Bischof Dr. Gebhard Fürst: Predigt beim Gottesdienst zum 90-Jahrjubiläum Caritasverband DRS 2008

Stuttgart, Hohenheim

Schrifttext: 1 Kor 1,26-31; Mt 9,35-38

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir können heute in großer Freude und Dankbarkeit auf die Geschichte von 90 Jahren des Caritasverbandes in unserer Diözese Rottenburg-Stuttgart zurückblicken. Freude und Dankbarkeit gegenüber unzähligen Menschen, die im Laufe von neun Jahrzehnten an vielen Orten, bei unterschiedlichsten Anlässen und mit den verschiedensten Mitteln die Not von Menschen gesehen, sie sensibel wahrgenommen und entsprechend gehandelt haben.

Mein großer Dank als Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, den ich bewusst an den Beginn meiner Predigt stellen möchte: Mein Dank geht an die vielen haupt- und auch ehrenamtlichen Menschen, die Gott sei Dank und den Menschen zum Heil ihre Kräfte, ihre Mittel, ja sich selbst eingesetzt haben!

Dabei ist der Name ‚Diözesancaritasverband’ Ehrentitel und eine große und beständig neue Herausforderung zugleich. Der mittlere Begriff, die Caritas, eines der zentralen und ‚großen Worte’ des Christentums wird uns durch die heutigen Schrifttexte erschlossen:

Dabei ist es eine glückliche Fügung, das uns der heutige Gedenktag des Heiligen Vinzenz von Paul besondere Texte mit auf unseren Weg in das Fest gibt. Das Evangelium ist dabei eine rechte Zumutung, und zwar im zweifachen Sinn: Zumutung, an deren Umsetzung wir uns abmühen müssen; Zumutung: Es ist aber auch ein regelrechter Mutmacher, der uns allen mit auf den Weg gegeben wird.

Der Text zeichnet zunächst ein treffendes Porträt des Mannes aus Nazareth, der im Zentrum der Frohbotschaft, im Zentrum unserer Verkündigung, in der Mitte unseres Lebens aus der Liebe Gottes steht. Da heißt es: ‚Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen.‘ Ein Kernsatz der Botschaft Jesu und zugleich der Inbegriff seines Lebens ist das Mitleid, Mit-Leiden, Sympathie. Das ist der Anfang von allem und zugleich die wesentliche Mitte: Jesus zeigt uns zuerst immer, wie Gott uns Menschen liebt.

Der Satz ‚Deus Caritas est’ (1 Joh 4,16) ist ganz konkret und längst durch Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Er lebt den Menschen glaubwürdig vor, wie das gehen kann, dass sie einander als Geschwister wahrnehmen. Er verkündet nicht nur den Anbruch des Reich Gottes, er handelt entsprechend: Jesus buchstabiert für uns ganz konkret durch, was Caritas im christlichen Sinn heißt: Die Menschen sehen, nicht übersehen. Mitleiden, sie lieben, einander lieben.

Die Fähigkeit, anderes Leiden so als eigenes Leid mitzufühlen, dass man darangeht, es gemeinsam zu ändern, fremde Lasten mit zu tragen, weil die Unterscheidung zwischen fremd und eigen überholt ist. Empfindlichkeit für das Leid der anderen und daraus erwachsene soziale Sensibilität gehören zum Wesen des Christentums und zum inneren Movens des Christen, was jede und jeder von uns der Welt zu geben hat. Denn diese wesentliche Mitte unseres Glaubens ist zugleich die Grundlage all unseres Handelns und der Boden für die Hoffnung, mit der wir selbst lieben können. Das ist und bleibt die große Herausforderung, aber auch die wunderbare Zusage, die dann unser eigenes ‚Tun der Liebe’ haben kann: Durch unser eigenes Leben und das Zeugnis unseres Handelns aus Liebe können wir selbst diese Liebe Gottes anderen erfahrbar machen.

