Wendlingen
Schrifttexte: Röm 12,1-2; Mt 16,21-27
Liebe Schwestern und Brüder!
Die letzten Tage und Wochen mit den Nachrichten von Millionen von Flüchtlingen und den Schrecken der Vertreibung machen mir sehr zu schaffen! Sie machen mich traurig und betroffen. Denn es scheint, als ob sich manch unabwendbares vergangenes Ereignis wiederholen! – Flucht und Vertreibung – diesmal nicht in Deutschland, sondern anderswo!
Am 1. September 1939, morgen vor genau 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Es waren Jahre grausamen Terrors, Jahre in denen weit über 50 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben – umgebracht durch die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten, gefallen auf den Kriegsfeldern und gestorben infolge von Flucht und Vertreibung. Viele Millionen Menschen haben während des Krieges und in den Jahren danach ihre Heimat verloren. Familien wurden auseinander gerissen und Existenzen zerstört.
Vermutlich sind heute einige unter Ihnen, die damals die Grausamkeiten die Grausamkeiten der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt haben.
Die Geschichte unserer Diözese ist sehr eng mit der Geschichte all jener unter Ihnen verbunden, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, die als Vertriebene hierher kamen.
Mehr als eine halbe Million Menschen sind nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in unsere Diözese gekommen. Und vielerorts waren plötzlich Katholiken in der Mehrheit. Bischof Carl-Josef Leiprecht ließ in den Nachkriegsjahren 450 Kirchen bauen, um den Vertriebenen in den Gemeinden eine neue Heimat zu bieten. Mancherorts ist man ihnen mit offenen Armen begegnet, an anderen Orten und in so mancher Kirchengemeinde hatten die Vertriebenen zunächst keinen Platz. Dass dieser Anfang hier im Südwesten Deutschlands für alle kein einfacher war, das steht außer Frage.
An diesem Tag heute hier bei Ihnen zu sein, mit Ihnen das Vinzenzifest zu feiern, das erfüllt mich, mit Blick auf die aktuelle Konfliktlage in der Welt, mit gegensätzlichen Gefühlen und Gedanken – nicht nur mit Freude, sondern ebenso mit Sorge:
Es ist zum einen die große Freude hier unter Menschen zu sein, die in der Fremde seit Jahrzehnten eine neue Heimat gefunden haben. Und die mit Ihrer Lebensgeschichte, mit ihrer je ganz eigenen Persönlichkeit unser Land geprägt haben. Die Vertriebenen haben unserem Land gut getan – und tun es noch heute! Ich verneige mich, noch bewusster in diesen Tagen, in großer Ehrfurcht vor all jenen, die trotz Leid, Schmerz und Unrecht die innere Kraft zum Frieden bewahrt hatten: Denn Sie waren mit der Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen im Jahr 1950 Ihrer Zeit weit voraus. Dieses Dokument zeugt damals wie heute von Mut, Weitsicht und dem Glauben an Frieden und Versöhnung.
Und gleichzeitig erfüllt mich dieser Festtag heute mit Sorge und einer gewissen Hilflosigkeit. Die Geschichte von Tod und Zerstörung, Hunger und Angst, Flucht und Vertreibung – sie wiederholt sich derzeit an vielen Orten in der Welt: In Syrien, im Nord-Irak, in Palästina, im Sudan, in anderen Ländern Afrikas (Boko Haram) in der Ukraine. Kriegerische Auseinandersetzung, Vertreibung, Flucht, Hunger…: heute wieder mehr denn je… Und all dies scheint derzeit unaufhaltbar.
In solche Situationen hinein spricht das Friedensgebot Jesu.
Neben der humanitären Hilfe, die auch wir als Diözese über Caritas international und ganz direkt für die chaldäisch-katholischen Christen im Nordirak leisten, möchte ich aber vor allem eines – und dafür setze ich mich mit ganzer Kraft ein, einerseits: Alles vor Ort zu tun, dass Flicht und Vertreibung nicht stattfinden!
Andererseits: Die Flüchtlinge, die in diesen Wochen und Monaten zu uns kommen, sie sollen hier Heimat haben. Das mag in vielen Fällen nur eine Heimat auf Zeit sein. Doch Heimat bedeutet immer, angenommen zu sein, einen Platz zu haben – mit all dem, was diese Menschen mit sich bringen: Ihr ganzes Leben, ihre traumatischen Erfahren. Ihre so oft ganz andere Lebenswelt und Kultur, ihre eigene Art, Gott zu loben und zu preisen, Liturgie zu feiern, ihr vielleicht ganz eigenes religiöses Brauchtum.
Beispiele: 1.500 katholische Chaldäer in Stuttgart, Muslimische Familien aus Syrien in Oggelsbeuren, viele ganz junge Christen aus Afrika in Weingarten…
Ich bitte gerade Sie als einst vertriebene und geflohene Christen, die mehr als irgendjemand sonst mit den Flüchtlingen dieser Tage und den Schrecken der Vertreibung und Flucht mitfühlen und mitleiden können: Ich bitte Sie um ihr Gebet für die Heimatlosen. Und ich bitte Sie genauso: Um Offenheit gegenüber Menschen aller Nation und Religion. Um ihr Engagement, um ihr Einstehen für jene, die heute entwurzelt sind und es noch zu Tausenden in der kommenden Zeit sein werden. Wer Heimat hat, soll auch Heimat geben – ganz in Sinne des Heiligen Martin, der seinen wärmenden Mantel geteilt hat mit dem frierenden Bettler, dem Bedürftigen, dem Fremden, der so gerettet wurde.
Vorhin im Evangelium haben wir gehört, wie Jesus zu seinen Jüngern sagte: „Wer mein Jünger sein will, (…) der folge mir nach!“ (vgl. Mt 16,21-27). Nehmen wir die heilende Friedens- und Versöhnungsbotschaft Jesu auch heute zum Anlass, uns für die Bedrohten, Bedrückten, Verfolgten und Heimatlosen einzusetzen ihnen Unterstützung, Schutz und Heimat zu ermöglichen. Mit Gottes Hilfe!
Amen!