Stuttgart, St. Eberhard
Schrifttexte: Phil 1,1-6; Mt 13,31f
Liebe Mitchristen und Christinnen hier in Stuttgart, liebe Schwestern und Brüder!
Kennen Sie Senfkörner? Das Senfkorn ist eins der kleinsten Samenkörner überhaupt, kaum zu sehen und doch: Wenn ein Senfkorn nur in den rechten Boden gelangt, die nötige Feuchtigkeit vorfindet, dann wächst aus ihm ein regelrechter Riese: In Galiläa werden Senfstauden drei bis vier Meter groß. Ein klitzekleines Samenkorn, unscheinbar und leicht zu verlieren – und solch eine phantastische Entwicklungsmöglichkeit.
Ich denke, dies Bild vom Senfkorn spricht jeden von uns an, vielleicht besonders die, die meinen, sich nie mit anderen messen zu können, die nicht viel Gewicht auf die Waage bringen, die an sich und ihren Fähigkeiten zweifeln, die vielleicht in Gruppen am Rand stehen und nicht wahrgenommen werden. Da kann solch ein kleines Senfkorn zu einem regelrechten Versprechen werden: Auch wenn sich einer klein und unbedeutend gegenüber anderen fühlt, wenn er in sich hineinhört, dann ahnt er, dass in ihm, wenn auch noch so klein, Fähigkeiten verborgen liegen. Unsere Begabungen, Talente und Fähigkeiten sind verschieden, sichtbarer oder weniger sichtbar. Das heißt aber nichts. Denn all unsere Talente und Gaben stehen unter der zugesagten Zukunft, die auch dem kleinen Senfkorn bevorsteht: Es wird wachsen zu einer großen, fruchtbaren Staude, so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten!‘
Das Senfkorn wird von Jesus hier sogar herangezogen, nicht nur um Mut zu Talenten und Gaben zu machen, sondern mehr noch: Er beschreibt das Werden des Himmelreiches, indem er von einem Mann erzählt, der es wagt, wider alle Vernunft und Erfolgsaussicht auf seinem Acker solch ein Senfkorn zu säen.
Das Reich Gottes entsteht nicht irgendwo in ferner Zukunft, als unerreichbare Utopie: Nein, hier und jetzt, indem Menschen losgehen, umkehren, Einsatz wagen, es –womöglich gegen alle Vernunft- versuchen, anzufangen, auszuloten, sich selbst einzusetzen, mit welchen Gaben auch immer. Dort beginnt Reich Gottes, dort entsteht Gemeinde, fängt Kirche an.
Deshalb hat der Apostel Paulus auch guten Grund, seinen Brief an die Gemeinde in Philippi voll Dankbarkeit zu beginnen, weil die Christen und Christinnen dort sich ‚gemeinsam für das Evangelium eingesetzt‘ haben. Paulus schreibt das kleine Gleichnis vom Senfkorn fort und er übersetzt es in die neue Situation. Im Matthäusevangelium hatte Jesus davon erzählt, wie Reich Gottes anbricht. Und die Menschen hatten ihm deshalb geglaubt und waren ihm nachgefolgt, weil in ihm diese zugesagte Nähe Gottes spürbar und heilsam angebrochen war.
Jesus aus Nazareth hatte beispielhaft und mitreißend den entscheidenden Anfang gesetzt und vorgelebt, was das heißen kann, den Einsatz zu wagen, sich selbst als Gabe einzusetzen, sich zum Senfkorn zu machen, aus dem für andere der Anbruch der heilende Nähe Gottes wird. Jesus hatte diesen radikalen Einsatz für andere vorgelebt bis ins Letzte, und er war durch Scheitern und Tod als glaubwürdig erfahren worden.
