ZDK-Vollversammlung
Sehr geehrter Herr Professor Meyer, meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn von Leben, das Recht zum Leben verlorengegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehen.“ Mit diesen Worten beschrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche eine Thematik, die heute mehr denn je auf der aktuellen Tagesordnung steht. Durch die Gesetzgebung in den Niederlanden und Belgien und bestimmte Handhabungen in der Schweiz (Tötung auf Verlangen) schwappt auch die mit dem Thema Selbstbestimmung zusammenhängende Diskussion um die aktive Sterbehilfe in die deutsche Gesellschaft hinein. In den Medien war von einem Selbstmordkoffer in Australien und Selbstmordpillen in belgischen Apotheken zu lesen und nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben vom 17.9.03 sind 60% der Befragten für aktive Sterbehilfe!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir ist es zunächst wichtig, dass wir uns den größeren Kontext bewusst machen, in dem die Frage steht:
1. Sterben und Tod – Realität jeder menschlichen Existenz
In der gegenwärtigen Zeitsituation ist die Aufgabe, das medizinisch Leistbare, das juristisch Vertretbare und das ethisch Gebotene in einen Ausgleich zu bringen, ungleich schwieriger geworden. Der wachsende Fortschritt der medizinischen Möglichkeiten wirft Fragen auf, die sich früher so nicht gestellt haben.
So stellen wir fest, dass schon bei Gesunden, erst recht bei schwerkranken Patienten und ihren Angehörigen Ängste wachsen, die heute zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten könnten am Lebensende und bei bewusstlosen Schwerstkranken unkritisch eingesetzt werden und so möglicherweise das Leiden verlängern oder gar noch verstärken. Viele Menschen machen sich Sorgen über die letzte Phase ihres Lebens. Sie haben vielfach große Angst, schwer krank, behindert und damit pflegebedürftig zu werden. Diese tiefe Angst ist neben den Einschränkungen der Gesundheit, der Mobilität, der physischen, psychischen und geistigen Kräfte vor allem auch die Angst davor, in eine Abhängigkeit zu geraten, die als Entwürdigung und Entmündigung empfunden wird. Diese Ängste sind positiv gewendet Ausdruck einer Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Pflege, nach einer Pflege, die einen nicht alleine lässt in den schweren Stunden des Leidens und des Sterbens, die auf individuelle Bedürfnisse auch dann eingeht, wenn man abhängig ist von der Fürsorge anderer Menschen. Sie fragen sich: Wie wird es mit mir zu Ende gehen? Werde ich einmal zu Hause sterben können oder wird man mich ins Krankenhaus bringen? Werden dann Menschen bei mir sein, mir beistehen und Kraft geben? Werde ich unerträgliche Schmerzen haben? Oder nur noch ohne Bewusstsein vor mich hindämmern? So schwer solche Fragen sind: Es ist gut, ihnen nicht auszuweichen. Denn zum verantwortlichen Leben gehören auch das Bedenken des Todes und das Annehmen der eigenen Sterblichkeit. Dabei können wir zunächst also das schlichte Faktum festhalten, dass Sterben und Tod eine Realität jeder menschlichen Existenz sind. Es ist für uns alle gewiss, dass wir einmal sterben werden. Aber was bedeutet diese Gewissheit? Leben wir auch in dem Bewusstsein, dass wir einmal sterben werden?
