Weingarten, Basilika St. Martinus
Schrifttext: Jesaja 50, 4-9a - Thess. 5,12-24 - Joh 15, 1-9
Liebe Schwestern und Brüder!
Heute erleben wir einen ganz außergewöhnlichen Tag, denn wir erfahren etwas Besonderes. Zwölf Menschen stehen uns vor Augen und durch ihr Hiersein weisen sie uns leibhaftig auf Überraschendes hin: Gott ruft auch heute noch Menschen. Die allermeisten Zeitgenossen würden es nicht glauben können, wenn sie es nicht sehen könnten. Wir, liebe Schwestern und Brüder, können dies heute sehen.
Anders als noch vor wenigen Jahren erreicht Gottes Ruf heute Menschen auf ganz verschiedenen Wegen. Fünf von unseren angehenden Priestern haben zuvor einen anderen Beruf erlernt. Die Bandbreite reicht vom Feinmechaniker über den Betriebswirt bis zum Diplom-Mathematiker. Jeden der Zwölf hat Gottes Ruf in verschiedenen Lebenssituationen erreicht: in der Kirchengemeinde oder in der Universität, in der Schule oder am Arbeitsplatz: eben mitten im Alltag der Welt.
Liebe Schwestern und Brüder, unsere gegenwärtige Zeit, unsere gesellschaftliche, kulturelle Situation ist offensichtlich nicht durch und durch so, dass sie die Ohren der Menschen gänzlich verstopft und Gottes Ruf ungehört und echolos verhallt.... Nein: Gottes Ruf kommt an! Gottes Ruf trifft Menschen ins Herz! - Das macht mich zuversichtlich! Das lässt uns der Zukunft trauen. - Für uns alle, liebe Weihekandidaten, seid ihr ein Hoffnungszeichen! Ihr beleuchtet unsere Zeit neu! Und ihr bringt Neues mit – für die Menschen, für unsere Kirche!
Liebe Schwestern und Brüder, in den Gesprächen, die ich mit den Weihekandidaten geführt habe, konnte ich erfahren, wie ihre Berufungen entstanden, wie sie gewachsen sind und wie überzeugend sie ihren Glauben mit ihrem Leben zusammenbringen. Sie haben einen Glauben voller Lebenserfahrung – und sie bringen ein Leben voller Glaubenserfahrung in unsere Kirche ein. Das kann ich bezeugen! Wir alle, unsere Gemeinden, dürfen dafür dankbar sein! Die Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus und die Seelsorge an den Menschen zu ihrem Heil wird dadurch in unserer Kirche reich und reicher.
Kein Wunder, dass Sie, liebe Weihekandidaten, solche Texte ausgesucht haben, wie wir sie als Lesungen und Evangelium gehört haben. Texte voller Leben! Texte voller Glauben!
Da hören wir Sätze aus der Berufungsgeschichte des Propheten Jesaja. Er erzählt wie es ihm erging als Gott ihn anrief. "Ich wehrte mich nicht und wich nicht zurück." (Jes 50,5b) Und es klingt wie Eure Geschichte, liebe Weihekandidaten, als Ihr gerufen wurdet. Auch Ihr habt euch nicht gewehrt und seid nicht zurückgewichen. - Ihr steht vor uns als lebendige Zeichen, dass Ihr von Gott aufgeweckt wurdet und ergriffen seid. Dies bekräftigt Ihr heute mit Eurem "Hier bin ich!"
Jesaja geht noch einen Schritt weiter und bekennt: "Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger." (Jes 50,4b) Liebe Weihekandidaten, Gott weckt immer neu Euer Ohr, damit Ihr immer neu zu Hörenden werdet. Auf Gott hören, immer neu, aber zu welchem Zweck? Auch diese Antwort gibt uns Jesaja: "Gott gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort." (Jes 50, 4): die Müden stärken durch ein aufmunterndes Wort.
Das Hören auf Gott lässt uns die Müden entdecken: Menschen, die schwer tragen an ihrem Leben und denen der Lebensmut abhanden gekommen ist. Das Hören auf Gott gibt uns das Verständnis, diese Müden und schwach gewordenen zu stärken durch aufmunternde Worte und heilsame Taten.
"Seid ihr bereit den Armen und Kranken beizustehen und den Heimatlosen und Notleidenden zu helfen?" So werde ich Euch nachher fragen und ihr werdet antworten: "Ich bin bereit!"
Gottes Ruf ist ein Ruf zu den Menschen – nicht zur spirituellen Selbstversorgung bestimmt. Gottes Ruf ist ein Ruf zum Dienst am Anderen. So ruft es Euch auch Paulus in seinem Brief von heute zu: "Ermutigt die Ängstlichen, nehmt euch der Schwachen an, seid geduldig mit allen. Seht zu, dass keiner dem anderen Böses mit Bösem vergilt. Bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun." (2 Thess, 5,14b.15)
Das ist euer priesterlicher Dienst. In diesem priesterlichen Dienst steht ihr, liebe Weihekandidaten nicht allein. Viele, auf ihre Weise Gerufene werden an eurer Seite stehen, wenn ihr das nur zulasst und das Eure dazu tut.
