Stuttgart-Hohenheim, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
man könnte sicherlich auf verschiedenen Weisen zum Thema ‚Rolle und Aufgabe der Verbände in der Diözese’ sprechen. Da ist zunächst der historische Zugang, der nach den Wurzeln fragt und sie dann auf die Erfordernisse der Zeit hin zu interpretieren versucht. Dann könnte man an große programmatische Entwürfe anknüpfen, wie sie uns die Gründer von Verbänden hinterlassen haben. Man könnte nach der veränderten Rolle fragen, die die Verbände durch das II. Vatikanische Konzil und vor allem in der Zeit danach erfahren haben. Schließlich könnte man von der augenblicklichen Situation der katholischen Verbände, die vielfach als kritisch eingeschätzt wird, ausgehen und über die Ursachen und Gründe davon nachdenken. All solche Zugänge sind hier möglich und sie sind auch verschiedentlich schon unternommen worden.
Gestatten Sie mir hier jedoch zunächst einen etwas ungewöhnlichen Zugang, indem ich nach der Herkunft des Wortes ‚Verband’ frage und mich so unserer Thematik zu nähern versuche. Das mag vielleicht auf den ersten Blick eine akademische Fingerübung sein, aber ich verspreche Ihnen, dass es ein nicht nur aufschlussreiches, sondern erhellendes und anregendes Unternehmen ist.
Ein Blick in ein sogenanntes etymologisches Wörterbuch verweist uns unter Verband zum Wort ‚binden’ weiter. Folgen wir diesem Hinweis, so lässt sich Verband also zuallererst als Gemeinschaft von Menschen bestimmen, die sich binden, die gebunden sind, die miteinander oder in einer gemeinsamen Aufgabe eingebunden, ver-bunden sind. Schon hier zu Beginn ist es also unverkennbar, dass sich ein Verband nie auf sich selbst bezieht, sondern sich stets redlich Rechenschaft darüber geben muss, was ihn denn bindet, was denn das tragende Band ist, was die tragende Mitte. Ansonsten steht Verbandswesen rasch in der Gefahr, zum bloßen Aktionismus zu verkommen, zu einer Bewegung zu werden, die mit womöglich viel Kraft zuletzt bloß sich selbst erschöpft.
Gehen wir aber, bevor wir nach dem zentralen Gehalt fragen, noch einen weiteren Schritt auf unserer etymologischen Spurensuche zurück und stoßen dabei unter ‚binden’ auf folgende Hinweise: Das Verb binden, zu dessen Wortfamilie auch Bund und Band gehören, verweist auf ein Bedeutungsfeld, das mit Umwinden, Zusammenfügen, Zusammenhalten und Befestigen umrissen wird. Im weiteren Verlauf des Artikels stoßen wir dann über die Worte ‚verbinden’, ‚Verbindung’ und ‚verbindlich’ endlich auch zu unserem Begriff und finden ihn so definiert: Ein Verband, der im 18. Jahrhundert zuerst als Wundverband und im Schiffsbau für ein tragendes, stützendes Bauteil verwendet wurde, wird erst im 19. Jahrhundert zum Begriff für eine Organisation und Körperschaft. Vergessen wir nicht die Bedeutung des Organisatorischen: Was nicht organisiert ist, existiert (bald) nicht.
Nicht allein die Worte verbinden und verbindlich erinnern uns an wesentliche Dimensionen, die im Begriff ‚Verband’ mitklingen. Das Wort Verband selbst bezeichnet also jene wesentliche Dimension, die einen Verband kennzeichnen und auszeichnen muss und die ihm Ehrentitel wie zentrale Aufgabe ist: Es geht um die Wunden unserer Gesellschaft, die zu verbinden sind. Ein Verband ist nicht für sich selbst da oder zur Erbauung und Beschäftigung seiner Mitglieder: Nein, ein Verband hat dienende Funktion gegenüber denen, die eines Verbandes bedürfen, die in Not sind, die Opfer, die am Straßenrand liegen und verbunden werden müssen, die ausgegrenzt sind und neu eingebunden werden müssen in unsere sozialen Netze und Verbindungen.
Denn auf wen sollte solche Definition genauer zutreffen als auf jene Gruppe von Verbänden, die etwa in der AKO zusammengefasst sind, die als katholische Organisationen eben kirchliche Verbände darstellen. In ihnen präzisiert sich jene Wortbedeutung durch einen Auftrag, eine Sendung, einen Ruf in die Nachfolge Jesu, der mitten in der Welt nach seiner immer neuen Umsetzung verlangt. Weit davon entfernt, eine rein akademische Übung oder Wortspielerei gemacht zu haben, sind wir bei unserer weiten Ausfahrt also zutiefst im Zentrum eingekehrt.