2. Verdrängung des Todes – mangelnde Todeserfahrung heute
Der Kontakt mit Sterben und Tod wird heute so lange und so effizient wie möglich aus dem Leben ausgeschlossen. Da dies nicht wirklich gelingen kann, wird der Tod – ganz in der herrschend gewordenen Mentalität des Machens – zu etwas Handhabbarem gemacht, das der eigenen Verfügungsmacht unterstellt wird. Dabei wird alles, was an den Tod erinnert, weggeredet, weggeschminkt, weggespritzt, weggeschnitten. So zu wirken und auszusehen, dass niemand das wirkliche Alter vermutet, ist ein Ideal unserer Zeit und zugleich Ausdruck und Teil der Tabuisierung, der 'Exkommunikation' des Todes. Wir investieren unglaublich viel, um den Tod zu verdrängen. Aber verbirgt sich hinter dieser Art von Verdrängung des Todes nicht auch eine große Unsicherheit? Diese Unsicherheit hängt gewiss damit zusammen, dass uns zwar täglich in den elektronischen Medien unzählige wirkliche Leichen bzw. geschauspielerte Leichen vorgeführt werden, aber die tatsächliche hautnahe Erfahrung des Sterbens doch erheblich abgenommen hat. Noch vor einigen Jahrzehnten haben die meisten Menschen schon in ihrer Kindheit zumindest den Tod ihrer Großeltern unmittelbar erlebt. Diese Situation hat sich heute radikal verändert: Wir müssen den Mangel an persönlicher und praktischer Erfahrung im Umgang mit dem Sterben und mit toten Menschen in unser Nachdenken mit einbeziehen. Vor dem Hintergrund der Verdrängung des Todes einerseits und der mangelnden konkreten Todeserfahrung andererseits will ich im Folgenden einen Versuch der Annäherung an den Tod unternehmen. Denn es ist meine feste Überzeugung, dass wir als Gemeinschaft über das Sterben und den Tod nicht schweigen dürfen, wenn wir richtig leben wollen. Der Titel einer Ausstellung in Stuttgart, die sich vor einigen Jahren mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft beschäftigte, lautete folgerichtig und doppelsinnig ‚Lebe wohl’. Lebe wohl, der Blick richtet sich auf das rechte Leben, denn Sterben und Tod sind vielfach aus dem öffentlichen Blickfeld der Menschen entschwunden. Aber dann heißt ‚Lebe wohl’ eben auch, mit dem Blick auf die eigene Endlichkeit, mit dem Bewusstsein von Sterben und Tod als dem sichersten Datum im eigenen Leben auch und anders leben zu lernen. Im Mittelalter gehörte daher das ‚carpe diem’ als konsequente Kehrseite zum ‚memento mori’ dazu. Zugespitzt könnte man wohl sagen, dass alles darum geht, durch Sterben und Tod zu lernen, wie sich wohl leben lässt.
3. Der Tod als Geheimnis
Ist das Sterben ein Prozess, der im Regelfall verschiedene Phasen im wahrsten Sinne des Wortes durchlebt, so ist insbesondere der Tod gekennzeichnet durch seine Endgültigkeit. Es ist der Zustand des menschlichen Organismus nach der Beendigung des Lebens. Es gibt nichts mehr, was noch zu tun oder später noch zu erleben wäre. Das Ganze des Lebens mit all seinen Höhen und Niederungen, mit seinem Elend und seiner Größe wird ohne Abstriche vom Tod verschlungen. Die Endgültigkeit des Todes und die damit verbundene Unwiederbringlichkeit des irdischen menschlichen Lebens weist bereits auf das Geheimnishafte des Todes hin. Karl Rahner hat dies so ausgedrückt, indem er sagte: "Der Tod birgt notwendig alle Geheimnisse des Menschen auch in sich selbst. Er ist der Punkt, wo der Mensch sich am radikalsten zur Frage wird." Und in der Formulierung des Konzils heißt es in Gaudium et Spes Nr. 18: "Angesichts des Todes wird das Rätsel des menschlichen Daseins am größten."
Im Angesicht des Todes stellen sich also die existenziellen Fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehe ich? So wird der Tod zur Frage nach der Lebenseinstellung. Ist er das Ende oder Abschied und Vollendung oder gar Weg zu Gott? Und niemand soll hier glauben, Christen hätten es da von vornherein einfacher: Gerade weil wir als Christen die Hoffnung auf das Geschenk eines letzten Glückens, auf endgültiges Heil haben, stellen sich diese Fragen verschärft. An dieser Stelle ist über das spezifisch christliche Verständnis von Sterben und Tod nachzudenken und dabei ganz grundsätzlich anzusetzen.
