Bischof Dr. Gebhard Fürst: Vortrag bei Jahresempfang der CDA Baden-Württemberg 2009

Stuttgart

Sehr geehrter Herr Dr. Bäumler, sehr geehrter Herr Simm!

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Hillebrand, sehr geehrter Herr Bundestagsabgeordneter Grübel, sehr geehrte Damen und Herren!

Wer in diesen Tagen eine Rede zu halten hat, kann dem nicht ausweichen, was die ganze Welt derzeit in Atem hält: die Krise der internationalen Finanzmärkte und die damit zusammenhängenden kritischen Entwicklungen in der globalisierten Wirtschaft weltweit und auch in unserem Land. Auch ich werde dieser Situation, in die wir hineingeraten sind, nicht ausweichen. Aber ich möchte auch andere Probleme, die mir wichtig sind, nicht vernachlässigen. In der globalisierten Welt stellt sich vor dem Hintergrund der von mir benannten Probleme und Entwicklungen unabweisbar die Frage, von welchen Menschen- und Gottesbildern und - damit aufs engste verknüpft - von welchen Grundvorstellungen und Grundorientierungen wir uns in der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens leiten lassen wollen.

I. Unsere Gesellschaft und ihre Voraussetzungen

Der Geist einer Demokratie und damit des Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft werden wesentlich geprägt durch das Selbstverständnis der darin lebenden Menschen: Freiheit des Einzelnen und (politische) Gleichheit vor dem Gesetz sind unabdingbare Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens. Wie jedoch Freiheit verstanden und gelebt und wie die politische Gleichheit verwirklicht wird, ist zwar auch, aber längst nicht nur eine Frage rechtlich-struktureller Rahmenbedingungen.

Sie ist zunächst eine Frage menschlichen Selbstverständnisses und menschlicher Selbst verwirklichung und somit eine zutiefst ethische Frage. Ebenso ist der Stellenwert, den Eigenverantwortung und Solidarität, Gerechtigkeit und Gemeinsinn, Ehrfurcht und Respekt in einer Gesellschaft haben, abhängig vom Bild, das die Menschen von sich und ihren Mitmenschen in sich tragen. Ob die Menschen von Angst oder Hoffnung bestimmt sind, wonach sie sich sehnen, wo sie ihr Glück und ihr Heil suchen, welchen Sinn sie in ihrem Leben finden oder nicht finden, bestimmt maßgeblich das Leben und den Geist einer Gesellschaft, eines Staates. Es bestimmt die Bereitschaft, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, sich für andere solidarisch einzusetzen, Anteil zu nehmen am Schicksal der Mitmenschen, Gesellschaft mit zu gestalten – oder eben nicht. Das Bild vom Menschen und die daraus sich ableitenden Grundhaltungen und Werte entscheiden über den Respekt vor der unantastbaren Würde und Unverfügbarkeit eines jeden Mitmenschen, ob geboren oder ungeboren, ob behindert oder unbehindert, ob bei Kräften oder völlig angewiesen auf andere.

Auch hier zeigt sich die Tragweite des berühmten Satzes von Ernst-Wolfgang Böcke nförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Aber da der Staat ‚von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann’ , die er aber braucht, um zu leben, bedürfen diese doch des aktiven Schutzes und der Pflege von uns allen. Das Grundgesetz gibt dem Staat und seinen Organen keine vollständige weltanschauliche Neutralität auf. Vielmehr konstituiert es eine wertgebundene Ordnung für Staat und Gesellschaft, indem es die Menschenwürde als unantastbaren Grundwert festlegt, auf ihm die Grundrechtsordnung, Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie als Rückgrat des gesamten Staatswesens aufbaut und ihn [über die Artikel 1, 20 und 79 Abs. 3 GG] sogar vor Verfassungsänderungen absichert.

Zu fragen ist also mithin: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Wovon lassen wir uns leiten? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welche Werte bestimmen unser Denken und Handeln? Ich sage bewusst: Was ist uns heilig? Was ist unantastbar, gewissermaßen tabu? Was kann in demokratischen Entscheidungsprozessen zur Disposition gestellt werden, was nicht?

