Bischof Dr. Gebhard Fürst: Zeichen setzen in der Zeit 2004

Rottenburg, Stadthalle

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste!

Die letzten Nachrichten des Jahres 2003 waren nicht gut. Sie berichteten von Terror und Gewalt. Und besonders das verheerende Erdbeben im Iran mit seinen zahllosen Opfern steht in unüberwindlichem Kontrast zu den bei uns friedvollen Tagen und die Erschütterung darüber reicht herein ins neue Jahr. Bestürzt und sprachlos stehen wir vor solchen zu unvorstellbarem Leid führenden Naturkatast-rophen. Auch wenn andere Regionen auf dieser Erde, die in größerem Wohlstand leben dürfen, besser auf solche Naturgewalten vorbereitet sind, werden wir doch alle an Grenzen unseres Menschseins erinnert.

Zeichen der Hoffnung und Lichtblicke

Wir haben aber bei all dem auch erlebt, dass Menschen über alle politischen und religiösen Gräben hinweg in Extremsituationen bereit sind, anderen spontan zu helfen. Das werte ich als Zeichen der Hoffnung für unser aller Zusammenleben.

Menschliche Solidarität

Allen, die sich durch Spenden in diesen Tagen mit den von unvorstellbarem Leid getroffenen Menschen solidarisch erweisen, danke ich. Ich danke dabei nicht nur für die materielle Hilfe. Denn in solchen Spendenaktionen sehe ich deutliche Zeichen eines lebendigen Bewusstseins, dass Menschsein sich darin verwirklicht, mit dem Anderen mitzufühlen und ihm hilfreich beizustehen, wo immer er dies braucht. Trotz der wirtschaftlichen Probleme ist die Spendenbereitschaft nach wie vor groß. Es gibt sie, die menschliche Solidarität mit den Opfern, mit den Schwachen und den Armen.

Ein kleiner Rückblick: Diözesanjubiläum

Weltkirchliche Solidarität

Diese verbindende Kraft der Solidarität durften wir in unserer Diözese besonders beim Tag der Weltkirche erfahren, den wir aus Anlass unseres Diözesanjubi-läums in Stuttgart begangen haben. Rund 300 Kirchengemeinden unserer Diöze-se unterhalten Beziehungen mit Kirchengemeinden der sogenannten Dritten Welt. Viele Gäste aus Ländern aller Kontinente konnten wir deshalb begrüßen. Sie haben uns bereichert und erfreut mit ihrer Art zu glauben und als Christen zu leben: Wir sind dankbar für dieses große Fest weltweiter Solidarität und Glau-bensfreude mitten in Stuttgart. Es erinnert uns zeichenhaft daran: Die katholische Kirche ist international die wichtigste Institution bei Sozialdiensten, im Gesund-heitswesen und in der Erziehung und leistet so weltpolitisch einen wesentlichen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Menschheit.

Gott und den Menschen nahe

Insgesamt ist die Feier des Diözesanjubiläums 2003 eindrucksvoll gelungen. Das Leitwort „Gott und den Menschen nahe“ wurde in außergewöhnlicher Weise in den Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen aufgenommen. Das Wort zielt ins Zentrum unseres Glaubens, es trifft die unlösbare Verbindung von Got-tesnähe und Menschennähe. „Wer seinen Bruder, seine Schwester, nicht liebt, die er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (1 Joh 4,20), so steht es im ersten Johannesbrief. Eben dieser Zusammenhang ist uns durch das Jubiläums-jahr eindrucksvoll vergegenwärtigt worden.

Eröffnung des Domes

Auch die Wiederöffnung des Domes im April 2003 hier in Rottenburg war ein besonderer Lichtblick. Dies gilt im wahrsten Sinne des Wortes, denn wir blicken heute ins Licht, wenn wir den erneuerten Dom betreten und in ihm beten. Für die Feier der Liturgie ist er hervorragend geeignet. Und dies ist wichtig, da die Litur-gie an der Kathedralkirche für die Liturgie und das kirchliche Leben in der Diö-zese vorbildhaft sein soll.