4. Die Würde des Menschen – christlich verstanden
Als Christen glauben wir: Alles menschliche Leben, jede Phase des Lebens ist Geschenk Gottes – und nicht eigenes Produkt. Von daher gibt es deutliche und grundsätzliche Grenzen der ‚Machbarkeit’. Wir selbst sind nicht Produkt unserer eigenen schöpferischen Tätigkeit, wir sind auch nicht einfach blindes Produkt blind ablaufender Naturprozesse, die uns determinieren. Wir sind nicht Ergebnisse von Zufall oder Notwendigkeit. Wir sind überzeugt, dass wir Geschöpfe Gottes sind und dass wir in unserer Singularität von Gott geschaffen wurden nach seinem Ebenbild. Aus dieser Gottesebenbildlichkeit ergibt sich eine Würde, die nicht aufgeht in dem, was wir leisten und machen können. Aus der Gottesebenbildlichkeit ist das, was unsere modernen Verfassungen Menschenwürde nennen, abgeleitet und aufgegeben. Diese theologische Begründung der Menschenwürde hängt eng zusammen mit dem theologischen Verständnis der menschlichen Person. Person ist mehr als Individuum. Der Mensch steht in Beziehung zu dem, was nicht er selbst ist. Er kommt am Du, durch Mitmenschen zu sich selbst und seine Endlichkeit weist ihn über sich selbst hinaus auf seinen Ursprung, auf Gott. Nach unserem Verständnis ist er nur vom schöpferischen Willen Gottes her als Individuum voll zu verstehen. Nach dem biblischen Bericht hat Gott den Menschen geschaffen als sein "Abbild", d. h. der Mensch ist der von Gott Berufene und zur Antwort Befähigte. Dieses Ja Gottes zu jedem Menschen schenkt ihm seine unverwechselbare Einmaligkeit als Person. Darin liegt der letzte Grund seiner Würde. Und diese Würde ist gekennzeichnet durch Freiheit und Selbstbestimmung, durch sozialen Bezug sowie durch Verwiesenheit auf das Absolute, auf Gott selbst.
5. Die christliche Unsterblichkeitshoffnung – die Endlichkeit annehmen
Ein solches Würdeverständnis, gekennzeichnet durch Freiheit und Beziehung, weist auch den Weg zur Unsterblichkeitshoffnung der Gläubigen. Im Psalm 73 beispielweise wird die Gewissheit, in der Gemeinschaft und in der Liebe Gottes zu stehen, über den Tod hinaus ausgeweitet: "Ich aber bleibe stets bei dir, du hältst mich an deiner Rechten, du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit. Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts mehr auf Erden. Mögen auch Fleisch und Herz mir verschmachten, Fels meines Herzens und Anteil bleibt Gott mir auf ewig." Paulus fokussiert diesen Gedanken auf Jesus Christus: "Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn" (Röm 14,8). Leben ist Gemeinschaft mit Jesus Christus. Im Römerbrief 8, 38ff heißt es: "Denn ich bin gewiss, weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn."
6. Wider die Verdrängung des Todes – vom Erfahrungswissen der kirchlichen Liturgie
Diese Unsterblichkeitshoffnung des gläubigen Menschen nimmt nicht die Bitternis des Todes, auch gläubige Menschen sterben grausame Tode. Sie verändert aber den Blickwinkel: Sie nimmt den Tod ernst, sie verdrängt ihn nicht, sie sagt vielmehr Ja zur Endlichkeit, die im Tod in existenzieller Weise zum Ausdruck kommt.
Es liegt ein tiefes Erfahrungswissen in der Tatsache, dass die kirchliche Liturgie in so ausgeprägter Weise das Gedenken des Todes vollzieht: In jeder Eucharistie vergegenwärtigen wir erinnernd Tod und Auferstehung Jesu Christi. Wir beginnen die Fastenzeit mit dem Zuspruch "Mensch gedenke, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst." Auf den Karfreitag folgt die Grabesruhe des Karsamstag. Der Glaube, dass das Pilgern des Menschen auch nach dem Tod noch einen sozialen Charakter hat, zeigt sich z. B. in den Festen Allerheiligen und Allerseelen. Und nicht zuletzt sei an die Sterberituale erinnert, die den Angehörigen die Möglichkeit geben, gemeinschaftlich in einer vorgegebenen Form Abschied zu nehmen und Trost im Glauben zu finden.