Selbstverständlich: Der Wertepluralismus ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften. Der demokratische Staat ist weltanschaulich neutral und ermöglicht es jedem, seine Wertvorstellungen zu leben. Das Bekenntnis zur Demokratie ist Verzicht auf den Totalkonsens. Gleichwohl gilt: Demokratie ist keine bloße Mehrheitsgesellschaft. Der Staat ist nicht nur Notar von Mehrheitsmeinungen. Weltanschauliche Neutralität ist nicht identisch mit Wertneutralität. Die im demokratischen Staat garantierten Grundrechte entspringen Grundwerten, letztlich dem einen Grundwert der Person, einem Wert, demgegenüber der Staat niemals neutral sein darf, den er vielmehr unbedingt schützen muss. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt dieser Überzeugung in der Prä ambel Ausdruck.

Unbestritten hat die Prägung unserer Gesellschaft durch den christlichen Glauben an Selbstverständlichkeit eingebüßt. Die Landschaft der Religionen und Weltanschauungen hat sich gewandelt und ist pluraler geworden. Der christliche Glaube in seiner überlieferten Form hat vieles von seiner gesellschaftsprägenden Kraft verloren. Umso wichtiger ist gerade heute die geistige Auseinandersetzung um die unsere Gesellschaft und unser demokratisches Gemeinwesen tragenden Werte und die Rückbesinnung auf deren Wurzeln. Bei diesem unumgehbaren Dialog sind die Kirchen auch zukünftig wichtige Gesprächspartner und mehr noch unverzichtbare Instanzen. Ich versuche dies zu konkretisieren anhand verschiedener Beispiele, die besonders auch Ihnen als CDA am Herzen liegen:

Die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität entspringen dem Prinzip der Personalität, dem gemäß Freiheit und Würde der Person schlechthin grundlegend sind. Als Person ist der Mensch einzigartig, individuell, zugleich aber konstitutiv auf gesellschaftli ches Miteinander angelegt. Wir brauchen eine Politik personaler Freiheit, Verantwortung und Solidarität, eine Politik, in der Freiheit und Verantwortung keine von der Person unabhängige Größen sind. Wenn Solidarität einseitig an anonyme, apersonale Sozialsysteme delegiert wird, führt dies auf die Dauer zu einer Entsolidarisierung.

Das Subsidiaritätsprinzip und das Solidaritätsprinzip ergänzen sich. Beide dienen der Entfaltung der menschlichen Person. Das Subsidiaritätsprinzip fordert den Vorrang der kleineren Einheiten vor dem Zugriff der größeren. Es fordert aber auch die Unterstützung dieser kleineren Einheiten, wenn sie ihre Aufgaben nicht selbst bewältigen können. Daher muss Politik sicherstellen, dass kleinere Einheiten das leisten können, was sie leisten sollen. Drei Konkretisierungen hierzu:

Ehe und Familie. Der Familie erwachsen die Kinder, die die Zukunft unserer Gesellschaft sind. Hier entfalten sie ihre Persönlichkeit, hier werden soziale Verantwortung und Solidarität eingeübt. Belastungen für die Familie, Erschwerungen ihres Lebensalltags und Beschränkungen der Entfaltungschancen treffen in besonderer Weise die Kinder. Den in der Verfassung garantierten Schutz von Ehe und Familie als kleinste Zelle in der Gesellschaft verstehe ich hier also auch als einen Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips. Angesichts der demografischen Entwicklung ist die Förderung der Familie zwar in aller Munde. Doch Familienpolitik ist mehr als Subventionspolitik. Sie muss als Querschnittspolitik, die alle politische Ressorts betrifft, betrieben werden. Denn die Familien werden strukturell benachteiligt. Mehr noch: Sie werden mentalitätsmäßig benachteiligt, insofern Familienarbeit zu wenig wertgeschätzt wird.

Und sie werden durch eine verfehlte Abgabenpolitik benachteiligt. Trotz ständig gestiegener Transferleistungen hat sich real die materielle Lage der Familien seit 1961 kontinuierlich verschlechtert. Auf diese Weise wird den Familien die Wahrnehmung von Eigenverantwortung erschwert.

