Bischof Dr. Gebhard Fürst: 'Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt' 2002

Stuttgart

Sehr geehrte Damen und Herren,

75 Jahre sind ein langer Berufsweg. Ich bin froh und dankbar, den Feiertag ihres Jubiläums heute hier mit ihnen begehen zu dürfen. Mit Bedacht möchte ich deshalb zu Beginn, ihnen allen, jeder und jedem einzelnen, meine Wertschätzung ausdrücken und von Herzen Dank sagen im Namen der Kirche unserer Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ich statte ihnen persönlich und ihrer Berufsgruppe als Bischof einen großen Dank ab. Allzu oft vergessen wir das im Alltagsgeschäft. Ich weiß um die Bedeutsamkeit ihres Berufes. Mitten im Leben der Menschen legen Sie Zeugnis ab von der rettenden, heilenden und frohmachenden Botschaft, die uns allen in diesen Zeiten Orientierung gibt und Sinn stiftet. In diesen Zeiten .....

Was ist nicht Unvorstellbares geschehen in Amerika. Die Menschen, die Kirchengemeinden, jeden einzelnen beschäftigt dies zutiefst, wühlt uns auf und konfrontiert uns mit Fragen von einer existentiellen und religiösen Tiefe, wie sie nicht tiefer sein könnten.

Im Fernsehen sah ich einen Feuerwehrmann, der aus dem gigantischen Trümmerberg des World-Trade-Centers erschöpft herauskam. Vor laufender Kamera wurde er gefragt, was er empfinde. Mit tränenerstickter aber auch wuterfüllter Stimme sagte er: "Wo ist Gott? Wo ist euer Gott hier?" Und verzweifelt fügte er hinzu: "Wir haben keinen Beschützer ..."

Was sagen wir, was antworten Sie Menschen mit solchen Fragen? – Ich weiß, das sind extreme Situationen. Aber in ihnen wird sichtbar, erfahrbar, welche Provokation in unserem Bekenntnis liegt: Ich glaube an Gott ... an Jesus Christus ... an seinen Heiligen Geist...

In ihrem Beruf, liebe Gemeindereferentinnen und -referenten sind Sie provoziert, heraus-gerufen, davon in alltäglichen Lebenssituationen Zeugnis abzulegen. Glaubhaftes authentisches Zeugnis, nicht angelesene Antworten! – Zeugnis! ... nicht nur, aber auch mit tröstenden, helfenden, erlösenden, heilenden Worten, besonders aber auch mit tröstenden, helfenden, erlösenden, heilenden Taten. Hier den Menschen nahe sein. Compassion (J.B.Metz)

Alle unsre Überlegungen stehen unter diesem Anspruch.

Der Beginn und die Entwicklung Ihres Berufes reicht weit vor das Konzil und die Würzburger Synode der Bistümer zurück. Natürlich haben sich Berufsbild und auch Ausbildungsweg und -art im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verändert. Worauf es mir hier zunächst ankommt ist: Da waren Zeichen der Zeit, die als Herausforderung wahrgenommen wurden. Es wurden notwendige inhaltliche wie strukturelle Maßnahmen eingeleitet, um auf eine sich verändernde Situation angemessen reagieren zu können. Leitendes Kriterium war dabei zuallererst die Rückbindung und angemessene Weitergabe des Evangeliums. Kirchenrechtliche Überlegungen wurden erst danach ins Spiel gebracht.

Ich stelle diese Beobachtung deshalb an den Beginn meiner Ausführungen, weil ich meine, hiermit eine für die Kirche wichtige Vorgehensweise wie in einer Versuchsanordnung vorführen zu können. Oberstes Gesetz allen kirchlichen Handelns ist die Orientierung am Heil der Menschen (vgl. CIC c. 1752). Alle anderen formalen oder strukturellen Überlegungen sollen sich dem unterordnen. Und wenn dann in einer Zeit die Bedingungen nicht mehr so sind, dass eine auf den Menschen gerichtete Seelsorge in all ihren Dimensionen möglich ist, müssen wir dem Rechung tragen. Mich überzeugte eine Erklärung des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury, dass Treue zu Jesus Christus nicht bedeute, jeweils fortzuschreiben, was immer schon gesagt worden sei. Es gehe vielmehr alles darum, jeweils neu zu fragen, was die Treue zu Jesus Christus hier und heute bedeute.

Die Gemeindereferentin, der Gemeindereferent lebt, das sagt der Name, in und aus seiner Beziehung zur Gemeinde. Sie verwirklichen damit in spezifischer Weise das, was die Kirche Jesu Christi insgesamt auszeichnet: Auch sie lebt nicht aus sich selbst und nicht für sich selbst. Sie begründet sich und ist bleibend rückbezogen auf Jesus Christus, seine Geschichte, sein Leben, sein Erzählen und Heilen, sein Handeln und Leiden, sein Sterben und seine Auferweckung. Aus all dem lebt sie grundsätzlich und immer wieder neu. Aber Kirche lebt auch nicht für sich selbst: Sie lebt mitten unter den Menschen und für den Menschen, um so mitlebend, mitgehend und mitleidend die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden, das Evangelium weiterzugeben, Zeugnis abzulegen von der Hoffnung, die uns trägt, durchdringt und bewegt. So ist es auch mit Ihnen, den Gemeindereferentinnen und den Gemeindereferenten.