Und mit dieser Mitte als Hintergrund möchte ich jetzt daran gehen, nach der Rolle und Aufgabe der Verbände in unserer Diözese zu fragen. Halten wir fest: Verbände, das sind die Organisationen, die verbinden, dort, wo es Not tut. Verbände müssen also neben den nötigen Strukturen, den Kenntnissen und dem erforderlichen Verbandszeug vor allem zunächst einen hellwachen Blick und eine aufmerksame, hinschauende, mitleidende Sensibilität dafür haben und immer neu entwickeln. Die Verbände verwirklichen dadurch in besonderer Weise jene Anteilnahme an der ‚Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art’, die das Konzil in programmatischer Weise für alle Christinnen und Christen an den Beginn seiner Pastoralkonstitution geschrieben hatte. Wer, wenn nicht die katholischen Verbände, die mitten in Welt und Gesellschaft, mitten unter den Menschen leben, sind aufgefordert, ‚nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten’ (GS 4)? Und als vornehmstes Licht des Evangeliums erscheint doch von der Lebenspraxis Jesu immer, den Blick auf die Opfer zu richten, die Aufmerksamkeit auf die ‚Mühseligen und Beladenen’ zu lenken, ihre Lasten mitzutragen, sie so zu erleichtern und daran mitzuarbeiten, dass sich Strukturen heilsam so verändern, dass alle Menschen schon hier und heute gut leben können.
Oder, um ein eindrückliches Bild von Dietrich Bonhoeffer aufzugreifen, das dieser im Anschluss an die Geschichte vom Samariter prägte: Es ist nicht nur geboten, den Opfern am Wegrand zu helfen und diejenigen, die unter die Räder gekommen sind, zu verbinden, sondern dem Rad in die Speichen zu greifen und zu verhindern, dass immer neue Menschen darunter geraten, schließlich die Strassen so nachhaltig zu verändern, dass Menschen auf ihnen wohl und heil voran und zueinander kommen können. Wenn im Leitbildentwurf des Kolpingwerks formuliert wird: „Die sozialen Fragen unserer Zeit fordern unser Engagement. Wir liefern nicht nur Konzepte, sondern packen dort tatkräftig an, wo wir gebraucht werden.’, dann scheint mir diese Doppelstrategie von akuter Notfallleistung und Verband gemeinsam mit der Sorge um nachhaltige Ermöglichung guter Zukunft genau getroffen zu sein: Neben die samaritanische tritt die sozialpolitische Funktion.
Das mag dann in jeweiligen Spezialaufgaben die Sorge um das Karitative sein, die Wahrnehmung einer ökologisch sensiblen Sorge um eine nachhaltige Pflege der Schöpfung; es mag um die Frage nach der gerechten Verteilung vorhandener Ressourcen weltweit gehen, den Einsatz gegen ungerechte Strukturen, gegen Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund Rasse, Geschlecht oder etwa Behinderung; oder um die konkrete Ausgestaltung des Prinzips Verantwortung für die nach uns kommenden Generationen unserer Kinder und Kindeskinder.
Ausgangspunkt ist immer die Orientierung an Jesus von Nazareth, an seinen Worten und seinen Taten, an seiner Lebens- und Sterbenspraxis, mit der er uns ein und für allemal gültig einen gültigen Vorgeschmack auf das Reich Gottes angeboten hat. Wollte man die Praxis Jesu in einem Wort zusammenfassen, so könnte man wohl am ehesten auf den Begriff der ‚stellvertretenden Liebe’ oder den der ‚bedingungslosen Hingabe für den anderen’ kommen. Und so ist es konsequent, wenn das Konzil dies im Blick auf die Gesellschaft so ausformuliert, es sei die eigentliche Aufgabe, „eine politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung zu schaffen, die immer besser im Dienst des Menschen steht und die dem Einzelnen wie den Gruppen dazu hilft, die ihnen eigene Würde zu behaupten und zu entfalten.“ (GS 9)
Oft wird gesagt, dass durch die besondere Betonung der Rolle der Laien die Frage der Verbände und ihre Stellung durch das Konzil nicht recht gewürdigt worden sei. Dies scheint mir mitnichten der Fall zu sein. Denn wo, wenn nicht in den Verbänden, werden in hervorragender Weise jene Sätze verwirklicht, die das Konzil im Laienapostolat geradezu programmatisch formulierte: „(Die Laien) sollen aus ihrer spezifischen Sachkenntnis heraus und in eigener Verantwortung als Bürger mit ihren Mitbürgern zusammenarbeiten und überall und in allem die Gerechtigkeit des Reiches Gottes suchen. Die zeitliche Ordnung ist so auszurichten, dass sie, unter völliger Wahrung der ihr eigentümlichen Gesetze, den höheren Grundsätzen des christlichen Lebens entsprechend gestaltet, dabei jedoch den verschiedenen Situationen der Orte, Zeiten und Völker angepasst wird.“ (AA 7)
Soll diese Rolle sich jedoch nicht in Einzelkämpfertum erschöpfen, müssen sich Menschen verbinden zu Verbänden, wo Menschen sich binden können.
