Stuttgart, Konkathedrale St. Eberhard
Schrifttext: Ex 32,7-14; 1 Tim 1,12-17; Lk 15,1-10
Liebe Schwestern und Brüder! Liebe Stuttgarter Katholiken!
Einer der heftigsten Vorwürfe, die Jesus gemacht wurden, ist uns im heutigen Lukas-Evangelium des 24. Sonntags im Jahreskreis aufgeschrieben: „Er – werfen namhafte Vertreter der Religion ihm vor – Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen.“ Mit solchen gibt er sich ab, die für Gott und Mensch verloren sind und mit denen sich bitte schön niemand abzugeben hat. Wem sollte es denn nützen? Er beschmutzt sich selbst.
Manche nennen eben dieses 15. Kapitel des Lukasevangeliums mit den eben gehörten Gleichnissen vom Verlorenen ‚das Evangelium in den Evangelien’. Die frohe Botschaft überhaupt! Mit Recht, denn hier schlägt das Herz des Lukasevangeliums. Gegen den Vorwurf der Autoritäten, er gebe sich mit Sündern und Zöllnern ab, antwortet Jesus auf die ihm typische Art mit Gleichnissen. Mit Gleichnissen, für die ihm alltägliche Szenen seiner Umwelt dienen. Wie der Hirte seinem in unwegsamer Gegend verlorenen, verirrten, schutzlosen, gefährdeten Schaf hinterhergeht, wie der Hirte es sucht, es schließlich findet und freudig heimholt: So wie der Hirte geht Jesus dem Verlorenen nach, sucht, will finden, will heimbringen. Jesu Sendung, kommt hier zur Sprache. An anderer Stelle im Lukasevangelium, in der Zachäusgeschichte, sagt Jesus das ausdrücklich von sich selbst: ‚Ich bin gekommen, zu suchen und zu retten.’ Aber ist das unsere Perspektive? Verloren Gegebenes nicht aufzugeben, aktiv zu suchen, nachzugehen? Sagen wir Kinder unserer Zeit nicht: Verloren ist Verloren, da ist nichts mehr zu machen?
Jesus fordert uns zu einem Perspektivenwechsel auf.
Aber es geht im Evangelium des Lukas noch um viel mehr: Denn in Jesu Wort und Tat spiegelt sich sein Bild von Gott, dessen Liebe ohne Maß ist. Gott selbst, der dem Menschen in unendlicher Liebe wieder und wieder nachgeht, um ihn aus Verlorenheit zu retten. In Jesu Person ist Gott selbst gegenwärtig, der Verlorenem, Verirrtem, Bedrohtem nachgeht, der die schutzlos Preisgegebenen unermüdlich sucht, bis er es schließlich findet und es voller Freude heimbringt. In Jesu Suche der Verlorenen, im Finden und im Heimholen wird Gottes Handeln am Menschen ganz gegenwärtig. Gott also lädt uns ein, die Perspektive zu wechseln, das zu vollziehen, worauf wir als Christen verpflichtet sind!
Jesus nennt in seinen Gleichnissen Beispiele für das, was verloren gegangen ist. Halten wir hier einen Moment inne. Auch uns fallen sicher Menschen ein, die verloren zu gehen drohen, die Verlorene sind. Wer sind die Verlorenen dieser Stadt, ihrer Stadt?
Denken wir an die Menschen, die tragende, lebensstiftende Beziehungen verloren haben und die jetzt buchstäblich verloren in der Luft hängen.
Denken wir an die Menschen, die aus welchen Gründen auch immer an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt, die ausgegrenzt werden, die uns und unserer Aufmerksamkeit verloren gegangen sind.
Denken wir auch an die Menschen, die ihre Gottesbeziehung – wie auch immer – verloren haben. Menschen, die den roten Faden verloren haben, die aus der Bahn geworfen wurden.
Vieles mehr kommt sicher noch jedem in den Sinn. Da zeigt sich auch manche Verlorenheit, die auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Auch hinter flotten Bemerkungen und lauten Sprüchen versteckt sich zuweilen Verzweiflung und manch fröhliches Gesicht verdeckt nur die Verlorenheit, die Menschen unter Menschen oft spüren. Nehmen wir die Einladung Gottes an, wenden wir unseren Blick hin zu Verlorenen: Leben wir unser Christsein!
