Stuttgart-Hohenheim, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Im Jahr 1997 beging die Diözese Rottenburg-Stuttgart den 1600. Todestag ihres Patrons, des heiligen Martin von Tours. Aus diesem Anlass wurde erstmals in der Geschichte der Diözese ein Kunstpreis errichtet. Der Preis war thematisch auf das Martinsjubiläum bezogen, wurde 1997 öffentlich ausgeschrieben und 1998 in Verbindung mit einer Ausstellung im Rottenburger Diözesanmuseum und einem Katalog vergeben.
In diesem Jahr begeht die Diözese Rottenburg-Stuttgart unter dem Motto „Gott und den Menschen nahe“ ihr 175-jähriges Diözesanjubiläum, und im nächsten Jahr findet in Ulm unter dem Leitwort „Leben aus Gottes Kraft“ der 95. Deutsche Katholikentag statt. In diesem Kontext erfolgt nunmehr - im Abstand von fünf Jahren - auch die erneute Ausschreibung des Kunstpreises der Diözese. Die thematische Vorgabe für die jetzige Ausschreibung lautet: Lebensspuren.
1 Den Spuren des Lebens nachgehen
Zum Hintergrund dieser thematischen Vorgabe gehört die im Rahmen unserer diözesanen Prioritätendiskussion formulierte Option „Aufstehen für das Leben“. Diese Grundpriorität rückt den Schutz des menschlichen Lebens in allen seinen Lebensphasen, besonders am Anfang und am Ende, in den Blick. Es geht aber auch um die Fragen der gerechten Gestaltung des sozialen Lebens, der Solidarität angesichts der Globalisierung sowie der Bewahrung bzw. Schonung der Schöpfung. Wir wollen uns, heißt es in der Beratungsvorlage zur Diskussion der inhaltlich-pastoralen Prioritäten in der Diözese, „in eine Kultur des Lebens von Jesus Christus einüben lassen, der für uns ‚Weg, Wahrheit und Leben‘ (Joh 14,6) ist“.
Nach biblischem Glauben ist Gott ein „Freund des Lebens“ (vgl. Weish 11,26). Der Glaube spricht von der Schöpfung, von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und vom Kommen des Reiches Gottes als Vollendung der Welt. Er spricht insofern auch vom ewigen Leben, das dem Menschen zugesagt ist und das anfanghaft schon in die Gegenwart hereinreicht. In einer säkularisierten Gesellschaft sind Sinnstiftung und die Vermittlung von Grundwerten sicher nicht ausschließlich Sache der christlichen Religion. Sowohl in moralisch-ethischer als auch in kultureller Hinsicht lässt sich eine weit reichende Pluralisierung beobachten. Dennoch oder gerade deshalb kommt dem Christentum, kommt der orientierenden Kraft des Glaubens eine wichtige, ja unverzichtbare Aufgabe zur Stärkung und Wahrung der Humanität in unserer Gesellschaft zu.
2 Wissenschaftliche Weltinterpretation als Herausforderung
Die Menschheit steht heute angesichts radikaler Innovationen im Bereich der medizinischen und biowissenschaftlichen Forschung und ihrer technischen Realisierung vor einer so bisher noch nie da gewesenen Herausforderung. Das, was heute bereits erforscht und auch realisiert wird, erscheint nur als die Spitze einer noch viel weiter reichenden wissenschaftlich-technischen Revolution: von der Pränatal- und Implantationsdiagnostik über die künstliche Befruchtung, die Keimbahntherapie und das Klonieren bis hin zur genetischen Optimierung aller Lebewesen von der Pflanze über das Tier bis zum Menschen und zur techni-schen Bereitstellung anderer Lebensbedingungen und Lebensräume reichen die ins Auge gefassten Möglichkeiten der sogenannten „Lebens-wissenschaften“.