7. Ethische Konsequenz des Würdebegriffs – Die notwendige Unterscheidung zwischen Tötung und Sterbenlassen
Kehren wir aber noch einmal zurück zum Begriff der Würde des Menschen mit seinen Kennzeichnungen Freiheit und Selbstbestimmung sowie soziale Beziehungen und Verwiesenheit auf Gott. Für die derzeitigen politischen Auseinandersetzungen um Sterbehilfe hat das nämlich ganz konkrete Auswirkungen. Der Arzt und die Pflegenden müssen alles tun, was sie können, um einen Menschen zu heilen. Sie müssen aber nicht alles tun, was sie können, um den vom Krankheitsprozess endgültig vorgegebenen Tod hinauszuzögern. Dieser Grundsatz ist wichtig. Der qualitative ethische Unterschied zwischen Tötung und Sterbenlassen darf nicht eingeebnet oder gefährdet werden. Entscheidend ist der Verzicht auf eine Verfügung über menschliches Leben und über "Art" und Zeitpunkt des Sterbens. Gäbe es eine Freigabe der Euthanasie, so kämen mindestens drei verheerende Folgen auf uns zu:
a. Zerstörung des Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnisses
"Grundlage des Vertrauensverhältnisses von Arzt und Patient ist seit jeher der ärztliche Auftrag, menschlichem Leben nicht zu schaden, sondern es zu erhalten und zu fördern. Dieses Vertrauensverhältnis wird erheblich gefährdet, wenn der Arzt dem Patienten nicht mehr allein als Heilender und Helfender, sondern ebenso als Tötender begegnet," so die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Wort mit der EKD aus dem Jahr 2003 "Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe".
b. Für den Schwerstkranken entsteht das Problem, "ob er seiner Umgebung die Last seiner Pflege weiter zumuten darf. Dies kann den Kranken auf eine geradezu unerträgliche Weise unter Druck setzen und dazu führen, dass er gegen seinen Willen 'Ja' sagt zur Beendigung seines Lebens," so im gerade zitierten Text der Bischofskonferenz und der EKD.
c. Der Hippokratische Eid der Ärzte
Das Jahrtausende alte ärztliche Ethos hat nicht die Tötung von Patienten zum Inhalt, sondern dass der Arzt ihnen nicht schadet, ihre Schmerzen lindert und ihrem Wohl verpflichtet ist. Das in unserer europäischen Kultur mit ihren vielen Wurzeln und Facetten kontinuierlich durchgehaltene Ethos hat trotz oder gerade wegen der entsetzlichen Widersprüche dazu in unmenschlichen Systemen zunehmend weltweit seinen Niederschlag gefunden.
Es ist kein Zeichen von Humanität, wenn wir Menschen wie ausgediente Maschinen aus dem Verkehr ziehen, wie überholte technische Geräte ausmustern, auf einen Schrottplatz abschieben und sie dann kostengünstig und ‚sozialverträglich’ entsorgen und durch Leistungsstärkere ersetzen. Aus christlicher Überzeugung ist entschiedener Widerspruch gegen diese Nützlichkeitsideologie angebracht. Gegen die Berechnung von Menschenwert in Kategorien der Brauchbarkeit und Kostennutzenkalkulationen setzen wir das christliche Bild vom Menschen als Ebenbild Gottes in jeder Phase seines Lebens.
