Rottenburg, Dom St. Martin
Liebe Schwestern und Brüder,
wir trauern um einen großen Papst. Mit uns trauern viele Menschen. Menschen in anderen Konfessionen und Religionen. Es trauern Menschen, die spüren, dass sie einen Mitstreiter in zentralen Fragen unserer Zeit verloren haben: einen Papst, der den Menschen in seiner Würde gegen alle Mächte und Gewalten dieser Welt verteidigt hat. Einen Papst, der sich eingesetzt hat zu Gunsten der Würde des konkreten Menschen: für Menschenrechte, für den unbedingten Schutz des Lebens vom Anfang bis zum Ende, für Solidarität und Gerechtigkeit unter allen Menschen. Für eine Kirche auf der Seite der Armen und Unterdrückten, auf der Seite der Gewaltlosigkeit und des Friedens.
Liebe Schwestern und Brüder,
der Weg der Kirche ist der Mensch: nicht die mächtigen Interessen und Ideologien sollen das Sagen haben. Der Mensch steht in der Mitte, weil Gott ihn in Jesus Christus in die Mitte gestellt hat. "Der Weg der Kirche ist der Mensch". Für mich gehört dieses Wort von Johannes-Paul II. zu den richtungsweisendsten, die er gesprochen hat.
Vieles, liebe Schwestern und Brüder, ist in diesen bewegenden Tagen über Johannes Paul II. schon gesagt und geschrieben worden. Er war fürwahr ein großer Papst. Über mehr als ein Vierteljahrhundert hat er die Geschicke unserer katholischen Kirche gelenkt, hat in fast allen Ländern der Erde die Menschen besucht und in die ganze Welt hineingewirkt wie kein anderer. Aber seine Größe zeigt sich mir nicht nur in seinen Kirchen- und Weltgeschichte schreibenden Taten. Seine Größe als Mensch zeigt sich mir besonders in vielen eher kleinen Gesten, durch die er eindrucksvoll zu uns gesprochen hat.
Einige Geschichten, einige Worte und Szenen aus seinem Leben haben mich in besonderer Weise beeindruckt. Es sind für mich Zeichen und Gesten großer Eindringlichkeit und spiritueller Kraft.
In den Tagen des Kriegsendes 1945 in Polen sah Karol Wojtyla als junger Priester eine aus dem naheliegenden KZ befreite junge jüdische Frau verlassen am Rand der Straße kauern. Er ging zu ihr hin, sah die in ihre Haut eingeritzte KZ-Nummer und fragte sie. "Wie heißt Du?". Die Frau blickte auf und nannte ihm ihren Namen. Mehr vermochte sie nicht. Karol Wojtyla nahm sie auf und trug sie über viele Kilometer in ihr Dorf nach Hause. - Während seines Besuches im Jahr 2000 in Jerusalem traf Johannes Paul II. in Yad Vashem, der Gedächtnisstätte des Holocausts, 55 Jahre später diese jüdische Frau wieder. Unter Tränen sagte sie ihm: "Dass Du mich nach meinem Namen gefragt hast, das hat mir das Leben gerettet." Sie war keine Nummer mehr, sondern wieder Mensch: eine mich tief berührende Geschichte, die Begegnung eines Christen und einer Jüdin. Eine Geschichte voller Auferstehung des Lebens mitten am Tag. Den Menschen, der mich gerade braucht, nicht übersehen, ihn beim Namen nennen, ihn nach Hause bringen, das rettet sein Leben. Eine Botschaft von Johannes Paul an uns.
Der Weg der Kirche ist der Mensch. Der von ihm geführte konsequente und offene Dialog mit dem Judentum und dem Islam wurzelt letztlich in dieser Grundhaltung.
Ein Journalist fragte ihn einmal: Was erbittet der Papst von der Welt? – Und Johannes Paul II. antwortete: "Ich bitte die Welt um Barmherzigkeit!" Ein einfaches Wort, das ins Mark unserer unbarmherzigen Zeit trifft. Unbarmherzig ist der Kampf ums Leben an vielen Orten geworden und viele werden zum Opfer von Unbarmherzigkeiten. "Ich bitte die Welt um Barmherzigkeit!" – Eine nachhaltige Bitte von Johannes Paul – wer wird sich ihrer annehmen?