Wohlfahrtsorganisationen. Die Wohlfahrtsorganisationen leisten im Sinne des Subsidiaritätsprinzips unverzichtbare Beiträge zu einer Kultur der Solidarität. Angesichts der sichtbar gewordenen Grenzen des Sozialstaats werden diese Organisationen an Bedeutung gewinnen. Besinnung auf das Subsidiaritätsprinzip darf aber nicht heißen, an diese Organisationen einfach Aufgaben abzuwälzen und möglicherweise zugleich Mittel zu streichen, ohne sich mit diesen partnerschaftlich über geeignete Rahmenbedingungen zu verständigen. Wir brauchen einen Staat, der Bürgerschaftliches Engagement nicht nur als Lückenfüller versteht angesichts leerer Kassen, einen Staat, der Beteilung und Integration nicht einfach den Gesetzen des Wettbewerbs und der partikularen Interessen überlässt, der sich auch zum Anwalt derer macht, für die sich keiner einsetzt, aber auch zum Anwalt derer, die sich für die Schwachen einsetzen.

Die Rolle der Wirtschaft. Zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips gehört die Förderung von Eigenverantwortung, von Unternehmergeist und Risikobereitschaft. Es ist selbstverständlich, dass Wirtschaft Gewinne erzielen muss. Doch hat die Wirtschaft auch eine soziale Verantwortung, aus der sie nicht entlassen werden darf. Eine der großen Herausforderungen an den Staat ist es, unter den Bedingungen der Internationalisierung von Wirtschaftsprozessen dafür Sorge zu tragen, dass die Wirtschaft nicht einerseits die durch das Gemeinwesen bereit gestellte Infrastruktur unseres Landes nutzt, ohne ihren Beitrag zu leisten, dass diese zukunftsfähig weiterentw ickelt werden kann.

Und damit bin ich nach diesen eher allgemeinen und programmatischen Überlegungen bei meiner Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise:

II. Die Finanzkrise als Folge fundamentaler Mentalitätsveränderungen

Es scheint fast so, als wären die tagesaktuellen Ereignisse der vergangenen Wochen die drastische und bedrückende Grundlage Illustration der Antwort auf die Frage zu sein, ob denn Wirtschaft und Finanzwelt, ja unsere Gesellschaft insgesamt dabei ist, Ethik, M oral und selbstverständliche Werte völlig zu vergessen? Die Ausmaße der Bankenkrise, über die wir nahezu täglich neu informiert werden, sind längst noch nicht abzusehen. Was für mich neben dem akuten finanziellen Schaden noch weit wichtiger ist: So wird das Vertrauen in eine gesamte Gesellschaftsordnung zerstört. Schon seit Jahren fordert die katholische Kirche ethisches Verhalten in den Unternehmen, zu denen auch die Banken gehören. Denn wir nehmen einen massiven Werteverlust wahr und sehen herausragende Personen, die ihre Verantwortung vernachlässigen und in ihrer Glaubwür digkeit erschüttert sind. Die modernen Gesellschaften neigen dazu, die Bindungen und Selbstbindungen ihrer Mitglieder zu lockern oder unter dem Postulat der Individualität und Freiheit aufzulösen. Eine Gesellschaft aber löst sich ohne die sozialen Selbstverpflichtungen ihrer Mitglieder rasch auf. Die realen Folgen mangelnder Selbstverpflichtung aber stellen wir gegenwärtig nahezu täglich fest. Kapitaleigner, mit deren Namen wir ein solches Verhalten vor einem Jahr noch kaum in Verbindung gebracht hätten, verspekulierten sich an der Börse; sie gefährden damit ihre Unternehmen und, vor allem das, die Arbeitsplätze von Menschen.

In verantwortungsloser Weise riskierten Banker und Manager weltweit agierender Institute und Konzerne mit Milliarden und verspielten sie schließlich unwiederbringlich.

Dies ging auch dies zu Lasten vieler kleiner Gläubiger, von Angestellten, von Kunden, letztlich von allen Bürgern. Wer hätte vor einem Jahr zu sagen gewagt, dass ein Mann wie Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann eines Tages einräumen würde, dass der Markt sich nicht selber korrigiere und heile. Er sei in der Hinsicht ‚vom Saulus zum Paulus geworden’ und müsse nun zugeben, ja er fordere sogar selbst dass die Weltwirtschaft Regulative brauche. Eine Lehre für teures Lehrgeld, das freilich zum geringsten Teil die Verursacher der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise zahlen müssen und können. Es sieht so aus, als ob der in der katholischen Soziallehre verankerte Wert der Solidarität (wieder) salonfähig wird, auch in Finanz- und Wirtschaftskreisen. Mit großem Erstaunen und durchaus nicht ohne Bitternis möchte man allerdings bemerken, dass inmitten der Weltkrise jetzt von den Schädigern die Solidarität der Geschädigten eingefordert wird. Denn gerade die bisherigen Verfechter eines völlig deregulierten Marktes hierzulande oder in Übersee wollen sich nun bereitwillig unter staatliche Schirme stellen.