Neue Sensibilität für die Liturgie

In der neuen Sensibilität für die Liturgie, die ich gegenwärtig erlebe, liegt eine besondere Chance auch für die Verkündigung und die Weitergabe des Glaubens. Liturgie ist - neben ihrem eigentlichen Sinn, Gott zu loben - auch als Glaubens-pädagogik neu zu entdecken. Denn „wir Menschen müssen sehen, was wir ver-stehen wollen“ (Thomas Hoepker). Die sichtbare Gestalt der Feier verweist auf ihren Gehalt, die Form auf ihren Inhalt, die liturgische Feier auf den Glauben, den sie ausdrückt. Die Liturgie ermöglicht so im Erleben Verstehen und ganz-heitliche Weitergabe des Glaubens.

Bedeutung der Liturgie für ein Gemeinwesen

Und Menschen suchen die Liturgie. Die weihnachtlichen Gottesdienste haben dies wieder gezeigt: Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag kamen allein in den Dom von Rottenburg zu den Gottesdiensten 4600 Menschen, jung wie alt. Meine Damen und Herren, dies ist keine bloße Ziffer für innerkirchliche Statisti-ken. Die Bedeutung der Liturgie ist nicht nur für unsere Kirche, sondern gerade auch für ein säkulares Gemeinwesen größer als viele denken. Von ihr geht eine Kraft aus, die in die Kapillaren einer Gesellschaft heilsam einströmt. Millionen von Menschen, die die Gottesdienste in Deutschland regelmäßig mitfeiern, erhal-ten durch sie für die eigene Lebensgestaltung als Christen im Alltag inneren Halt und spirituelle Impulse. Beides braucht unsere Gesellschaft mehr denn je!

Entsolidarisierung und Anonymisierung unserer Gesellschaft

Gravierende negative Entwicklungen

Denn die genannten Hoffnungszeichen und Lichtblicke dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in einer sich mehr und mehr entsolidarisierenden Ge-sellschaft leben. „Reiche werden reicher und Arme werden ärmer“: das ist nicht nur ein Schlagwort.

Entsolidarisierung als Kennzeichen unserer Gesellschaft

Nicht nur Lobbyismus und Einzelinteressen drohen die Solidarität zu beschädi-gen. Die Entsolidarisierung hängt auch zusammen mit wachsender Einsamkeit und oft bedrückender seelischer Obdachlosigkeit der Menschen. Mobilität und Flexibilität, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft fordern, haben verbunden mit einem oft übersteigerten Anspruch auf Selbstbestimmung ihren Preis. Dieser Preis heißt auch Vereinzelung: Manche Großstadtviertel bestehen zu 50 bis 60 % aus Einpersonenhaushalten. Verlust an Bindungsfähigkeit und Bindungswillig-keit sind die Früchte, Beziehungslosigkeit, Anonymität die Konsequenzen. Men-schen werden heimatlos und schutzlos.

Anonymität als Kennzeichen unserer Gesellschaft

So droht auch die Anonymität immer mehr zum Kennzeichen unserer Gesell-schaft zu werden. In der „anonymen Geburt“, im anonymen Großstadtleben und schließlich im „anonymen Tod“, droht das zu verschwinden, was wir die Perso-nalität des Menschen nennen. Jeder Mensch ist eine einzigartige Person mit un-verlierbarer Menschenwürde. Jede Person trägt ihren Namen und lebt in lebendi-ger Beziehung als Teil der Gemeinschaft. Wo diese personalen Grunddaten ver-schwänden und zugleich die damit verbundenen Grundhaltungen und Werteüber-zeugungen, würde unweigerlich die darauf ruhende Gesellschaftskultur zerfallen.

Die Grundvoraussetzungen schützen und stärken

Der Rechtsstaat, unsere offene Gesellschaft und freiheitliches Zusammenleben ruhen jedoch auf diesen personalen Grunddaten auf. Der Staat hat diese Grund-voraussetzungen seiner selbst nicht geschaffen. Er ist aber aufgerufen, sie zu schützen. Andernfalls entzöge er sich selbst, seiner Rechtsstaatlichkeit, Freiheit-lichkeit und Pluralität, den Boden. Wir haben etwas zu verlieren, was nicht alle Kulturen in dieser Weise auszeichnet.

Die Kohäsionskräfte in unserer Gesellschaft stärken und entwickeln

Gegen Entsolidarisierung, Anonymisierung und Verlust an Personalität müssen wir positive Gegenkräfte mobilisieren. Andernfalls zerfällt der Zusammenhalt, die Kohäsion unserer Gesellschaft.