Wenn ich zuweilen höre, die Kirche sei ein Relikt aus abgelaufenen Zeit, oder die These, die katholischen Verbände seien Denkmäler vergangener Zeiten, dann kann ich nur antworten: Schaut auf die Welt, blickt auf den Zustand unserer Gesellschaft und ihrer Wunden. So wie die Kirche nicht um ihrer selbst da ist, sondern als Sakrament, als Zeichen des Reiches Gottes auf Erden, so hat sich auch die Aufgabe der kirchlichen Verbände keineswegs erübrigt. Im Gegenteil: Womöglich haben sich ihre Themen und Gebiete verändert und, wie ich befürchte, erheblich erweitert. Und solange es Wunden, Verwundungen und Wundmale gibt, so lange schreit die Zeit geradezu nach Menschen, die sie verbinden, nach Organisationen, die ihr Knowhow und ihr Engagement, ihre Verbände bereitstellen und diese bereitwillig und entschlossen einsetzen, auch und besonders zur Prävention von Wunden, zur Gestaltung einer gerechteren Welt.
Das Leitwort unseres diözesanen Jubiläums in diesem Jahr lautet ‚Gott und den Menschen nah’. Ich möchte dies abschließend mit einem Satz von Adolph Kolping interpretieren, der sich als traditions- und geschichtsbewusster Mensch doch stets zugleich als Mann des Aufbruchs erwies, der die Not und Gunst der Stunde erkannte und jeweils nach neuen Wegen suchte und entsprechend handelte. Er formulierte als sein Motto: ‚In der Gegenwart muss unser Wirken die Zukunft im Auge behalten’, und er hat damit im Grunde jenen großen Begriff der ‚Wahrnehmung der Zeichen der Zeit’, den das Konzil als zentralen Auftrag der Kirche erarbeitete, vorweggenommen. ‚In der Gegenwart muss unser Wirken die Zukunft im Auge behalten’, unser Auftrag hat sich bis heute keineswegs verändert, im Gegenteil, wir sehen heute drängender als je zuvor, dass der Blick auf zukünftige Entwicklungen, Problemfelder und Dimensionen die Verantwortung für unser heutiges Handeln bestimmen muss.
Gott und den Menschen nah: Wir können die Nähe zu den Menschen ausgestalten und als kirchliche Organisationen und Verbände mitten in der Welt unsere Aufgaben wahrnehmen. Durch die Nähe Gottes zu uns, der uns in Jesus Christus seinen Verband mit uns Menschen unüberbietbar konkretisiert hat, sind wir aufgerufen, eingeladen und in die Lage versetzt, für die Menschen da zu sein, die Opfer am Wegrand zu verbinden, die Straßen sicherer, gerechter und menschlicher zu gestalten, als christliche Verbände Gott und den Menschen nah für die Menschen, ihr Heil und das Wohl der ganzen Schöpfung zu handeln.
Was ich als Grußwort im letzten Jahr in die Broschüre hineinschrieb, gilt unverändert auch heute: Der ako gehören derzeit 36 Organisationen und Verbände mit insgesamt rund 90.000 Einzelmitgliedern an, eine gewaltige Zahl, die mich freut und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt. Denn die Kirche lebt vom Mitmachen, sie braucht ‚Täter des Wortes’ (Jak 1,22) und wir alle brauchen Menschen, die zu solchem Handeln anstiften.
Ich freue mich über die zahlreichen kirchlichen Organisationen und Verbände, die große Anstrengungen unternehmen sich zu erneuern, zu verjüngen und die sich mühen, den Geist des Evangeliums auch in den eigenen Reihen lebendig zu gestalten. Aber auch unsere Gesellschaft braucht das Salz der Kirche, damit sie nicht fade wird und sich nicht mit Unrecht, das geschieht, zufrieden gibt. Deshalb begrüße ich das Engagement der ako, selbstbewusst von unserem Glauben Zeugnis abzulegen und sich kompetent in die gesellschaftlichen Ausein-andersetzungen einzumischen. Denn die Botschaft, die unserer Kirche anvertraut ist, ist ‚Licht für die Welt‘. Auf ihre Weise erbringt die ako –Gott sei Dank und den Menschen zum Wohl und zum Heil- ihren spezifischen Anteil zum Aufbau des Reiches Gottes.
Im Namen der ganzen Diözese danke ich Ihnen allen für alles, was sie in Kirche und Gesellschaft im Laufe ihrer langen Geschichte bereits gewirkt und bewirkt haben. Für die Zukunft wünsche ich Ihnen und uns allen Gottes reichen Segen und besonders den Mut, in unserer Gegenwart ‚die Zukunft im Auge zu behalten’ und sich so mit Blick auf eigene Wurzeln und Traditionen doch auf notwendige Veränderungen in Strukturen und Aufgaben einzulassen.