Bekehrung ist nötig, eine Bewussteinsänderung, meta-noia, neue Sensibilität für die Menschen, für die Solidarität unter ihnen. Denn wir brauchen nicht einfach materielle Werte. Wir brauchen Werte, die uns im Handeln leiten: nicht betrügen, ehrlich sein, verlässlich. Wenn Menschen in den Unternehmen danach handeln, können sie wirtschaftlich langfristig erfolgreicher handeln und sich nachhaltiger entwickeln als solche, die sich nur über Erfolge des nächsten Tages freuen und Wertschöpfung mit ökonomischer Gewinnsteigerung verwechseln. Aus der geschilderten Verantwortung dürfen sich vor allem auch die führenden Kräfte unserer Gesellschaft nicht wegschleichen; ansonsten kommt es zu einer massiven Erosion des Vertrauens zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, wie wir es gerade erleben. Misstrauen untereinander aber führt leicht zu einer gnadenlosen Missachtung, Verdrängung und Vernichtung des Schwächeren.

Die Globalisierung, die mit großen Versprechungen begann und die zunehmend immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft und Wirtschaft durchdrungen hat, prägt zwischenzeitlich fast unser ganzes Leben. Die Globalisierung war uns dabei schmackhaft gemacht worden, weil sie den allgemeinen Wohlstand erhöhen und die Zahl der Arbeitsplätze steigern würde. Heute sehen wir klarer, dass sich dies nur zum Teil bewahrheitet hat. Vielmehr sehen sich viele Betriebe und gerade auch die großen, international agierenden Konzerne unter einem enormen Wettbewerbsdruck. Klar zeigt sich heute, dass ein Wirtschaftssystem an sich keinen Regelmechanismen unterworfen ist, dass es neben einem Maßstab der Gewinnmaximierung und der ökonomischen Optimierung zunächst aus sich selbst keine ethische Grundorientierung für die Wirtschaft gibt. Von sich aus ist die Wirtschaft scheinbar ethisch neutral. In der Globalisierung gilt dann das Recht des Stä rkeren, des Schnelleren, Rücksichtslosigkeit zahlt sich aus.

Verantwortliche Kategorien für eine moralisch-ethische Orientierung sucht man vergebens. In der Debatte über die Krise der Finanzmärkte im Deutschen Bundestag, am 7. Oktober 2008 formulierte der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen die Einsicht in die Notwendigkeit gültiger, akzeptierter und angewandter Grundwerte mit folgender Aussage, die ich nur deutlich unterstützen kann: „Diese Krise zeigt an allererster Stelle, dass kein Regelwerk (…) bestehen kann, wenn die einzelnen wirtschaftlichen Akteure meinen, frei von moralischer Bindung, frei von unternehmerischer Ethik, ohne gesamtgesellschaftliches Verantwortungsgefühl agieren zu können. Der Staat kann durch Regulierung nie ersetzen, was von verantwortlichen Wirtschaftsakteuren an moralischer Selbstverpflichtung nicht mehr empfunden wird. Nach unserer Überzeugung gehört der Vorrang der ethischen Dimension unmittelbar und originär zur Marktwirtschaft, und zwar an allererster Stelle.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu dieser Diskussion aber haben das Christentum und die Kirche erhebliche Einsichten und grundlegende Maßstäbe einzubringen. Nach christlichem Verständnis besitzt jeder Mensch eine unverlierbare Würde als Person: Er ist keine Sache, kein Ding. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild und steht damit auch in gewisser Nähe zu Gottes schöpferischem Handeln. Nach christlich-kirchlichem Bild ist der Mensch also nicht jemand, der sich versorgen lässt und nur passiv verhält. Als Gottes Ebenbild sind wir herausgefordert, uns schöpferisch-kreativ einzubringen und die Welt verantwortlich zu gestalten: Hier liegt die eigentliche Grundlage für jedes gesellschaftliche und auch für unternehmerisches Handeln. Biblische Einsichten und moralische Grundintentionen zielen dabei ganz wesentlich auf einen umfassenden Begriff von Gerechtigkeit.