Denn wer sich von Gott sein Ohr öffnen lässt, der ist auch gerufen zu den Menschen, um in ihnen ihre je eigenen Kräfte und Berufungen zu entdecken, zu erwecken und zur Entfaltung zu verhelfen. Wir können mit geöffneten Ohren heraushören die Gaben und Begabungen der Christen in der Gemeinde. Gaben des Gottesgeistes an die Menschen in unseren Gemeinden zu entdecken und zu fördern, ist eine der herausragenden Aufgaben des Priesters von heute.
Ich erfahre es als das große Geschenk an unsere Kirche in dieser Zeit, dass heute so viele sich die Sache der christlichen Botschaft zu eigen machen: noch nie haben sich in unserer Diözese, in der katholischen Kirche in Deutschland so viele getaufte und gefirmte Christen in den Gemeinden engagiert wie gegenwärtig. Neben der großen Sorge um das Abbröckeln des Glaubenswissens, ist dieses lebendige, ehrenamtliche Engagement vieler, vieler Christen mehr als ein Grund zu Freude und Dankbarkeit. Ich sehe darin die große Chance unsere Zeit. Unser aller Glaube wird so durch Personen anschaulicher, lebensnäher und erfahrbarer, vielfältiger und reicher: einfach überzeugender.
Das wunderbare Bild vom Weinstock (Joh 15,1-17) mit den vielen Reben und ihren reichen Früchten, hat diesen Reichtum der Geistesgaben im Sinn. Viele Reben und Trauben, ein Weinstock. Christus ist dieser Weinstock. Wir sind die Reben. Viele Gaben, ein Geist; viele Jünger - ein Herr.
Der Weinstock und die Reben: welch ein Bild, liebe Schwestern und Brüder, ein Bild voller Leben, voller eingewurzelter Lebendigkeit. Ein Bild von Beziehung und Beziehungen.
Der Weinstock Jesus Christus spendet den Jüngern die Kraft. Wir dürfen aus ihm unsere Lebens- und Glaubenskraft beziehen. Die Beziehung zu Christus, liebe Weihekandidaten, hält Euch lebendig. Von ihm her kommt Eure Kraft und euer Mut. Ihr sollt und könnt Euch von vielem trennen, was euch lieb und teuer ist. Von ihm aber dürft Ihr Euch nicht trennen. Denn: "Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen" (Joh 15,5) ruft Jesus seinen Jüngern zu und verspricht ihnen zugleich seine Treue. "Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch!"
Keiner von uns, liebe Weihekandidaten, keiner von uns, liebe Schwestern und Brüder, ist nur ein Teilchen in einem Puzzle, gar ein Rädchen im Getriebe. Der Weinstock und die Reben, das ist kein Bild einer kalten Struktur, die aus Machtmechanismen besteht, sondern Bild einer dynamischen Einheit des Lebens und des Glaubens: aus Christus - für die Menschen. Ihm treu verbunden bleiben, dann bringt jeder seine Frucht. Seelsorge wird durch den Seelsorger fruchtbar aus der Verbindung mit Christus.
Die beiden Bilder, vom Ohr, das Gott uns weckt und vom Weinstock Christus, aus dessen Kraft wir leben, zeigt: wir glaubende Menschen leben zuerst aus dem was wir empfangen, aus dem was durch Gott an uns geschieht. Christen schauen nicht zuerst auf das, was ihnen fehlt, sondern auf das, was ihnen schon gegeben ist. Liebe Schwestern und Brüder, das ist kein romantisches Verständnis unseres Lebens, sondern ein zeitkritisches Verhalten: zuerst aus dem Empfangenen leben in einer Gesellschaft, in der alle nur ans Selbermachen denken.
Ein Mensch der empfangen kann, macht sich nicht fest am eigenen Erfolg und stürzt nicht ab durch Misserfolge. Ein Mensch, der empfangen kann ist festgemacht in Gott selbst, von ihm her bezieht er seine Freude und seine Zuversicht. Ein Empfangender lebt in der "Freiheit der Kinder Gottes".
Priester sind solche Menschen, die vom Empfangen leben, deshalb sind sie heute so unersetzlich. Sie können geben aus einer Quelle, die nicht versiegt.
Liebe Weihekandidaten, Paulus gibt den Jüngern Christi das Versprechen mit "Gott, der euch beruft, ist treu!" (1 Thess 5,24) Dieses Versprechen gilt heute Euch: "Gott, der euch beruft, ist treu!". Dieses Wort wird euch tragen in eurem priesterlichen Dienst.
Amen