Leben ist nach der biblisch-theologischen wie auch der philosophischen Tradition mehr als bloßes Existieren in einem biologischen Sinn. Als religiös-ethischer Beziehungsbegriff hat Leben wesentlich mit dem „guten Leben“, also der sittlichen Lebensform und dem rechten Handeln nach den Geboten zu tun. Leben lebt sich nicht von allein, sondern muss gestaltet und verantwortet werden. Ohne die Beziehung zu Gott als Schöpfer des Lebens ist der Lebens-begriff nicht denkbar. Das Neue Testament stellt die Lebensthematik zudem in den Kontext der Reich-Gottes- und der Auferstehungsbotschaft und gibt so dem Leben eine Dynamik und Hoffnung, die über das Innerweltliche hinausgeht.
Vor diesem Hintergrund erscheint die zu beobachtende Tendenz, das natürliche Ordnungsgefüge des Lebens bis herauf zur menschlichen Gattung zur Disposi-tion zu stellen, mehr als waghalsig. Was droht, ist eine Aufspaltung des Menschen und seiner Würde in den „geborenen Menschen“ und den „werdenden“ Menschen, in eine Peson und ein „Lebewesen“, dem die personale Menschenwürde vorenthalten wird. Wir erleben heute, wie im Gewand einer sogenannten „Ethik des Heilens“ menschliche Lebewesen zur Disposition gestellt, selektiert und gegebenenfalls verworfen werden. Der unbedingte Wert jedes einzelnen Menschen und die bisherigen Maßstäbe des Menschlichen werden aufgegeben zu Gunsten fragwürdiger Kriterien des „Gesunden“, „Unbe-hinderten“, „Optimalen“ und „Perfekten“. Ja, aus dem „Menschen im Werden“ wird eine Sache, eine Handelsware, ein bloßer Gegenstand der Forschung gemacht, was dem Schutz der Menschenwürde eklatant widerspricht.
In dieser von utopischen Heilsphantasien und ernst zu nehmenden Hoffnung auf neue Therapien bestimmten Gemengelage ist es schwierig, einen Weg in die Zukunft zu finden. Neben der Religion und der philosophischen Ethik haben die bildenden Künste eine gewichtige Stimme in die Auseinandersetzung um das Leben einzubringen. Dabei geht es darum, durch die Kunst sehen zu lernen – das nämlich wieder zu sehen, was im Zeitalter der technischen Vernunft, eines „technischen Sehens“ und einer technischen Inbesitznahme der Natur gerade übersehen wird: die Dimension des „Wunders des Lebens“ (dass überhaupt etwas ist und nicht nichts), die Dimension des Geheimnisses und des Heiligen, die dem Leben erst seinen unbedingten Wert und seine wahre Würde verleiht.
3 Alles kann Zeichen und Symbol sein
Eine eindimensionale Interpretation der Wirklichkeit jedenfalls wird der komplexen Erfahrung des Menschen nicht gerecht. Die Religionen wissen um die Abgründigkeit des Wirklichen, darum, dass nichts selbstverständlich ist und deshalb alles zum Wunder werden kann. Alles ist aus einer umfassenden Wirklich-keit hervorgegangen, wofür alles Zeichen und Symbol sein kann. Wenn Gott der Urheber des Lebens ist und er seinen Schöpfergeist allem Lebendigen, insbe-sondere aber dem Menschen als seinem „Ebendbild“ eingehaucht hat (vgl. Gen 2,7; Ps 150), dann ist das Leben nicht ohne seinen Gottesbezug verstehbar, dann kann im sichtbaren Bild auch das Unsichtbare aufscheinen. Das Wirkliche ist dann mehr als das an sich selbst sinnlose Geschehen einer blinden Evolution.