Und zum menschlichen Leben gehören die Phasen des Alterns, auch des Krankseins und der Gebrechlichkeit. Menschen sind nicht nur dann Menschen, wenn sie stark, schön, leistungsfähig und sozialverträglich sind. Menschen, die schwach, vielleicht unansehnlich sind, sind genauso Menschen. Sonst ergäben sich in unserer Gesellschaft nicht nur faktisch, sondern durch das Sein des Menschen programmiert, bessere und schlechtere, höhere und niedrigere Menschen mit allen Konsequenzen.
8. Sterbebegleitung statt Sterbehilfe
Kehren wir nochmals zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, dass viele Menschen im Angesicht der sogenannten Apparate-Medizin von großen Ängsten geplagt werden. Schauen wir aber genauer hin, so ist wohl nicht der Einsatz der technischen Mittel als solches ein Problem. Der entscheidende Punkt ist das Verblassen der persönlichen Beziehungen und die Sprachlosigkeit in der apparativen Medizin. Deswegen liegt in dem oben skizzierten Begriff der Menschenwürde, gekennzeichnet durch Freiheit einerseits und sozialen Bezug andererseits, schon der Kern der Antwort auf die heutige Herausforderung. Der Kranke bzw. der Sterbende kann sich nicht vertreten lassen. Aus dem Wesen des Menschen als Person ergibt sich notwendig, dass der Mensch das Sterben durchleben muss. Wohl aber gehört dazu, dass Menschen ihn auf diesem Weg begleiten. Die menschenwürdige Antwort auf das Geheimnis des Todes ist deshalb nicht das Töten auf Verlangen, sondern eine angemessene Sterbebegleitung. Ich versuche den entscheidenden Gegensatz immer durch die Formulierung auszudrücken: Es geht darum, an der Hand eines anderen sterben zu dürfen – und nicht durch die Hand eines anderen.
Ethische Normen im Zusammenhang der Sterbehilfe sind nicht Selbstzwecke, sondern tragen eine Selbstverpflichtung in sich, der wir uns stellen wollen und stellen müssen. Aber ethische Normen haben auch einen Mehrwert und dieser Mehrwert heißt Humanität. Dabei ist es wichtig, dass wir vor dem Hintergrund unserer grundsätzlichen ethischen Optionen auch immer möglichst konkret deutlich machen, wie denn sinnvolle und menschenfreundliche Alternativen aussehen können. Hier möchte ich vor allem auch auf die Schmerztherapie und Palliativmedizin hinweisen. Die Palliativmedizin sucht nicht so sehr nach Wegen passiver Sterbehilfe, als vielmehr nach besserer, aktiver (personaler und medikamentöser) Begleitung beim Sterben. Wo die Grenzen der kurativen Medizin erreicht sind, sind damit ja nicht die medizinischen Möglichkeiten an ihre Grenzen gekommen. Ein umfassender Ansatz bezieht hier die palliative Medizin mit ein, die sich besonders der Schmerztherapie und der Linderung anderer Symptome (Luftnot, Übelkeit, Erbrechen) widmet.
Darüber hinaus beinhaltet sie auch die psychosozialen und spirituellen Aspekte der Verarbeitung der Krankheit bei Patienten und Angehörigen.
Es ist mir an dieser Stelle wichtig, auf ein konkretes Beispiel hinzuweisen. Denn gewissermaßen als Gegengewicht zur fortschreitenden Tabuisierung und Anonymisierung des Sterbens begann sich die sogenannte Hospizbewegung zu formieren: Menschen sollten nicht einsam oder allein sterben müssen, sondern – wenn sie es so wünschten – in Gemeinschaft von Menschen, die bereit und befähigt sind, sie durch menschlichen Beistand über die Schwelle des Todes zu begleiten. Als Kirche müssen wir die ethischen Maßstäbe, die wir setzen und setzen müssen, auch selbst vorbildhaft und zeichenhaft verwirklichen. Wir müssen zeigen, dass die ethische Grund-Orientierung der Kirchen, des christlichen Glaubens, wirklich ein Mehr an Humanität für die betroffenen Personen und die Gesellschaft insgesamt bedeuten. Wir werden daher z. B. in meiner Diözese Rottenburg-Stuttgart die Anstrengungen im Bereich der Palliativ- und Hospizarbeit noch verstärken. Bereits jetzt gibt es schon drei kirchliche Hospize in der Diözese, ein weiteres ist im Bau. Bei anderen Hospizen besteht eine Mitträgerschaft.