Mir scheint durchaus, dass solch ein umfassender Begriff die Grundlage für Überlegungen sein kann, eine leitende Idee von sozialer Gerechtigkeit unter den Bedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft in der Moderne zu entwickeln; ich denke da an Modelle für gerechten Lohn oder ein gerechtes Zusammenleben am Arbeitsplatz. Wirtschaft, Industrie und Unternehmen, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt brauchen solch tragfähige Grundorientierungen, die als Kompass in der Beantwortung der Fragen der Zeit dienen.

Der Mensch ist ein wertebezogenes Wesen, ethische Reflexion und moralisches Handeln gehören zu den Grundkonstanten menschlicher Existenz, ohne die eine Entfaltung seiner Fähigkeiten nicht möglich ist.

Zwar gehören zum konkreten Vollzug und der Fähigkeit zur Entscheidung stets auch das Abwägen, der Pragmatismus und die Fähigkeit zum verantwortungsvollen Kompromiss. Dies ist aber kein Gegensatz oder eine Alternative zur unverzichtbaren Grundorientierung. Und anders als oft unterstellt birgt das christliche Menschenbild ein erhebliches Kritikpotenzial.

Denn die christliche Botschaft bewahrt den Menschen davor, sich selbst oder eine bestimmte Ideologie für absolut zu erklären. Im Blick auf den unverwechselbaren Wert und die Würde eines jeden Menschen schützt es diesen vor jeder Form absoluter Übergriffe. Ein Mensch ist mehr wert als das, was er ‚bringt’, mehr als das, was er ‚leistet’. Gleiches gilt auch für Wirtschaft und Unternehmen: Kein noch so großer Umsatz, keine noch so hohe Rendite ermöglichen perfektes Leben, keine ökonomische Größe garantiert Lebensglück. Damit komme ich noch zu einem anderen Bereich unserer Gegenwart und unseres Zusammenlebens, der mir sehr wichtig ist. Ich glaube zudem, dass gerade auch die Entwicklungen in diesem Bereich damit zu tun haben, dass sich die Gesellschaft immer mehr von grundlegenden Maßstäben des Ethos und der Moral verabschiedete.

Auch die Entwicklungen der Biomedizin und Biotechnologie sind aufgrund der gleichen Voraussetzungen zu verstehen wie das gerade behandelte Thema:

III. Die Entwicklungen im Bereich der der Biotechnologie

In den letzten Jahren haben sich im Bereich der Biomedizin und Biotechnologie drama tische Entwicklungen vollzogen. Neben unbestreitbar großen Fortschritten und positiven Aussichten in den sogenannten Lebenswissenschaften und Biotechnologien, droht doch auch durch sie auf ganz andere Weise die Missachtung menschlichen Lebens und seiner Würde. Die Lebenswissenschaften ermöglichen uns tiefe Einblicke in Entstehung und Zusammenhänge des Lebens des Menschen und die Biotechnologien eröffnen möglicherweise Therapien schwerer Krankheiten. Aber auch ihre Entwicklung wirft fundamentale Fragen nach dem auf, was denn der Mensch eigentlich ist, was er soll und was er nicht soll, ja was er nicht darf angesichts von Entwicklungen, die vor uns liegen:

Sowohl ganz am Beginn als auch gegen Ende des Lebens stehen wir in Deutschland, aber auch in ganz Europa wiederholt vor politischen wie auch gesellschaftlichen Veränderungen und Weichenstellungen, deren Dimensionen und Auswirkungen den Menschen erst allmählich deutlicher bewusst werden. Ich nenne hier nur stichwortartig die Diskussion um die Möglichkeit, die Tötung embryonaler Menschen billigend in Kauf zu nehmen, um die Grundlagenforschung an Stammzellen voranzutreiben.

Ich nenne den Dammbruch in Zusammenhang mit den Fragen um aktiver und passiver Sterbehilfe und einen sogenannten, unglaublich respektlos umschriebenen Sterbetourismus in Zusammenhang mit der euphemistisch verharmlosenden Organisation namens ‚Dignitas’; wir stehen weltweit vor dem sogenannten therapeutischen Klonen, bei dem Embryonen lediglich zum Zweck therapeutischer Verfahren erzeugt und getötet werden; wir stehen vor einer selektierenden Präimplantationsdiagnostik, die über lebenswertes und lebensunwertes Menschenleben entscheidet; wir erleben die Bildung von Chimären durch Verschmelzung tierischer und menschlicher Erbanlagen im Reagenzglas: Insgesamt befinden wir uns schon mitten im Entstehen einer Reproduktionsindustrie, die dazu führt, dass menschliches Leben zur Handelsware wird. Das Leben als Schöpfung wird zum Produkt der Industrie.

