Bischof Dr. Gebhard Fürst: Wort zum Sonntag in SWR 2 2003

Stuttgart, Wort zum Sonntag SWR 2

Wenn ich in diesen Tagen die sich herbstlich färbenden Wälder sehe, kommt mir ein Gedicht der Dichterin Hilde Domin in den Sinn, das ich gerne mit ihnen teilen möchte:

Es knospt / unter den Blättern / das nennen sie / Herbst.

Dieses Gedicht ist mir im Lauf der Jahre eines der liebsten geworden: Zum einen schärft die Dichterin unseren Blick für Vorgänge in der Natur, die wir häufig in unserer raschen und lauten Welt kaum noch wahrnehmen. Nach dem langen, heißen Sommer erinnern uns die Farben der Wälder zudem an den Wechsel der Jahreszeiten, deren jede ihren Wert und ihre Schönheiten hat. Sodann hilft uns Hilde Domin, die Langsamkeit zu entdecken und so die Wirklichkeit neu wahrzunehmen. Sie öffnet uns die Augen für eine neue Sensibilität gegenüber der Schöpfung. Genauer und liebevoller sollen wir hinschauen, nachfragen hinter das, was so wohlvertraut zu sein scheint. So werden wir wunderbare Entdeckung machen können. Hilde Domin gelingt all das mit wenigen Zeilen, karg, tiefenscharf, dicht.

Es knospt / unter den Blättern / das nennen sie / Herbst

Die Zeilen tasten sich Wort für Wort voran, die Sprache verlangsamt sich und lässt den Hörer nochmals aufmerksam werden. Das Gedicht hilft so dabei, die Lebensweise einzuüben, die es vorschlägt. Mir geht es inzwischen so: Wenn ich einen herbstlichen Baum ansehe, erinnere ich mich an Hilde Domins Gedicht.

Der Schweizer Pfarrer und Dichter Kurt Marti hat einen Satz geschrieben, den wir nicht ernst genug nehmen können:

"Vielleicht hält Gott sich einige Dichter (ich sage mit Bedacht: Dichter!), damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhanden gekommen ist."

Eine ‘heilige Unberechenbarkeit’ spüren und davon in geeigneten und mitreißenden Worten erzählen, darauf kommt es an. Von Gott und seiner Geschichte mit der Schöpfung wieder so sprechen lernen, dass Menschen aufhorchen, verweilen, und sei es nur einen Augenblick lang. Wie das geht, einfach und knapp zu erzählen, zeigt das Herbstgedicht von Hilde Domin.

Es knospt / unter den Blättern / das nennen sie / Herbst

Ich wünsche ihnen in diesen Herbsttagen manch heilsamen Blickwechsel, durch den scheinbar Wohlvertrautes aufgebrochen wird. Und entdecken sie vielleicht ganz neu die heilige Unberechenbarkeit Gottes.

Denn es knospt unter den herbstlichen Blättern.

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