Für uns als Kirche gilt dieses Annehmen und Unterstützen nicht nur für die Hilfesuchenden, für die Pflegebedürftigen, sondern auch und gerade für die Helferinnen und Helfer in der Pflege. Wir müssen uns verstärkt auch um die Ärztinnen und Ärzte und um das Pflegepersonal in den Krankenhäusern kümmern und dürfen sie in ihren schwierigen Entscheidungen und in ihrem aufreibenden Dienst nicht allein lassen. Unser Blick richtet sich aber auch auf die Lebenssituation der pflegenden Angehörigen, die tagtäglich der Sorge um ihr Familienmitglied ausgesetzt sind. Oft verausgaben sich die pflegenden Angehörigen bis zur körperlichen und psychischen Erschöpfung. Und da kaum Zeit für das eigene Leben bleibt, sind sie sozial isoliert. Es sind fast immer die Frauen, von denen erwartet wird, dass sie für die Kranken und Hilfebedürftigen sorgen. Dies geschieht nicht selten zusätzlich zur eigenen Berufstätigkeit. Pflegende Angehörige brauchen die Unterstützung der Gesellschaft, von uns allen, und dies bedeutet vor allem konkrete Entlastungsmöglichkeiten wie zum Beispiel:
- Gesprächskreise für pflegende Angehörige mit dem gleichzeitigen Angebot, während des Treffens den Pflegebedürftigen zu Haus zu betreuen
- Kurse für häusliche Pflege und jederzeit zugängliche individuelle Beratung bei Fragen der Pflege
- Stundenweise Betreuung des Pflegebedürftigen, damit der pflegende Angehörige sich um sich selbst kümmern kann
- Freizeiten und Urlaubsmöglichkeiten für Pflegebedürftige und deren Angehörigen organisieren
- Angebote für dementiell Erkrankte, die zu Hause betreut werden
Diese Beispiele mögen zeigen, dass wir die Sterbebegleitung nicht allein an die professionellen Kräfte delegieren dürfen, sondern dass hier für Gemeinden und Verbände, aber auch für jeden einzelnen Christen Aufgaben liegen. Und wenn wir uns diesen Aufgaben stellen, helfen wir nicht nur den Betroffenen in ihrer schwierigen Lebenssituation, sondern tragen mit dazu bei, dass Sterben und Tod wieder mehr in die Aufmerksamkeit der Gesellschaft rücken.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Hinweis geben zu den Auseinandersetzungen um die rechtliche Verankerung von Patientenverfügungen: Ich bin sehr dankbar dafür, mit welcher Sachkenntnis sowie ethischer und politischer Verantwortung diese schwierige Thematik im ZdK bearbeitet wird. Besonders wichtig ist mir die Feststellung, dass Patientenverfügungen für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens eines Patienten sehr beachtlich sind, dass sie jedoch kein ausdrücklicher Ersatz für den aktuellen, nicht mehr feststellbaren Willen sind und nicht einfach im Sinne eines Automatismus umgesetzt werden dürfen. Dies ist deshalb bedeutsam, weil ich von Seelsorgern in der Sterbebegleitung darum weiß, wie wichtig es gerade in der Sterbephase ist, Entwicklungen zuzulassen. Oft kommt es zu nicht vorhersehbaren Versöhnungen zwischen Ehepartnern oder zwischen Eltern und Kindern. Hier zeigt sich, dass Sterben wirklich zum Leben gehört und in Verantwortung vor Gott geschieht. Deshalb gilt es, diesen Prozess des Sterbens zu gestalten und zu nutzen, nicht aber ihn nur als Übel zu begreifen und deshalb möglichst schnell abzubrechen. So verstanden sprechen wir von Sterben in Würde und Verantwortung vor Gott.