Es liegt mir fern, Horrorszenarien an die Wand zu malen. Aber es ist unbestritten, dass die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Reproduktion und anderer Biotechnologien extreme Kräfte entfesselt und sich in der Phase einer revolutionären Dynamik befindet, die gegenwärtig an Unübersichtlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt!

Was aber ist zu beobachten? Vielfach zählt nur noch – neben dem Bemühen um möglichst hohen Profit und die Suche nach Gewinnmaximierung - der Maßstab des technisch Machbaren. Die technologischen Möglichkeiten und ökonomische Orientierung werden zur Grundlage für Entscheidungen, was in welchem Be reich jeweils getan werden kann.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch in diesem Bereich haben wir als Kirche ein grundsätzliches Bedenken zu formulieren und in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen. Denn ohne die Dimension des Unverfügbaren, von den Religionen als das Heilige gehütet, liefern wir Menschen uns an uns selbst aus, werden unser eigener Gott und zerstören die Würde des Menschen. Der jüdische Gelehrte Hans Jonas befasste sich bereits 1979 in seinem vielbeachteten Buch "Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, mit Spannungen, Widersprüchen und Wunden, die unser technologisches Zeitalter prägen. Seine darin entwickelte Ethik formuliert Einsichten, die mitten hinein in die im letzten Jahr im Zusammenhang mit den Biowissenschaften, den Biotechnologien und der Bioethik aufgebrochenen Auseinandersetzungen passen. Jonas fordert uns eindringlich auf, die anstehenden ethischen Fragen nachhaltig zu bedenken und Antworten zu finden, „bevor wir uns auf eine Fahrt ins Unbekannte einlassen“ (S. 53). Die damit verbundenen großen Schwierigkeiten fasst er in den Satz: „Die Zukunft ... ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine Lobby und die Ungeborenen sind machtlos.“ (55) Hellsichtig fordert Jonas eine Ethik, welche in der Lage ist, den enormen Möglichkeiten, die wir heute besitzen, standzuhalten.

Ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen kann sich Jonas eine solche Ethik nicht vorstellen. Seine abschließenden, in beschwörendem Ton formulierten Sätze lauten: "Die Ehrfurcht allein, indem sie uns ein ‚Heiliges‘, das heißt unter keinen Umständen zu Verletzendes enthüllt , wird uns ... davor schützen, um der Zukunft willen die Gegenwart zu schänden, jene um den Preis dieser kaufen zu wollen.“ (S. 393)

Die Position der Katholischen Kirche ist zu diesen Fragen eindeutig und ich möchte sie angesichts der geschilderten Wahrnehmung als unmissverständliche Zeitansage formulieren. Ich löse damit eine uns aus unserer christlichen Botschaft und dem Ethos unserer Kirche erwachsende Verpflichtung ein:

Wir müssen uns als Christen kompetent, sachkundig, entschieden und auf Augenhöhe in den gesellschaftlichen Dialog über gesetzliche Regelungen biotechnologischer Verfahren einzumischen: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und seine ihm eigene Menschenwürde gelten bedingungslos und dürfen nicht zur Disposition gestellt werden.

Auch in dem Zusammenhang ist die Kirche der beste Verbündete des Grundgesetzes und seiner wesentliche Aussagen zur Menschenwürde eines jeden Menschen. Mit großem Erstaunen ist festzustellen, dass gerade vermeintlich aufgeklärte Staaten dabei sind, solch fundamentale Grundlagen aufzulösen und um vermeintlicher Forschungsfortschritte und kurzfristiger ökonomischer Gewinne alle Maßstäbe verantwortungsvollen, menschenwürdigen Handelns aufzugeben. Es darf deshalb keine Abstufung im Lebensschutz des embryonalen menschlichen Lebens geben. Und wer am Anfang den Lebensschutz abstuft und konditioniert, der tut es auch am Ende des Lebens eines Menschen und gerät damit auf abschüssige Bahnen, auf denen es argumentativ keine klaren Maßstäbe und faktisch keine Handlungsmaximen mehr gibt. Und wer am Anfang und am Ende menschliches Leben nur graduell schützt, der tut dies auch angesichts extremer durch Krankheiten oder Unfälle erzeugter Situationen des Lebens von Menschen.