Hoffnungskraft und Zutrauen in die Eigenkräfte des Menschen

Das Christentum bietet ein großes Reservoir solcher positiven Gegenkräfte. Die Hoffnungskraft und Zukunftsfähigkeit, die aus christlichem Glauben erwachsen, und das Zutrauen in die Eigenkräfte des Menschen, das dem christlichen Men-schenbild entspringt, sind solche Gegenkräfte. Es gilt, die Kräfte des Zusammen-halts aus der Kraft der christlichen Botschaft zu stärken, zugleich Sinn zu er-schließen und Orientierung zu ermöglichen.

Gottesdienstbesuch

Im Jahr 2003 kamen an den Wochenenden ca. 564.000 Fans in die Stadien der Fußball-Bundesliga. In die katholischen Kirchen Deutschlandes kommen vier Millionen Menschen zu den Sonntagsgottesdiensten. Eine weitere Million nimmt am evangelischen Gottesdienst teil. Insgesamt gehen also gut 5 Millionen Men-schen aus den beiden Großkirchen in Deutschland Sonntag für Sonntag zum Got-tesdienst. Und dies geschieht nicht mehr aus Konvention, sondern aus Entschei-dung. Ist es nicht bemerkenswert, dass zehnmal so viele Menschen in die Kirche gehen wie ins Fußballstadion? Die Eucharistiefeiern sind die mit weitem Abstand bestbesuchten Sonntagsveranstaltungen Deutschlands. Die Kräfte entfaltende Bedeutung der sonntäglichen Liturgie für unsere Gesellschaft habe ich oben schon dargestellt.

Kirche als Überzeugungsgemeinschaft

Die Kirche insgesamt ist als Überzeugungsgemeinschaft und als Wertegemein-schaft eine positive Gegenkraft, die die Gesellschaft zusammenhält. Kirche als Überzeugungsgemeinschaft stiftet Zusammengehörigkeit. Der gemeinsame Vor-rat an Zeichen und Symbolen, an Riten und Liturgien, Festen und Feiertagen, der unter Menschen Zusammenhalt stiftet und der in ihrem Vollzug Zugehörigkeit und Gemeinschaft erleben lässt, darf nicht reduziert werden.

Kirche als Beziehungsgemeinschaft mit starker integrativer Kraft

Die Kirche als Glaubens-, Feier- und Lebensgemeinschaft, in der ein vielfältiges Netzwerk hilfreicher, bestärkender und sinnstiftender Beziehungen lebendig ist, entfaltet eine starke integrative Kraft. Ich erinnere hier nur stichwortartig, aber voll Dankbarkeit an die zahllosen im Ehrenamt tätigen Mitglieder unserer Kir-che. Es sind weit über zweihundert-, ja vielleicht dreihunderttausend in unserer Diözese. Ich erinnere ebenso an das lebendige Verbands- und Vereinswesen der Kirche, an die zahlreichen Stiftungen, Dienste und Einrichtungen unseres Bis-tums, die die Kraft haben, Woche für Woche Hunderttausende von Menschen für kirchliche Aufgaben zu mobilisieren.

Karitative und soziale Dienste

Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die karitativen und sozialen Dienste. Sie sind nicht irgendetwas, sondern Ausdruck einer durchgän-gigen Dimension der Liebesbotschaft, der unsere Kirche verpflichtet ist. Aus der Beziehung zum christlichen Gott beziehen Christen Motivation und Kraft für die Zuwendung zu den Armen und Schwachen aller Art.

Ich weiß, dass ich als Bischof, der in der kirchlichen Tradition seit jeher Anwalt der Armen genannt wird, hier in besonderer Verantwortung stehe. Deshalb, mei-ne Damen und Herren, beschäftigen und belasten mich die bereits realisierten und noch angesagten Kürzungen im sozialen Bereich durch Land und Bund in besonderer Weise. Ich setze mich dafür ein, dass die notwendig werdenden Re-duzierungen die Substanz einer von ihrem Wesen her karitativen Kirche nicht be-schädigen.

Zugegeben: Wir müssen das Soziale zwar neu denken, aber die Grundprinzipien der Personalität und der Solidarität dürfen wir dabei trotzdem nicht über Bord werfen. Doch gerade diese Grundprinzipien sind durch Entwicklungen gefährdet, die ich mit Sorge betrachte. Gegenüber der Politik muss Kirche hier ein Wächter-amt ausüben: Sie muss wach sein im Interesse der Schwachen aller Art, damit die soziale Gerechtigkeit nicht unter die Räder kommt.