So kann Paulus den Faden der Erzählung aufnehmen und das Gleichnis als Frohe Botschaft weitergeben. Denn die Glaubenserfahrung der ersten Christen besagte ja eben dies. Was Jesus im Gleichnis vom Senfkorn eindrucksvoll ausmalte, ist durch ihn selbst bewahrheitet worden. So wie Jesus verheißen kann, aus dem winzigen Korn werde eine Staude, in der die Vögel des Himmels nisten, so kann Paulus nun mit glaubender Zuversicht, mit hoffender Gewißheit schreiben: ‚Ich vertraue darauf, dass er, der das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu.‘ Obwohl Paulus in ganz anderen Worten schreibt, hängen die beiden Texte des heutigen Tages doch aufs engste und im Zentrum zusammen.
Versuchen wir sie also noch etwas genauer auch zusammen zu lesen, denn sie legen sich gegenseitig aus: Bei beiden ist die Spannung zwischen der Gegenwart, in der hoffend ein mutiger Anfang gewagt wird, und der verheißenen Zukunft, in der ‚die Vögel des Himmels nisten werden‘, die Zukunft, in der vollendet wird, was Christinnen und Christen begonnen haben beim ‚gemeinsamen Einsatz für das Evangelium‘.
Nehmen wir das ganz ernst und ganz wörtlich: Gemeinsamer Einsatz für das Evangelium. Sich mit all seinen Gaben so einsetzen, wie es dem Evangelium entspricht. Und das heißt, wiederum in der Gleichnisrede Jesu: Aufbrechen, losgehen, die eigenen Gaben in den Acker säen, so klein und unscheinbar sie auch sein mögen. Christliches Leben in der Nachfolge Jesu, ein Text aus dem Petrusbrief hat einmal durchbuchstabiert, was das ganz konkret heißen kann: 'Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander ... seid gastfreundlich, ohne zu murren, dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.' (1 Petr 4, 8-10) Jeder und jede mit der Gabe, die er und sie, die wir alle zusammenzutragen und einzubringen haben.
Sie alle kommen aus ganz verschiedenen Bereichen des bürgerschaftlichen Lebens dieser Stadt. Viele von Ihnen sind in unterschiedlichster Weise ehrenamtlich tätig. Für dieses ehrenamtliche Engagement, wo immer es sein möge, wie groß oder klein, wie spektakulär oder verborgen, möchte ich Ihnen heute meine hohe Anerkennung aussprechen und Ihnen allen sehr herzlich danken! Ohne sie würde in unserer Kirche und Gesellschaft bald das Licht ausgehen! Ihnen, den Ehrenamtlichen, verdanken wir nicht nur einen unbezahlten, sondern auch einen ganz unbezahlbaren Beitrag zu einer Kultur des Lebens und der Menschlichkeit. Die Ehrenamtlichen sind es, die in unserer Kirche, aber auch in unserer Gesellschaft Menschlichkeit und Solidarität ganz konkret und handgreiflich praktizieren. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass Menschen ihre Fähigkeiten, ihre Persönlichkeit, ihre Kreativität, ihren Glauben, ihre Hoffnung und ihre Zuwendung einbringen. Verantwortung für unseren Nächsten, für das Wohl und die Zukunft unserer Gesellschaft haben wir alle. Es gilt heute das freiwillige Engagement, das Dasein für andere, wie es dem Grundauftrag unseres Glaubens entspricht, neu zur Geltung zu bringen.
Aber ich möchte ihnen nicht nur danken, sondern ihnen und uns allen Mut machen! Ich möchte die begründete Hoffnung weitersagen, dass der Einsatz nicht vergebens, sondern –womöglich oft entgegen aller Erfahrung- zuletzt gut vollendet und aufgehoben sein wird. ‚Dient einander als Verwalter der Gnade Gottes‘: Auch hier hören wir wieder den Kern des Evangeliums! Durch Jesus Christus fallen Gottes und der Menschen Sache zusammen, das Handeln zum Heil der Menschen und das Mitwirken am Reich Gottes. Unsere kleinen, oft unscheinbaren Gaben sind getragen von der Zusage Jesu, dass sie nicht vergebens eingesetzt sind, und sie sind zugleich ein kleiner Teil des anbrechenden großen Baumes, in dem die Vögel des Himmels nisten werden.
Amen.