Am 13. Mai 1981 wurde Johannes Paul II. auf dem Petersplatz von dem Attentäter Ali Agça niedergeschossen und schwer verletzt. Zwei Jahre später besucht er im Gefängnis den Mann, der ihn fast getötet hätte. Er umarmt ihn und spricht mit ihm. Er verzeiht dem Menschen, der ihn so schwer verletzt hatte. Ein Beispiel für Nächstenliebe, für Feindesliebe, für Friedenswillen. Versöhnung wollte Johannes Paul II. stiften, wo es irgend ging, Pontifex sein im wörtlichen Sinne: Brückenbauer.
Am 24. Dezember 1999 öffnete der Papst die Heilige Pforte im Petersdom und leitete damit das Heilige Jahr 2000 ein. Ein außergewöhnlicher Moment war hierbei die ökumenische Feier zur Eröffnung der Heiligen Pforte in der römischen Basilika St. Paul vor den Mauern, an der Vertreter vieler christlicher Kirchen teilnahmen. Gemeinsam mit Johannes Paul II. betraten zwei hohe Würdenträger der Ökumene die Kirche: der Primas der Anglikanischen Kirche, Erzbischof George Carey, und der Metropolit der griechisch-orthodoxen Kirche, Athanasios. Zur Eröffnung des Heiligen Jahres und gleichsam als Ouvertüre ins Dritte Jahrtausend ein eindrucksvolles Zeichen für den ökumenischen Geist des Papstes. Möge dieser Geist der Ökumene unter uns weiterwirken und lebendig bleiben.
Das Charisma der Begegnung mit jungen Menschen war Johannes Paul II. in besonderer Weise gegeben und hat noch den alten Papst oft jung werden lassen. Beim ersten Weltjugendtag in Rom verriet er den Hunderttausenden von Jugendlichen etwas von seinem Geheimnis als er sagte: "Wenn du mit jungen Leuten zusammen bist, wirst du selber jung." Bei einer großen Veranstaltung dieses Jugendtags in Rom wurde es sehr laut. Da rief der Papst den Jugendlichen humorvoll zu: "Rom hat euren Lärm gehört und diesen Lärm der Jugend wird Rom nie wieder vergessen." Der Lärm junger Menschen möge Rom immer im Ohr bleiben, damit unsere Kirche eine junge Kirche bleibt und dort, wo sie alt aussieht, wieder jung wird.
Im Menschlichen hat dieser Papst diejenigen, die ihm begegnet sind, ganz nahe an sich herangelassen. Viele eindrucksvolle Bilder belegen dies. Besonders in den Jahren seiner Krankheit hat er nicht verborgen, dass er ein Mensch war, nicht perfekt, nicht nur vital und über alles stark. Er hat vielmehr die Menschen sehen lassen, dass Gebrechlichkeit, Leid, Schmerz, Sterben und Tod mit zum Leben gehören. Eine scharfe Kritik am Gesundheitskult unserer Tage, an unseren Schönheits- und Kraftidealen. Der Weg der Kirche ist der Mensch, nicht ein gemachtes, vorgetäuschtes Ideal von ihm, sondern der Mensch in seiner ganzen Geschöpflichkeit.
Diesem Papst erweist am Freitag die ganze Welt die letzte Ehre: Zweihundert Staats- und Regierungschefs aus Ost und West, aus Süd und Nord – viele Millionen Menschen. Spüren wir die attraktive Kraft des gelebten Evangeliums?
Liebe Schwestern und Brüder, die Amtsführung des verstorbenen Papstes war gewiss facettenreich. Und nicht alle haben alles verstanden und annehmen können. Aber fragen wir in dieser Stunde nicht zuerst, was fehlt: Wohin hätte er noch reisen müssen, welche offenen Fragen hat er hinterlassen. Nehmen wir vielmehr seine großen Anliegen auf und machen sie zu den unsrigen.