Grenzen des Wachstums – Notwendigkeit von Reduzierungen

Wir dürfen allerdings auch nicht blind sein für notwendige Einsparungen, die wir vornehmen müssen. Wir müssen in den Haushalten unserer Diözese auf allen Ebenen Ausgaben reduzieren, weil die Einnahmen rückläufig sind. Das Jahr 2004 wird in die Geschichte unserer Diözese auch eingehen als das Jahr der größten Einsparbeschlüsse in den 175 Jahren ihres Bestehens.

Sparprozess mit Gefahren

Die Reduzierungsprozesse bergen aber eine große Gefahr in sich, wenn sie auf-grund einer falschen Mentalität zustande kommen. Dann wird alles weggespart, wegrationalisiert oder wegreduziert, was nicht zur herrschenden merkantil-ökonomischen Mentalität passt.

Das gilt für die gesamte gesellschaftlich-kulturelle Landschaft. Der Sozialdezer-nent eines württembergischen Landkreises sagte unlängst zu einem für die Pflege von Menschen Verantwortlichen: „Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass sie das, was sie tun, genau beschreiben, in einzelne Stücke portioniert dar-stellen und erbringen, und dass sie diese Teilstücke so darbieten, dass sie gemes-sen, gewogen und begutachtet werden können.“ Solcher Mentalität, die zur Ver-dinglichung des Menschen führt, müssen wir widerstehen. Denn sie spart so, dass sie am Schluss den Menschen selbst wegspart.

Prekäre Situation

Die Grenzen des Wachstums und die unbestrittene Notwendigkeit der Reduzie-rung können eine prekäre Wirkung erzeugen, die die Kräfte des Zusammenhalts im Zusammenleben der Menschen zerstören und die Entsolidarisierung voran-treiben könnte. Herrschaft partikularer Interessen, das Recht des Stärkeren, rück-sichtsloser Verdrängungswettbewerb unter den Menschen in der Gesellschaft wä-ren die Folge.

Trotzdem müssen wir selbst Grenzen setzen, was uns ja überall in unserer auf Grenzenlosigkeit setzenden Kultur schwer fällt. Für diese Grenzziehungen, für die Entscheidungen, was wir künftig aufgeben oder reduzieren müssen, brauchen wir deshalb eine klare Orientierung.

Zeichen setzen in der Zeit: Pastorale Prioritäten

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem größeren Zusammenhang ist der Beratungsprozess zu sehen, der uns - damit meine ich Bischof, Diözesanku-rie, Diözesan- und Priesterrat, sowie zahlreiche Gremien und Einrichtungen un-serer ganzen Diözese - die letzten beiden Jahre beschäftigt hat. Im Prozess zur Findung von Prioritäten haben wir uns Orientierung gegeben für die Zukunft der Seelsorge. Allen an dem ebenso schwierigen wie gut gelungenen Prozess Betei-ligten danke ich herzlich für sachkundiges, engagiertes und kooperationsbereites Mitwirken. Das Ergebnis liegt nun vor und wurde von mir zum Jahreswechsel in Kraft gesetzt unter der Überschrift: Pastorale Prioritäten - Zeichen setzen in der Zeit. 2004 ist das erste Jahr, in dem sie uns maßgeblich leiten sollen.

Wir wollen uns den Umbrüchen nicht passiv ausliefern, sondern sie ebenso über-legt wie mutig gestalten. Die christliche Botschaft gibt uns dafür die Orientie-rung. Zugleich bewirkt sie in den Glaubenden Hoffnung, aus der die Kraft wächst, zuversichtlich zu handeln.

Die Pastoralen Prioritäten kann ich jetzt nicht umfassend darlegen. Ich möchte nur die vier Hauptschwerpunkte nennen und dann ein konkretes Handlungsziel vorstellen.

