Biberach
Schrifttext: Offbg 21,1-8
Lieber Bruder Maier, liebe Schwestern und Brüder im gemeinsamen Glauben an den auferstandenen Christus!
‚Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.’
Was für eine wunderbare Vorausschau, es ist die Zusage der großen Zukunft Gottes, die in Jesus Christus für uns angebrochen ist. Fast scheint es, als wäre das der Programmtext Gottes über seinen unendlichen Fortschritt, der nicht nur in eine Woche für das Leben, sondern in das Leben schlechthin mündet. Es ist Gottes Zusage seiner Zukunft an die Menschen und die ganze Schöpfung.
Die wundervollen Worte des Sehers von Patmos wollen die ganz andere Zukunft Gottes beschreiben, die immer erst bevorsteht für uns.
Dort wo Menschen jedoch Versuche unternehmen, diese Zukunft vorwegzunehmen und in ihre Gegenwart umzusetzen, droht diese bald zu entarten: Statt seine Verantwortung für Mitmenschen und Schöpfung wahrzunehmen, verwechselt der Mensch Würde mit Wert und treibt dann unter Vorgabe vermeintlicher Heilsversprechungen rasch ein heilloses, würdeloses Spiel, in dem Menschen zu Dingen werden. Dinge, die dann eben auch ihren Wert verlieren und abgeschoben, ausgegrenzt, entwertet und entsorgt werden.
Gerade die Vision des Johannes setzt unserer Überheblichkeit da Grenzen, denn ihm ist immer ganz klar, dass es Gott selbst ist, der zuletzt die Tränen abwischen wird, und dass dann erst ‚der Tod nicht mehr sein wird’. Diese Vorausschau setzt wie in einem großen Bogen quer über die gesamte Bibel. Dieselbe unendlich lie-bevolle Sprache, in der die Fürsorge und das Wahrnehmen der Verantwortung für jeden einzelnen Menschen deutlich werden. Der liebevoll-mitleidende Blick für den anderen Menschen und seine Not, jene anteilgebende Sympathie als Grundhaltung, die uns Jesus von Nazareth einmalig und bis ins Letzte vorlebte, bestimmt Anfang und Ziel der biblischen Fortschrittsgeschichte. Jener urchristliche Fortschritt als Schritt zum anderen nämlich, als Schritt zu dem hin, der es nötig hat, all das benennt Johannes als Ziel der großen Zukunft Gottes für die Menschen. ‚Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.’
Für uns heute ist oft nicht mehr der Mit-Mensch das Maß aller Dinge, sein Wohlergehen, seine Würde, sondern das Machbare und das Spiel mit dem Machen und der Macht. Dieses Spiel aber ist längst ernst: Es geht um die Lebensfähigkeit des Menschen in einer Welt, die sich in einer unvorstellbar rasanten Weise, scheinbar unbegrenzt verändert. Es geht darum, uns daran erinnern zu lassen, dass wir Menschen sind, die trotz aller Entfremdung von Gott, dennoch Gottes Ebenbild bleiben. Martin Buber spricht davon, dass diese Gottebenbildlichkeit eine `Aufgabe' für den Menschen ist, nämlich wie ein Bild von Gott für die Welt zu werden. Ein Bild von ihm – nicht Er, nicht Gott selbst. Verantwortung übernehmen ist die konkrete Sprache des Schöpfungsauftrags an uns Menschen. Wir aber möchten oft selbst sein wie Gott.
Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts: Was heißt das? Wir sind nicht forschungsfeindlich, sondern lebensfreundlich.
Der Mensch verkommt zum Spielball der eigenen Experimente, dürfen wir alles tun, was wir können? Wir Menschen müssen mit jeder Entdeckung und Erfindung lernen, neu danach zu fragen, wem das nun Erkannte dient und wohin dies uns und die ganze Schöpfung Gottes führt? Von daher ergibt sich auch eine Wegweisung für unser Verhalten: Wir dürfen forschen, entdecken, erfinden, das gehört zur gottgewollten menschlichen Freiheit und Kreativität. Doch nun heißt es, angesichts des Fortschritts, den wir erleben, und all unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten, ethische oder moralische Grenzen zu akzeptieren und die Eben-bildlichkeit des Menschen mit seinem Gott nicht dadurch aufs Spiel zu setzen, dass man selbst wie Gott sein möchte. Denn genau hier verliert der Mensch seine Menschlichkeit, er wird inhuman, unmenschlich, er lebt im Streit mit Gott und der Welt, ja sogar mit der Würde, die ihn als Mensch vor allen anderen Geschöpfen und Dingen auszeichnet. Wir müssen lernen, uns empfindsamer zu machen, unsere Grenzen zu akzeptieren und dabei unseren Verstand zu benutzen. Insbesondere gilt es, die Würde des Menschen, die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ebenso wie die Selbstbestimmungsrechte und die Persönlichkeitsrechte zu achten und so einer Kultur des Lebens und der Liebe zum Durchbruch zu verhelfen.
Eine solche Kultur des Lebens erfordert konkret einen kategorischen Imperativ, stets die menschendienliche Perspektive im Auge zu behalten. Sonst könnte in nicht so ferner Zukunft wahr werden, was Bertolt Brecht in seinem Bühnenstück Galileo Galilei sagen läßt:
„Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Müh-seligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwi-schen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte." (Bertolt Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, II, Frankfurt/M. 1997, 104) Auch dies eine Vorausschau der Folgen des Fortschritts, des Fortschritts weg vom Menschen.
Nehmen wir dagegen die befreiende Botschaft des Sehers von Patmos vom Fortschritt hin zum Menschen ernst: Gott selbst verspricht uns seine Zukunft, in der er selbst alle Tränen abwischen und kein Tod mehr sein wird. Eine großartigere Zusage kann es nicht geben, denn sie sagt die Liebe Gottes als Zukunft des Men-schen voraus: Ich liebe dich, Mensch, nimm auch du dich an als Träger der Verheißung von Gott gegebenen ewigen Lebens - mit deinen Grenzen und deiner Endlichkeit.
Amen.