Fragen wir jetzt nicht: Wie muss sein Nachfolger aussehen, dass der dann alles richten kann, was noch getan werden muss zur Weiterentfaltung unserer Kirche. Fragen wir uns lieber: wie können wir das in den Zeichen und Gesten von Johannes Paul II. sichtbar gewordene Charisma in unserer Kirche verlebendigen, der Gemeinschaft der Glaubenden, die wir sind! Wo verwirklichen wir, was wir an ihm so schätzen? Nehmen wir die Zeichen und Gesten großer Eindringlichkeit und spiritueller Kraft dieses Papstes als Impulse ganz persönlich auf, für unsere Art als Christen miteinander und füreinander zu leben und zu handeln!
Dass der Weg der Kirche der Mensch ist und wird – in unseren Kirchengemeinden, im Umgang miteinander, in der Wahrnehmung der Bedrückten und Verzweifelten unter uns. Dass wir Menschen nicht als Nummern behandeln, sondern nach ihrem Namen fragen.
Erfüllen wir die Bitte um Barmherzigkeit in unserer gnadenlosen Zeit, dass nicht noch mehr Opfer werden und die Niedergeschlagenen wieder aufgerichtet werden.
Wo verzeihen wir Schuld und überwinden Feindschaft, wo das uns angeht. Bin ich zur Versöhnung bereit, wo ich beleidigt, wo ich verletzt und mit schwer geschadet wurde?
Wo und wie fördern wir den ökumenischen Geist vor Ort in geschwisterlicher Wertschätzung und Respekt vor dem Glaubensreichtum des anderen, ohne dass wir die gemeinsame Bemühung um das, was wahr ist und gut und richtig, bequem ausklammern?
Liebe Schwestern und Brüder, wenden wir uns den jungen Menschen mit all unserer Kraft, Sympathie und unserer Liebe zu, ohne ihnen nach dem Mund zu reden, sondern um ihnen Werte zu vermitteln und uns der Last der Auseinandersetzung nicht zu entziehen?
Und wo geben wir einander Anteil am Leben – am ganzen Leben, nicht nur an unseren großen Taten, sondern auch an unseren Schwächen und Zerbrechlichkeiten? Wo schenken wir einander Nähe, die tröstet? Wo teilen wir unsere Hoffnungen?
Liebe Schwestern und Brüder, als am Fernsehen zu sehen war, wie der Papst die Karfreitags-Prozession in seiner Hauskapelle verfolgte, haben sich viele beklagt, dass er nur vom Rücken zu sehen war, wie er das Kruzifix in der Hand hielt. Ich habe dieses Zeichen anders gedeutet. Ich meine, er wollte und will uns sagen: mein Gesicht ist besonders heute nicht so wichtig. Schaut heute mit mir auf den Gekreuzigten, auf den am Kreuz erhöhten Herrn.
Liebe Schwestern und Brüder, mit ihm, Johannes Paul II., auf Jesus Christus schauen und vom Auferstandenen die Kraft zum Leben beziehen: für mich ist dies die durchgängige Botschaft seines Pontifikats: mit ihm auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn schauen in der österlichen Zeit, in der wir leben.
Papst Johannes Paul II. hat sein Amt als Zeugnisdienst für den Glauben verstanden und gestaltet. Er trifft sich mit diesem Glaubens-Zeugnis mit dem Apostel Paulus, der in seinem Brief an die Korinther schreibt: ‚Wir wissen, dass der, welcher Jesus, den Herrn, auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und uns zusammen mit euch vor sein Angesicht stellen wird.’ Aus diesem Auferstehungsglauben stammt das letzte Wort des Papstes: "Ich bin froh, seid ihr es auch!"
Wer im Angesicht des Todes von solch froher Glaubensgewissheit getragen wird, der vermag das nur aus der Kraft der Auferstehung, die uns in der frohen Botschaft von heute verkündet wird. "Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist von den Toten auferstanden."
Amen.