In einer mehr und mehr am bloß Materiellen ausgerichteten Umwelt erwacht wieder das Interesse an Spiritualität. Eine erste Großpriorität für die Seelsorge heißt deshalb: Das Geistliche Leben stärken, indem wir z.B. auf die Feier der Li-turgie besondern Wert legen. Aus dem spürbaren Verlust an Glaubenswissen folgt des weiteren die Aufgabe, den Glauben der Kirche neu zu erschließen, in-dem wir z.B. Kindern und Jugendlichen Zugänge zu Religion und Glaubenswis-sen neu eröffnen. Unsere sich entsolidarisierende Gesellschaft, die multikulturell und zugleich anonymer geworden ist, fordert von uns, sodann eine große Priorität darauf zu legen, dem Anderen zu begegnen und Gemeinschaft zu stärken, sodass die Kräfte des Zusammenhalts in Gesellschaft und Kirche wachsen. Der vielfälti-gen Bedrohung des menschlichen Lebens und der Schöpfung durch äußere Zwänge und technokratische Mentalität zu wehren, gilt schließlich die Großprio-rität: Aufstehen für das Leben, in der wir z. B. für die unantastbare Würde des Menschen eintreten sowie Ehe und Familie stärken.

Das Handlungsziel Familie

Erlauben Sie mir zum Schluss das Handlungsziel Stärkung von Ehe und Familie als Keimzelle und Lernort gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens vorzustel-len. Weil wir als Kirche in der Familie eine grundlegende Form menschlichen Zusammenlebens sehen, hat sie für uns eine klare Priorität in Pastoral und Ge-sellschaftspolitik. Die Familie ist die Lebensform, die dem menschlichen Grund-bedürfnis nach Annahme, Zuwendung und Geborgenheit in besonderer Weise entspricht. Sie ist der primäre Ort, an dem Mitmenschlichkeit und soziales Ver-halten erfahren und eingeübt werden. Die Persönlichkeit und Stabilität des Ein-zelnen wurzelt und reift vor allem im familiären Zusammenleben. In ihm können Kinder und Eltern vorbehaltlose Annahme und unbedingte Verlässlichkeit erle-ben. Die Familien tragen dazu bei, die emotionalen und moralischen Grundlagen des Menschseins zu legen. Lern- und Leistungsbereitschaft, Arbeitsmotivation und Verantwortung füreinander werden zuerst in der Familie als „sozialem Bio-top“ geprägt. Dies zeigt, welche Quelle der Kraft die Familie für die Stärkung der Gesellschaft ist.

Deshalb setzen wir uns verstärkt für die Familien ein. Und sie haben es in der Tat nötig. Denn sie sind bis heute in unserer Gesellschaft strukturell und materiell benachteiligt. Mehr noch: Trotz des dramatischen Geburtenrückgangs und trotz des starken prozentualen Anstiegs der Sozialleistungen im Verhältnis zum Brut-tosozialprodukt hat sich bei steigendem Realeinkommen der Beschäftigten die relative materielle Lage der Familien doch kontinuierlich verschlechtert. Machen wir uns die Folgen klar: Der Anteil der Kinder im Sozialhilfebezug ist heute 16 mal so hoch wie 1965.

Die Familienpolitik der Zukunft muss deshalb weniger Subventionspolitik und mehr Strukturpolitik sein. Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die nahe-zu alle politischen Ressorts betrifft. Denn es geht zugleich um soziale Absiche-rung, Steuer- und Rentengerechtigkeit, Wohnungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, um die Bereitstellung familienstützender Dienste und Infrastrukturen. Die dauer-hafte Benachteiligung der Familie ist eine gesellschaftspolitische Zeitbombe.

Deshalb muss Familienpolitik auf der politischen und kirchlichen Agenda ganz oben stehen. Kinder sind die wichtigste Zukunftsressource eines Landes. Eine sich ausbreitende Kindervergessenheit stürzt unsere Gesellschaft in der Zukunft in unlösbare Probleme. Der Mut zur Kindern ist eine nachhaltige Investition in die Zukunft, die kaum überschätzt werden kann. Umgekehrt gesprochen: Kinder-losigkeit heißt Zukunftslosigkeit.

Zentrales Anliegen dieser Priorität ist, dass Leben und Zusammenleben in der Familie gelingen. Räume für Intimität und Verbindlichkeit, Toleranz und Zu-wendung, Begegnung und gemeinsames Lernen der Generationen müssen erhal-ten und erweitert werden. Dafür sind familienfreundliche Rahmenbedingungen unabdingbar. Die Kirche ermutigt Partner und Eltern und unterstützt sie dabei, ein realistisches Bild von Ehe und Familie zu entwickeln und dafür tragfähige Grundlagen zu finden. Besonders wichtig ist, die personalen, sozialen und kom-munikativen Fähigkeiten zu fördern, die Paare für die Gestaltung ihrer Partner-schaft und die Erziehung ihrer Kinder brauchen. Gemäß dem katholischen Sozi-alprinzip der Subsidiarität soll der Staat dabei die Initiative nicht an sich ziehen, wenn dies nicht erforderlich ist. Es ist wichtig, das vielfältige Engagement dank-bar zur Kenntnis zu nehmen und zu fördern, was freilich eine gute Familienpoli-tik nicht ersetzt