Der Heilige Vinzenz, dessen Gedenktag auf dem heutigen Fest einen besonderen Akzent setzt, sagte einmal: „Das ist eure Sendung, Armen und Kranken menschgewordene Gottesgüte zu sein und Gottes Stelle an ihnen zu vertreten.“ Paulus schreibt an die Römer: „Die Heiden rühmen Gott um seines Erbarmens willen.“ (Röm 15,9) Hier ist die ‚Stelle Gottes’ genau bezeichnet: Gott ist ein Gott des Erbarmens.

Liebe Schwestern und Brüder, unsere Zeit und unsere Welt hat so gelebte Caritas bitter nötig. Schauen wir in die Gesichter von vielen Menschen: Oft trauen sie unserer Zeit, unserer Gesellschaft, der Zukunft und auch sich selbst nicht viel zu. Viele sind resigniert, ohne Perspektive und Orientierung, viele sind ‚müde und erschöpft‘. Die Welt, die Menschen brauchen keine Verdoppelung ihrer Resignation und Hoffnungslosigkeit. Sie brauchen dringend das Zeugnis unserer gelebten Hoffnung. Sie brauchen die widerständige Erfahrung einer frohen Botschaft vom Leben, das ihrem Leben Sinn und Orientierung geben kann. Sie brauchen die Erfahrung gelebter Caritas. ‚Eure Liebe sei Tat’, so der Heilige Vinzenz.

Caritas ist das christliche Tu-Wort schlechthin, das Wort, das Jesus Christus so charakterisiert wie nichts sonst. Ein Tu-Wort, dass er so glaubwürdig verkünden kann, weil er es mit seinem Leben erfüllt. Hier ist der eigentliche Ort einer Kirche, die sich auf den Gott bezieht, dessen Name Liebe ist. Denn „das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt“ (1 Kor 1,28). Auch dies - überraschend - ein Satz des Völkerapostels Paulus.

Caritasverband, der zweite Wortteil. Hierbei könnte man nun natürlich in der reichen Geschichte der 90 Jahre auf zahlreiche Momente, Wendepunkte und Entwicklungsschritte schauen, in denen der diözesane Caritasverband zu dem geworden, was wir heute mit Freude und Dankbarkeit sehen. Manche Wegmarke werden wir im Verlauf des Festes heute sicher nochmals sehen und in Erinnerung rufen. Ich möchte hier jedoch auf den Sinn des Wortes ‚Verband’ hinweisen, der uns sehr konkret weiterhilft.

Ein Blick ins Wörterbuch zeigt den Bezug zwischen Verband und dem Wort ‚binden’. Folgen wir diesem Hinweis, so lässt sich Verband als Gemeinschaft von Menschen bestimmen, die sich binden, die gebunden sind, die miteinander oder in einer gemeinsamen Aufgabe eingebunden, verbunden sind. Schon hier zu Beginn ist also unverkennbar: Ein Verband bezieht sich nie auf sich selbst! Er hat eine gemeinsame Intention, ein Ziel, eine Aufgabe. Er muss sich stets redlich Rechenschaft darüber geben, was ihn denn bindet, was das tragende Band ist, was die tragende Mitte. Ansonsten steht Verbandswesen rasch in der Gefahr, zum bloßen Aktionismus zu verkommen, zu einer Bewegung zu werden, die mit womöglich viel Kraft zuletzt bloß sich selbst erschöpft. Das Verb verbinden bringt uns aber zu der wesentlichen Dimension, die im Begriff ‚Verband’ angezielt ist.

Verband wird somit zum Ehrentitel, aber auch zur zentralen Aufgabe: Es geht um die Wunden unserer Gesellschaft, die zu verbinden sind. Ein Verband ist nicht für sich selbst da oder zur Erbauung und Beschäftigung seiner Mitglieder: Nein, ein Verband hat dienende Funktion gegenüber denen, die eines Verbandes bedürfen, die in Not sind, die Opfer, die am Straßenrand liegen und verbunden werden müssen, die ausgegrenzt sind und neu eingebunden werden müssen in unsere sozialen Netze und Verbindungen. Wie es Bischof Paul Wilhelm von Keppler 1918 bei der Beauftragung des ersten Direktors für den Caritasverband ausdrückte: „In erster Linie suchen sie der Not der Zeit mit Rat und Tat zu begegnen.“ Das Verbinden der Wunden der Zeit war und ist die erste und zentrale Aufgabe des Caritasverbandes. Eine weitere Aufgabe ist dann allerdings, dafür einzutreten, dass erst gar keine Wunden geschlagen werden. Hier liegt der Ort der Gesellschaftskritik aus dem Geist des Evangeliums.