Aus Zeitgründen möchte ich hier nicht weiter ausführen. Einerseits die gewaltige Krise der Wirtschaft- und Finanzwelt, anderseits die großen und grundlegenden Veränderun gen in den Forschungs- und Medizinbereichen der Biotechnologie. Gerne aber möchte ich noch versuchen, die von mir angesprochenen Problemkreise unter einer gemeinsamen Perspektive zusammenzufassen:

IV. Fazit: Der unverzichtbare Ort der Religion in unserer Gesellschaft

In Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise, in denen der materielle Wohlstand seine deutlichen Grenzen erfährt, bei uns dabei ist abzunehmen und in vielen Ländern neue Armut hervorbringt, droht Instabilität; auch für unserer Demokratie, wenn sie nur auf die Mehrung materiellen Wohlstands, auf Fortschritt und technologische Innovationen aufgebaut sein sollte.

Ich darf in diesem Zusammenhang an die Worte der Pastoralkostitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils erinnern: „Alles, was die Menschen zur Errichtung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, ist wertvoller als der technische Fortschritt“ (Nr. 35). Die Bedeutung dieser Aussage sollten wir angesichts der gegenwärtigen weltweiten Entwicklungen und Krisen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern nach besten Kräften danach handeln.

Und damit komme ich zu meinem Beginn und jenem Satz von Böckenförde: Unsere demokratische Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selbst schaffen kann: das sind ethische Grundorientierungen der Menschen und des Ganzen, das ist ein dem guten Zusammenleben dienliches Menschen- und Gottesbild, und das sind von einem humanen Ethos bestimmte verantwortungsvoll, moralisch integer handelnde Führungskräfte in allen Bereichen. Die Moralität der Personen ganz besonders der Verantwortungsträger, die ethische Grundorientierung im Zusammenleben und die religiöse Fundierung unseres Gemeinwesens sind von entscheidender Bedeutung. Diese von Staat und Gesellschaft mit ihren Subsystemen wie Finanzen und Wirtschaft, nicht einfach selbst herstellbaren Voraussetzungen brauchen beide - wie das Land das Wasser braucht zur Fruchtbar keit.

Wenn dies aber so ist, dann muss der Staat gewährleisten, dass diese Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, sich entfalten und wirksam werden können. Er darf die Quellen nicht verstopfen, die das Wasser liefern, ohne das die Gesellschaft nicht human, produktiv und innovativ ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Anschluss an den 11. September 2001 hatte der Philosoph Jürgen Habermas in der Frankfurter Paulskirche eine vielbeachtete Rede gehalten und darin den unverzichtbaren Dialog zwischen der säkularen Welt und der Religion angemahnt.

Denn am 11. September sei – so seine Formulierung - die „Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion ... explodiert.“ (37) In diesem Kontext wendete sich Habermas damals gegen „einen unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit“ (47). Ein solcher Ausschluss würde „die Gesellschaft von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden.“ (47) Auch die säkulare Seite muss sich nach Habermas in diesem Dialog „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprache“ (ebd) bewahren. „Die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend. Deshalb sollte die Festlegung der umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen.“(ebd)

Ich formuliere die Konsequenz dieser seiner Position mit eigenen Worten: Die säkulare Gesellschaft ist nicht auf der Höhe der Zeit, wenn sie und ihre Vertreter selbst nicht in der Lage oder Willens sind, ihrerseits auf Augenhöhe mit dem kulturellen und humanen, dem sozialen und spirituellen Potential der christlichen Religion und zu kommunizieren. Die Politiker und Kulturschaffenden, die Medienvertreter, die Intellektuellen und die Wissenschaftler möchte ich deshalb fragen: Versäumt ihr nicht

Substantielles, wenn ihr das Hoffnungs- und Handlungspotential der christlichen Religion und ihre ethosbildende Kraft vergesst oder überseht und in eurem Denken und Handeln außen vor lasst? Seid ihr da wirklich auf der Höhe der Zeit?

Unsere säkulare Kultur ist eingeladen, erneut in den konstruktiven Dialog mit der christlichen Religion einzutreten und auf Augenhöhe mit ihr zu kommunizieren. „Der egalitäre Universalismus, aus dem die Idee von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik.

In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“ Auch das ein Wort von Habermas. (Gespräche über Gott und die Welt).

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen für Sie und Ihre Aufgaben Gottes reichen Segen!

Es gilt das gesprochene Wort!

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