Bei der Unterstützung von Familien in der Vielfalt ihrer heutigen Ausprägungen können wir in unserer Diözese auf eine reichhaltige Palette bereits bestehender Unterstützungsangebote zurückgreifen. Z. B. auf den Feldern der Familienpasto-ral, der Familienbildung, Familienberatung, Familienerholung und Familienhilfe. Die Angebote und Maßnahmen sind vielfältig: Ehevorbereitung und Ehebeglei-tung, Mütter-Kind-Kreise, Familientreffs, Begegnungsräume für Alleinerziehen-de, Bildungsangebote für Eltern und Familien, Beratung in Ehe-, Familien- und Lebensfragen, Schwangerschaftsberatung usw. Die Kindertagesstätten in kirchli-cher Trägerschaft sind wichtige Knotenpunkt im Netz der Betreuungsangebote. Ich kann jetzt bei weitem nicht alle Aktivitäten und Träger nennen, die hier se-gensreich wirken.

Diese Aktivitäten und Dienste soweit als eben möglich zu erhalten, sie wo nötig zu modifizieren oder gar zu verstärken, ist klare Priorität und will ein wirkungs-volles Zeichen setzen in der Zeit!

Orientierung in der Zeit

Meine Damen und Herren! Die Prioritäten wollen Orientierung geben, denn Ori-entierung schafft Zuversicht, schenkt Freude und setzt Kräfte frei. Dies aber er-möglicht erst unser Handeln. Der heutige Dreikönigstag gibt uns ein gutes Bei-spiel, welche Bedeutung Orientierung für ein gelingendes Leben hat. Erinnern wir uns, dass es heißt: „Als sie den Stern sahen, wurden sie von großer Freude er-füllt“. Der Stern gibt Orientierung! Die drei Weisen aus dem Orient erkennen Weg und Ziel, finden, was ihnen verheißen ist und was sie sehnlich suchen. Sie sind Symbolgestalten für Menschen, die das suchen, was im Letzten Bedeutung hat, was uns unbedingt angeht und verpflichtet.

Aus der Anbetung des Heiligen erwächst Kraft zum Handeln

Die drei Weisen brachten all ihre Schätze dem Gotteskind dar – sie geben alles, was sie haben, dem Kind in der Krippe. Sie erkennen in ihm das Heilige, Gott selbst, von dem aller Sinn ausgeht und zu uns herkommt. „Als sie das Kind sa-hen, fielen sie nieder und huldigten ihm“, heißt es bei Lukas (Lk 2,11b).

Die Weisen hatten gefunden, wonach sie suchten. Menschen, die gefunden ha-ben, beten auch an. Daraus erwächst die Kraft zu leben und Leben zu gestalten.

Die Sternsinger

In der Diözese Rottenburg-Stuttgart haben bei der letztjährigen Sternsingeraktion ca. 40.000 Mädchen und Jungen in fast allen Kirchengemeinden mitgemacht und eine Summe von über 3,6 Millionen Euro ersungen. Die Sternsingeraktion in Deutschland ist weltweit die größte Aktion, in der Kinder Kindern helfen. Das wiederum stärkt unser aller Hoffnung. Die Sternsinger, die auch in diesem Jahr wieder die Botschaft der Heiligen Drei Könige, vom Finden und Anbeten des Heiligen in die Häuser und Wohnungen der Menschen tragen, überbringen in ih-rem Singen, Beten und Bitten zugleich eine spirituelle Kraft, die persönliche und solidarische Wirkungen erzeugt: Freude, Sinn, Hilfe – mit einem Wort gesegne-tes Leben.

Ich wünsche ihnen, liebe Damen und Herren, für das Jahr 2004 Kraft und Freude, die aus dem Glauben an Jesus Christus stammen. Aus dieser Kraft und Freude werden wir, getragen von der Hoffnung, die Zukunft gestalten. Ein gesegnetes Neues Jahr 2004!

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