Der Verband muss dabei neben den nötigen Strukturen, den Kenntnissen und dem erforderlichen Verbandszeug vor allem einen hellwachen Blick und eine aufmerksame, hinschauende, mitleidende Sensibilität dafür haben und immer neu entwickeln.

Dass die Caritas dies aber wirksam und nachhaltig nur tun kann, indem sie sich als Institution, eben als Verband in geeigneter Weise aufstellt und organisiert, war Bischof von Keppler schon damals ebenso klar wie uns heute: „In zweiter Linie sollen sie die Einheitlichkeit in die vielgestaltige Caritas bringen und in dritter Linie sie gegenüber akatholischen und interkonfessionellen (anderen) Verbänden sowie gegenüber Körperschaften und Verbänden vertreten.“ Welch aktuelle und bis heute gültige Beschreibung: Bündelung und Organisation vorhandener Kräfte, Wahrnehmung und couragiertes Liebeshandeln angesichts der Nöte in der Zeit, Vertretung der Anliegen der Caritas nach außen.

Das anwaltschaftliche und prophetische Han-deln der Caritas, für das wir alle nur zutiefst dankbar sein können. Dankbar wie auch zahllose Menschen am Rand, ausgegrenzt und ohne Stimme, die durch solch karitatives Handeln vertreten werden, die erst so eine Stimme erhalten; die vielen Menschen im Dunkel und im Abseits, die in den Blick, die so in unsere Mitte geholt werden. Sei es in vielen kleinen Situationen des Alltags, sei es auch in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen und Konstellationen. Es geht um zwei Seiten der einen Münze Caritas, die durch solches Engagement Zeugnis ablegt vom Grund unserer Hoffnung, Rechenschaft gibt von der Kraft unseres Glaubens, Zeichen setzt von den Optionen unserer Liebe:

Der Option für die Armen, der Option des Aufstehen für das Leben, der Entscheidung, Unrecht und Not beim Namen zu nennen und öffentlich zu machen. Hier treffen sich in vielen Momenten der gesellschaftliche Auftrag unserer Kirche und ihrer Caritas. Wie sollte es auch anders sein? Denn auch unsere Kirche lernt ihren Auftrag immer neu, indem sie mit ihrer Caritas ganz nah bei den Menschen in der Welt von heute ist: bei den Menschen mit ihren Sorgen und Nöten, Hoffnungen und Ängsten (GS 1).

Und damit komme ich zum dritten Bestandteil des Wortes Diözesancaritasverband, der Diözese. Denn die Caritas ist kein Verband, der neben, unverbunden oder gar im widerspenstigen Gegenüber zur Kirche besteht. Im Gegenteil: Caritas ist ein wesentlicher und integraler Bestandteil der Kirche selbst. Caritas erinnert die Kirche daran, dass nur ein in der Liebe zur Tat gewordener Glaube aus der Mitte ihrer Botschaft kommt.

Und die enge Bindung in unserer Kirche und Ver-Bindung zur Kirche gibt der Caritas ihre maßgeblich prägende Gestalt und lässt sie nicht zu einer beliebigen Form von richtungslosem Aktionismus und sich zerfransender Wohlfahrtsaktivität verkommen.
Liebe Schwestern und Brüder im Diözesancaritasverband: ‚Seht doch auf eure Berufung!’ (1 Kor 1,26). Ich möchte heute ergänzen: Seht auf eure Berufung, die euch be-ständig im Namen mitgegeben ist. Diözesancaritasverband: ein Name als Ehrentitel und Programm, als große und beständig neue Herausforderung, aber zugleich auch die Über-schrift einer wirkungsvollen Geschichte in den vergangenen 90 Jahren. Und auch in Zukunft.

Amen.

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