Bischof Dr. Gebhard Fürst und Erzbischof Dr. Robert Zollitsch: beide katholische Bischöfe in Baden-Württemberg 2004

    Freiburg / Rottenburg
  1. Der Staat muss als Heimstatt aller Bürgerinnen und Bürger in Fragen der religiösen Überzeugungen Neutralität wahren. Diese religiös-weltanschauliche Neutralität bedeutet aber nicht Gleichgültigkeit im Hinblick auf die Ansprüche und Auswirkungen von Religionen und Weltanschauungen im öffentlich-politischen Raum. Das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in unserem Land wird auch durch religiöse, insbesondere christliche Anschauungen und Traditionen geprägt, die zu allgemeinen (Verfassungs-)Wertvorstellungen und kulturellen Überzeugungen geworden sind. Dazu gehören insbesondere die Überzeugung von der unantastbaren Würde jedes einzelnen, der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, der rechtlichen Selbständigkeit von Staat und Kirche sowie das Recht auf freie Religionsausübung. Diese Wertvorstellungen und Überzeugungen sind für unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung substanziell; Staatsbeamte, insbesondere Lehrerinnen und Lehrer in öffentlichen Schulen, haben von ihrem Erziehungsauftrag her für diese einzutreten. Wenn der Staat nach einem vielzitierten Wort des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, dann bedürfen diese auch des Schutzes und der Pflege.
  2. Lehrkräften in öffentlichen Schulen sind im Sinn der staatlichen Neutralitätspflicht Zurückhaltung, Mäßigung und Diskretion bei der öffentlichen Äußerung ihres religiösen Bekenntnisses auferlegt. Ihren religiösen Überzeugungen sind auch Grenzen gesetzt durch das Erziehungsrecht der Eltern und das Recht der - positiven wie negativen - Religionsfreiheit der Schüler. Dabei ist besonders auch an jene muslimischen Schülerinnen und Eltern zu denken, die das Tragen eines Kopftuchs nicht praktizieren und auch nicht praktizieren möchten, was nach Ansicht von Fachleuten den größten Teil der Muslime in Deutschland ausmacht. Das Tragen eines Kopftuchs beim Unterricht kann als subjektiver Ausdruck des persönlichen Glaubens verstanden werden, aber auch als fragwürdige politische Botschaft, die ein Menschen- und Frauenbild propagiert, das mit den Verfassungswerten unvereinbar ist. Es weckt daher Zweifel hinsichtlich der inneren Bereitschaft, für grundlegende Verfassungswerte des Grundgesetzes einzutreten.
  3. Diese Zweifel wiegen um so schwerer, als die Passagen des Korans, die von islamischen Gelehrten bis heute zur Begründung einer Verpflichtung der moslemischen Frau zu einer bestimmten Art der Kleidung herangezogen werden, umstritten sind. So hat sich etwa der Ägypter Qasim Amin bereits vor rund 100 Jahren in seinem Buch „Die Befreiung der Frau“ gegen die Behauptung gewandt, dass der Koran eine spezifische Kleidung für Frauen vorschreibt. Der ägyptische Islamist Issam al-Aryam hingegen propagiert das „islamische Kopftuch“ seit 1980 als „Zeichen des Widerstands gegen die westliche Zivilisation“ und als Beginn der strengen Befolgung der Regeln des Islam. Die so von Islamisten propagierte „islamische Kleiderordnung“ wird als Zeichen für eine kulturelle Abgrenzung eingesetzt und zielt auf die Durchsetzung ihrer religiös untermauerten Vorstellungen von „Ehre“, Unterordnung der Frau und Wiedereinführung des islamischen Rechts, das heißt auf eine Islamisierung nichtmuslimischer Gesellschaften. In diesem Sinn wird das Kopftuch politisch instrumentalisiert. Davor darf weder der deutsche Gesetzgeber noch die muslimische Lehrerin, die ein Kopftuch als Ausdruck ihrer religiösen Identität trägt, die Augen verschließen. Der Streit um das Kopftuch wird gerade deshalb so emotional und heftig geführt, weil es in seiner symbolischen Mehrdeutigkeit im Kontext der Schule - gewollt oder ungewollt - provoziert.
  4. Das nach traditionell islamischer Vorstellung geoffenbarte Recht (der Scharia) gehört zum Kernbereich des Islam. In einer Reihe von säkular verfassten, islamisch geprägten Staaten hat es im Zuge von Re-Islamisierungstendenzen in Teilbereichen der Rechtssprechung nach und nach wieder Geltung erlangt. Für die islamistische Interpretation der Scharia gibt es die Trennung von Staat und Religion im westlichen Sinne nicht, und sie lässt auch keine Religionsfreiheit im umfassenden Sinne zu. Ebenso gibt es im islamischen Ehe-, Familien- und Erbrecht keine Gleichstellung von Mann und Frau sowie keine Selbstbestimmung der Frau im westlichen Sinn.
  5. Für das friedliche Zusammenleben in unserer Demokratie ist die Gleichbehandlung aller Religionen und eine tolerante Grundhaltung von höchster Bedeutung. Eine Gleichbehandlung erfordert aber gerade nicht, wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 24. September 2003 einräumt, eine von der konkreten Geschichte und Kultur abstrahierende Gleichsetzung von „Kopftuch“ und „Kutte“ bzw. Ordenstracht. Priesterkleidung und Ordenstracht sind eine auch strafrechtlich geschützte Amtskleidung. Eine Ordenstracht stellt zudem eine Selbstverpflichtung dar, die etwa eine Ordensfrau durch ihr freiwilliges Gelübde eingeht und die daher für andere Frauen oder Schülerinnen keinerlei normativen Charakter haben kann. Erst recht lässt sich das Kopftuch nicht mit dem Kreuz vergleichen, das für Christen die Mitte ihres Glaubens symbolisiert und für Nächstenliebe und die Wahrung der Menschenwürde steht. Dagegen bleibt das auch aus religiösen Gründen getragene Kopftuch ein Kleidungsstück, das - so das Bundesverfassungsgericht - „nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol ist“. In unserem Land kann es nicht wie in Frankreich um einen generellen Ausschluss des muslimischen Kopftuchs aus der Schule gehen. Wohl aber kann der Dienstgeber verlangen, im Unterricht auf das Setzen eines Zeichens zu verzichten, das auch zur Propagierung eines mit den Verfassungswerten unvereinbaren Menschen- und Frauenbildes gebraucht wird.
  6. Da das Tragen eines muslimischen Kopftuches im Unterricht eine mehrdeutige und zweifelhafte Signalwirkung hat, begrüßen wir die Intention des Gesetzentwurfes der Landesregierung von Baden-Württemberg, den vom Verfassungsgericht eröffneten Weg zur rechtlichen Klärung der strittigen Frage zu beschreiten. Eine solche Regelung soll eine gelingende Integration unterstützen und zugleich verhindern, dass Muslime, die die Verfassungswerte anerkennen, in die Arme von Islamisten getrieben werden. Wir weisen dabei ausdrücklich darauf hin, dass der Islam nicht mit dem Islamismus gleich gesetzt werden darf. Alle Beteiligten, das heißt auch der Staat, die Kirchen, die Muslime und die Gesellschaft insgesamt, müssen ihre Integrationsbemühungen verstärken. Solange aber unklar ist, welches Islamverständnis sich in Deutschland und in der Welt längerfristig als Mehrheitsorientierung durchsetzt, erscheint es geboten, einem möglichen Missbrauch durch ein Verbot zu wehren.

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