Die Welt ist kein „Laboratorium“ und Experimentierfeld für eine besinnungslose „Arbeit“ (Labor), die das „ora“, das Gebet und die Muße verabschiedet hat zu Gunsten einer leeren Kreativität mit selbstgeschaffenen Welten. Stünde es nur so, gäbe es kein den Dingen eingestiftetes „Wort“, wäre die Welt ohne „teleologi-sche“ Ausrichtung auf einen letzten Sinn, dann wären Religion und Kunst überflüssig. Dann brauchte es kein Nachdenken und Nachsinnen, kein Nachspüren der ins Sein eingezeichneten Spuren eines Geheimnisses, das alles sinnlich Erscheinende transzendiert und doch darin zu finden ist. „Der Glaube ist in seiner allgemeinsten Grundstruktur nichts anderes als die Haltung, die in den Dingen selbst liegende ‚Botschaft‘ zu vernehmen; deshalb sieht der Gläubige mehr als nur der auf seine Alltagslogik Vertrauende.“
4 Kunst schafft Bilder des Lebens aus der Erfahrung der „Umkehr“
Kunst schafft Bilder des Lebens, der Welt im Ganzen wie im Einzelnen, ohne das Rätsel des Lebens zu lösen. Der Mensch bleibt, wie Blaise Pascal notiert hat, „sich selbst das rätselhafteste Ding der Natur“ (Gedanken, Nr. 35). Aber die Kunst kann und soll wie die Religion an eine Grenze führen, wo tiefere Einsichten gefunden werden und größere Zusammenhänge sich auftun.
Solche künstlerische Spurensuche und Spuren-sicherung im Hinblick auf gegenwärtige und sich für die Zukunft abzeichnende Chancen und Bedrohungen des Lebens lässt sich nicht produzieren wie technische Geräte. Die künstlerische Wahrnehmung bedarf dazu der kritischen Auseinandersetzung mit heutigen Sehkonventionen, dem Hergebrachten, Tabus und Klischees, und sie bedarf des Suchens nach neuen, unverbrauchten Ausdrucksformen, ja der Grenzerfahrung und sogar der „Inspiration“.
Die Religionen fordern zur Erfahrung des Göttlichen immer eine Herauslösung aus dem Gewohnten und Vertrauten und eine völlige Neuausrichtung des gesamten Lebens. Dies meint der biblische Begriff der „Umkehr“ (Metanoia), woran die Liturgie der Kirche am Beginn der österlichen Bußzeit mit dem Aschermittwoch erinnert, der nicht zufällig in den meisten deutschen Diözesen auch der Tag der Künstler ist. Denn auch am Anfang jeder Kunst steht ein neues Sehen, die Öffnung eines „inneren Auges“, eine radikale Veränderung der her-kömmlichen Wahrnehmung. Dies gerade hat die Kunst mit der Religion gemein-sam.
Bei dem amerikanischen jüdischen Philosophen und Theologen Abraham Joshua Heschel (1907-1972) heißt es dazu: „Wahrnehmung des Göttlichen beginnt mit Staunen. Es ist das Ergebnis dessen, was der Mensch aus einem höheren Nichtbegreifen macht. Das größte Hindernis für die Wahr-nehmung ist unsere Anpassung an konventionelle Begriffe, an geistige Klischees. Staunen oder radikales Sich-Wundern, der Zustand des Nicht-ange-passt-Seins an Worte und Begriffe ist darum Voraussetzung für echte Wahrnehmung des Seienden.“
Das Thema „Lebensspuren“ hat also einen weiten, aber nicht beliebigen Horizont. Es soll dabei auf genuin künstlerische Weise deutlich werden, was in der Frage des Lebensver-ständnisses insgesamt - zum Guten wie zum Schlechten - auf dem Spiel steht. Vielleicht ist die Kunst heute nicht mehr in der Lage, „ein Bild der Welt zu zeichnen, das uns Klarheit verschafft über unsere Stellung in ihr und mit ihr, sei es mit den Tieren, sei es mit den Dingen, sei es mit den transzendenten Mächten, die unser Schicksal bestimmen“, was nach Manfred Plate die „Mitte der Kunst“ ausmacht. Aber sie sollte uns doch helfen, uns selbst und unsere Welt tiefer zu verstehen, so zumindest, dass nicht der mit dem Schwund des Gottesbezugs überall drohende Nihilismus das letzte Wort hat. Das Leben bleibt auch in einer scheinbar wissenschaftlich entzauberten Welt ein wunderbares Geheimnis, dem auf der Spur zu sein sich allemal lohnt.