn nicht zu demütigen, auch er ist Mensch wie du, ein Kind Gottes nach christlichem Glauben. Die Zerstörung von Häusern als Vergeltung wofür auch immer stiftet nicht Frieden, sondern pflanzt Keime neuer Gewalttat.
Den Anderen geduldig verstehen; das Selbstwertgefühl des anderen stärken, für Gerechtigkeit unter den Menschen eintreten, Grenzen setzen vor Übergriffen auf Schwache und Wehrlose. Miteinander im Gespräch sein, interkulturell und interreligiös, besonders in der pluralistischen Gesellschaft: In der Tat, das neue Wort für Frieden heißt nüchterner und ehrlicher Dialog – besonders auch mit den muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Was können wir wirklich tun? Was können wir tun, um Frieden zu schaffen, Frieden zu erhalten? Wir tun uns schwer damit: Gehören wir zu denen, deren Handeln gewaltlos und gerecht ist, barmherzig und ehrlich, fried-fertig? Oft geschieht durch uns selbst das Gegenteil. Und doch liegen konkrete Schritte so nahe: Die Zunge hüten vor bösen, verletzenden Äußerungen. Sagen wir nur die Wahrheit. Bieten wir denen die Stirn und widersprechen solchen, die Vorurteile oder böses Gerede unter die Menschen tragen und Feindseligkeiten anstacheln.
Ich möchte mit einem Gedanken von Theophil Askani schließen:
‚Wer am meisten liebt, kann sich am wenigsten wehren. Auch die Liebe Gottes ist wehrlos. Man kann sie verlachen, vergessen und mit Füßen treten, aber man kann sich auch darin bergen. Sie hat keine Gewalt, aber sie hat Kraft, das ist ein Unterschied, und man kann sich noch daran halten, wenn die Gewalten vergangen sind.‘
Danach zu handeln ist kein Spaziergang: danach zu handeln wird uns eigene Tränen kosten. Aber solches Handeln steht unter der Veheissung des Psalms, den wir bald hören werden: "Die mit Tränen säen werden mit Freuden ernten." (Psalm 126,5)
Amen.