In der Spur Jesu werden wir sensibel, schenken wir Aufmerksamkeit und Sympathie. In der Spur Jesu entwickeln wir die Fähigkeit mitzuleiden, nachzugehen dort, wo es Not tut: Denn Christen werden in der Nachfolge Jesu so wie ER. Ja, wenn wir das Gleichnis vom Verlorenen konsequent zu Ende denken, handeln Christen in der Nachfolge Jesu so wie Gott selbst. Entdecken wir die Verlorenen dieser Stadt – gehen wir nach – führen wir sie ins Leben. Ich weiß, dass täglich viele menschliche Gesten Verlorene heimholen, dass es viele Orte gibt in dieser Stadt, wo dies Tag für Tag geschieht, leider bleibt das meist unentdeckt von einer Öffentlichkeit, die gerne nur das Erfolgreiche sucht, den Sieger bejubelt und den Starken auf die Podeste der Verehrung hebt. Ich danke allen, den vielen Einzelnen, den Ehrenamtlichen, der organisierten Caritas, allen, die sich mutig den Verlorenen zuwenden. Sie vergegenwärtigen auf heilsame Weise den liebenden Gott im Leben der Menschen. Mein Dank geht auch an die Stadt, die das soziale, Diakonisch-Karitative im Blick hat, wo viel Gutes getan wird.
Aber – haben wir auch acht auf uns selbst: Identifizieren wir uns nicht allzu schnell mit denen, die nicht Verlorene sind. Die irgendwie sowieso schon gerettet sind und nur noch den Verlorenen nachgehen müssten. Seien wir uns selbst nicht zu gewiss, dass wir auf der sicheren Seite sind, dass wir nicht verloren gehen könnten. Die eigene Verlorenheiten zu entdecken, ist die Voraussetzung zu erfahren, selbst gefunden zu werden. Wo ich verloren bin und um meine Verlorenheiten weiß, da spüre ich erst: Die Gleichnisse Jesu gelten mir. Er sucht mich. Er geht mir nach. Er will mich finden. Er will mich heimholen. - Ich wünsche Ihnen, jedem und jeder von uns, dass wir schon die Erfahrung machen durften: einer hat mich heimgeholt aus meiner Verlorenheit. Diese wunderbare Erfahrung, heimgeholt worden zu sein ins Leben, von einem der aufmerksam geworden ist auf mich, der mich nicht verlorengegeben hat, der mir nachgegangen ist, mich gefunden, und mich schließlich heimgeholt hat ins Leben. Diese Erfahrung birgt in sich eine Gotteserfahrung. Seien wir dankbar für solche eigenen Erfahrungen. Eine Erfahrung, die mir erschließt, wie heilsam Gottes Wirken an Menschen ist in dieser Welt, die ja soviel Verlorenheit produziert.
Liebe Schwestern und Brüder, jede und jeder von uns ist da und dort, hier und heute, gestern und morgen ein Verlorener, ein Verirrter, der sich entfernt hat aus dem Land des Lebens, entfernt vom Gott der Hoffnung. Jemand, der vielleicht entfernt lebt oder verloren wurde, aus Beziehungen hinausgedrängt worden ist, wo und wie auch immer. Oder ein Schicksalsschlag mit dem Gedanken: Jetzt ist alles verloren!
Jeder und jede von uns bedarf der liebenden Fürsorge, dem geduldigen Nachgehen der anderen Menschen, durch die die übermäßige Liebe Gottes spürbar wird, die wir zuerst und zuletzt immer brauchen. Und die wir dann wiederum heilsam weitergeben können.
So werden Christinnen und Christen dann zu regelrechten Menschenfindern, zu Menschen, die nachgehen und die Verlorenen unserer Zeit zu finden versuchen: Der Verfasser des Timotheusbriefes aus dem wir in der Lesung gehört haben weiß aus eigener Erfahrung um die eigene Verlorenheit: „Ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als erstem seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das wahre Leben zu erlangen“. Amen.