Das II. Vatikanische Konzil und die Gemeinsame Synode der Bistümer haben für die Profilierung des Berufsbildes 'Gemeindereferentin/ Gemeindereferent' entscheidende Impulse gegeben und dem Beruf einen regelrechten Schub gegeben. 1971 kam es mit der Berufsöffnung für Männer vor allem auch zu entscheidenden Vertiefungen und Erweiterungen des Berufs.

Die Diskussionen um das jeweilige Profil machen dabei deutlich, dass man den grundsätzlichen theologischen Fragen nicht ausweichen kann. Erlauben Sie mir hierzu einige Hinweise:

Als eigentliche Frucht des Konzils können wir wohl festhalten, dass es ihm durchgehend um die "Verbindung von Wahrheit und Lebensrelevanz, von Glaube und Erfahrung, von Leben und Tat, von Sakrament und Lebensvollzug geht." (Ottmar Fuchs) Die durch das Konzil aufbrechende Intervention in der Kirche bewirkt, dass das gesamte Volk Gottes, jede Christin und jeder Christ, die Gemeinden und Ortskirchen nicht länger einfach Objekte sind. Wir alle sind als Getaufte und Gefirmte zur aktiven Mitwirkung in der Seelsorge aufgerufen. Diese Veränderung im Bewusstsein von Kirche und Pastoral hat natürlich Auswirkungen auf Inhalte und Formen von Verkündigung und Pastoral.

Das Konzil geht davon aus, dass alles Reden von der Kirche und in der Kirche zuerst von dem handelt, was alle betrifft und alle angeht. "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. (Pastoralkonstitution, GS 1) Spezifische Aufgaben und Dienste finden dann ihren Ort von dieser allen gemeinsamen Berufung und Sendung her. Die Gemeinsame Synode der Bistümer, die von 1971 bis 1975 in Würzburg tagte, hat diese pastorale Grundausrichtung des Konzils im Blick auf die Gemeindedefinition zu konkretisieren versucht.

Sie schreibt dabei den christlichen Gemeinden Sätze ins Stammbuch, die entsprechend als 'Berufsprogramm' jeder Gemeindereferentin und jedem Gemeindereferenten mit auf den Weg gegeben werden könnte: "Die Gemeinde muß offen sein nach innen und nach außen. Ihre Versammlung um den einen Tisch des Herrn und ihre Sendung zum Dienst an den Menschen gehören zusammen." (2.3.3) Die Realität einer Gemeinde vollzieht sich täglich neu in Diakonie, in der Feier des Brotbrechens und im Dienst an der Verkündigung. Dies sind die drei entscheidenden Grunddienste innerhalb von Kirche und Gemeinde, die wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Ich spreche bewußt von drei entscheidenden Grunddiensten in der Gemeinde, und die aktuelle Situation und Erfordernisse der Zeit müssen erweisen, was jeweils evangeliumsgemäße Praxis der Gemeinde ist. Insofern kann die einleitende Grundfrage der Synode, ob wir denn wirklich das sind, was wir im Zeugnis unserer Hoffnung bekennen, sehr präzise überprüft werden.

Es wird in Zukunft vieles darauf ankommen, auf der Basis des bisherigen Berufsbildes eine profilierte Arbeitsfeldbeschreibung zu entwickeln, um in Kooperation mit anderen kirchlichen Diensten und Ämtern zukunftsfähig zu bleiben. Zur Ausübung ihres Dienstes werden dabei auch zukünftig Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen der drei Grundvollzüge gehören.

Als konkrete, zukunftsweisende Kompetenzen nenne ich die gelebte Balance zwischen eigenem Glaubenszeugnis und Lehre der Kirche, d.h. Kompetenz im eigenen Glauben wie in der theologischen Reflexion. Dies erfordert auch in Zukunft das Vertrautsein mit der eigenen Überlieferungsgemeinschaft und Kenntnissen kirchlicher Tradition und verbindlicher Sprachregelungen. Ich nenne zweitens vor allem die Fähigkeit, die Sprache der Menschen zu lernen, d.h. den eigenen Glauben in der Sprache der anderen verständlich zu machen, was eine entsprechende menschlich-kommunikative Kompetenz erfordert. Das Reden aus dem Glauben soll das Zeugnis gelebten Glaubens sein, das eine dem entsprechende authentische Lebensdeutung einschließt. Diese wahrhaft hohen Kompetenzen sind nicht ein für allemal gültig erworben, sondern in der täglichen Bewährung je auf ihre tragfähige Gültigkeit hin zu überprüfen. Die Synode findet hierfür einleitend Sätze, die gerade heute auch für sie aktuell sind: "Eine Kirche, die sich erneuern will, muß wissen, wer sie ist und wohin sie zielt. Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel."

Die Worte, mit denen sie während der Sendung beauftragt werden, tragen hier durchaus programmatischen Charakter: 'Wecken und festigen sie Glaube, Liebe und Hoffnung in den Menschen. ' Die Wahrheit für die Kirche Jesu Christi ist Wahrheit um unseres Heiles willen, das in Jesus Christus zu uns gekommen ist und auf die Erfahrung der Menschen bezogen bleibt. Die Kirche zeichnet sich aus durch ihren Weg mit den Menschen, deren Erfahrungen sie als ihre eigenen wahrnimmt geschwisterlich teilt und aus der frohen Botschaft heraus deutet. In einem eindringlichen Bild formuliert der große Theologe Karl Rahner: "Im Strom der Zeit rettet man Ertrinkende nicht von nur eingebildeten 'Ufern der Ewigkeit', sondern nur, indem man selbst tapfer mitten im Fluß schwimmt". Wer sollte diese Einstellung, tapfer mitten unter den Menschen zu sein, besser und glaubwürdiger verkörpern als sie, die ja durch ihr Berufsbild auch zwischen Kirche und Welt, zwischen Kirchengemeinde und Gesellschaft, zwischen Leben und Evangelium einen lebendigen kritischen und inspirierenden Austausch pflegen.

Ich möchte mit einer Zeile aus einem Gedicht von Günter Eich schließen, die ich ihnen allen als Wunsch und Aufforderung mit auf den Weg geben möchte:

'Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!'

Sand im Getriebe der Welt zunächst: Leisten sie kritischen Widerstand gegen die Gewöhnung an alltägliche Gotteslosigkeit und Nächstenlosigkeit. Seien sie durch ihre Lebens- und Arbeitsweise der Stachel im Fleisch einer Welt, die zu oft kalt, mechanisch-technisiert ihr Gelingen am Auf und Ab der Börsenkurse mißt. Legen sie Zeugnis unserer auf Jesus Christus gegründeten und in ihm entspringenden Hoffnung ab, dort, wo es vielleicht überhaupt nicht gefragt ist, wo es stört, Unruhe verursacht. Erinnern sie die Menschen daran, dass es 'mehr als alles' geben muß. Sie haben die unvergleichliche Chance, mit ihrem Ort mitten unter den Menschen deren Sprache, deren Sorgen und Träume anzutreffen und aufzugreifen. Das mag Mühe kosten, unbequem sein und Widerspruch herausfordern. Es ist ihrem Auftrag gemäß, und letztlich zählt nur das.

Zugleich möchte ich sie aber auch bitten: versuchen sie auch in unserer Kirche dort ihre kritisch-lebendige Stimme einzubringen, wo die frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus abgeschwächt oder gar verdunkelt wird. Eine Gemeinschaft, die läuft wie geschmiert (so angenehm das kurzfristig sein mag), steht in Gefahr, träge und gleichgültig zu werden, Orientierung und Ziel aus den Augen zu verlieren.

Auch Christen müssen sich in ihrem Handeln vor Betriebsblindheit hüten. Die uns vom Evangelium gegebenen Inhalte und wesentlichen Aufgaben dürfen wir nicht vergessen. Das Kraftzentrum, das alles bewegt, ist Jesus Christus selbst, sein heiliger Geist, der in uns und durch uns wirkt. Ich wünsche mir, dass sie diesen ihren Dienst leben aus einer lebendigen Gottesbeziehung, die es immer wieder im Gebet zu verlebendigen gilt. Ich wünsche mir, dass sie von einer Spiritualität getragen sind und immer wieder inspiriert werden, die aus der Begegnung mit Jesus Christus erwächst. Die Kirche in ihrer oft allzu alltäglichen Gestalt ist jederzeit herausgerufen, in der Welt Zeugnis von jenem Reich Gottes abzulegen, das von Jesus verkündet wurde, in ihm angebrochen ist und heute schon unter uns beginnt Gegenwart zu werden.

Unsere Kirche ist insofern eine einmalige Verbindung von Vision und Realität. Deshalb bedarf sie immer wieder neu der Anstrengung, die aus dem Evangelium stammenden Visionen einer neuen Welt, eines von Gottes Geist getragenen neuen Miteinanders im altäglichen Leben und Zusammenleben zu realisieren.

Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sind als Gemeindereferentinnen und -referenten, genau am Schnittpunkt beider Seiten: Sie sind Anwalt der Menschen und der Wirklichkeit, haben Ohr und Herz am Puls der Zeit und ihrer Lebenserfahrungen, andererseits sind sie aber auch Anwalt des Evangeliums und seiner Botschaft. Einer frohen Botschaft, die trägt, die Orientierung gibt, einer Botschaft die uns befreit zu einem Leben füreinander, zu einem zeugnishaften Leben, das unter den Verheißungen Gottes steht und von ihnen durchdrungen ist. Seien sie Gott und den Menschen nahe!

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